Experimentierfreude in Wolfsburg

Von Ullrich Bohn |
Zum dritten Mal veranstaltete der VW-Konzern in seiner automobilen Erlebnis-welt "Autostadt" das Tanzfestival "Movimentos". Da sich das Festival mittlerweile einen festen Platz in der norddeutschen Kulturszene erobert hat, konnte man diesmal programmatisch sehr viel wagemutiger und experimentierfreudiger sein.
Klassisches war auch dabei – eine Choreographie über Wolfgang Amadeus Mozart von der italienischen Compagnia Aterballetto. Aber, fast im krassen Gegensatz dazu, auch die Trolltanzschule des Finnen Tero Saarinen, der vier Tänzerinnen und vier Tänzer in langen schwarzen Kutten und soliden Halbschuhen über die Bühne stapfen und eher unbeholfen mit den Armen rudern lässt.

Den sicherlich wagemutigsten und provokantesten Abend während des ganzen Movimentos-Festivals bot jedoch der Kanadier Dave St-Pierre, der seine Darsteller die "Pornographie der Seelen" vorführen ließ, recht konkret mit Sex und Nacktheit zu Sache ging, schockierend grausame mit ungemein rührenden Momenten kontrastierte und mit diesem riskanten Spiel ein überwiegend junges Publikum ebenso betroffen wie glücklich machte:

Movimentos ist also insgesamt experimentierfreudiger geworden, hat nach den ersten beiden Warmlaufrunden, die in erster Linie die dynamische Komponente des Tanzes in den Vordergrund rückten, nun wohl sein eigentliches Ziel erreicht, wie der künstlerische Leiter, Bernd Kaufmann, erläutert:

"Es wird immer ein dynamischer Faktor dabei sein. Und es wird auch die Betrachtung und die Stille dabei sein. Es ist diesmal vielleicht wegen der vielen störrischen Companies vielleicht ein wenig zurückgeblieben, dafür war die qualifiziertere Formensprache und auch die Nachdenklichkeit vorhanden."

Und es kamen Inhalte dazu. Etwa bei "Smoke", einer Choreographie des Taiwanesen Lin Hwai-min, die er zusammen mit dem Zürcher Ballett als Deutschlandpremiere jetzt zum Abschluss des Festivals vorstellte, sich dabei von Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" inspirieren ließ, und eine sinnlich-berührende Geschichte über das Erinnern und Vergessen erzählte:

"Man darf auch beim Tanztheater vom Inhalt her denken, nicht nur immer von der Form. Und wir haben auch bei einigen Auftritten ein bisschen mehr an die Betrachtung gedacht und an die Substanz. Und wir haben auch Zürcher Arbeit an den Schluss gesetzt, die ja nicht eine typische Zürcher-Ballett-Arbeit ist. Ich finde, beim Tanztheater ist es schwierig, gewissermaßen das Gefühl auszuschalten, und wir denken auch vom Raum her und von den äußerst unterschiedlichen Ausdrucksformen."

Erstmals kam die Musik bei Movimentos nicht ausschließlich von der Konserve, sondern wurde zum Teil auch "live" gespielt. Bei der Mozart-Choreographie saß der Pianist gleich mit auf der Bühne, und auch die Zürcher Company hatte ihre Musiker mitgebracht, für die Werke von Alfred Schnittke:

"Wir wollten, dass sie live dabei sind, es hat sich so ergeben. Wir wollten "Smoke" und empfanden es als Bereicherung, die Musik dazu live erleben zu können, aber es war kein dramaturgischer Ansatz."

Der Publikumserfolg von "Movimentos" ist indes erstaunlich. Zumal Wolfsburg ja nicht gerade als kulturelle Hochburg gilt, und viele, spöttisch gesagt, nur in diese Stadt fahren, um ihr neues Auto abzuholen, wo Dr. Maria Schneider, die Kreativdirektorin der Autostadt, aber ein regelrechtes Stammpublikum heranwachsen sieht:

"Das sind Menschen, die aus der Region kommen, wobei wir die Region in einem Umkreis von ca. 200 Kilometern definieren. Was bedeutet, dass Hamburg und Berlin noch mit eingeschlossen sind. Aus diesen Orten, einschließlich Hannover, kommt unser Stammpublikum. Alle, die darüber hinaus anreisen, sind jetzt erst vom letzten Jahr an auf uns aufmerksam geworden und diese Gruppe verstärkt sich. Manche kommen dann nur zu einzelnen Choreographen, die sie ganz gezielt auswählen. Es gibt aber auch welche, die zu allen sieben Companies gekommen sind, um sich so ein Bild über das aktuelle Tanzgeschehen zu machen."

Dass das Tanz-Festival Movimentos eine Fortsetzung finden wird, darüber bestehen bei den Verantwortlichen der Autostadt keine Zweifel, zumal die Companies aus aller Welt nicht nur nach Wolfsburg kommen sollen, sondern mit Koproduktionen, wie Dr. Maria Schneider erläutert, auch eine Botschaft in die Tanzwelt hinaus getragen werden soll:

"Wir haben ja mit zwei Companies Koproduktionen gemacht, die jetzt auch als gemeinsame Produktionen mit den Companies um die Welt gehen. Die Companies haben natürlich jetzt, da sich so ein Festival sehr gut herumspricht, Vertrauen gewonnen und wissen, dass sie hier sehr gut arbeiten können."

Allerdings soll das nicht heißen, und wie auch verschiedentlich berichtet wurde, dass sich nun die Tanztruppen aus aller Welt für einen Auftritt auf dem Podium des alten Heizkraftwerkes bewerben können. Denn die Auswahlkriterien möchte Bernd Kaufmann schon noch selbst festlegen:

"Wir reagieren hier nicht auf Anfrage, wir gehen schon selbst hinaus und denken daran, was Inhalte und Formen angeht, schon noch Gegensätzlicheres hier präsentieren zu wollen. Denn Sie glauben ja gar nicht, wie groß die Welt ist, und wie oft Sie da staunend vor einer Tanz-Company stehen, und eigentlich so etwas noch nicht gesehen haben. Das ist noch lange nicht zu Ende."