Antisemitismus auf der Documenta
Das Gloria Kino in Kassel. Schauplatz der Filmreihe auf der Documenta15. © imago / epd / Andreas Fischer
Harsches Urteil des Expertenrats
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Ein Expertenrat hat bei der Documenta einer dort gezeigten Filmreihe Antisemitismus attestiert und deren Absetzung gefordert. Der Kunstkritiker Carsten Probst sieht in dem Urteil die Kunstschau als Ganzes infrage gestellt.
Die Antisemitismus-Kritik an der Documenta reißt nicht ab: Der von den Gesellschaftern eingesetzte Expertenrat hat der dort gezeigten Filmreihe "Tokyo Reels Film Festival" des Kollektivs "Subversive Film" Judenfeindlichkeit attestiert und die Absetzung gefordert.
Antisemitische und antizionistische Versatzstücke
Die pro-palästinensischen Propagandafilme seien mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehen und legitimierten Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus, heißt es in einer Stellungnahme des siebenköpfigen Gremiums. Da das historische Material nicht kritisch reflektiert, sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert werde, stellten die Filme in ihrer potenziell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk People's Justice.
Während der Zentralrat der Juden die Beurteilung des Gremiums begrüßt, weigert sich das Kuratorenkollektiv "ruangrupa", der Forderung nachzukommen und spricht vom Versuch einer Zensur. Das Gremium arbeite unwissenschaftlich und tendiere zu Rassismus, so das Kollektiv. Man lasse sich nicht definieren, untersuchen und von einer weiteren Institution re-kolonisieren.
Erklärungsbedürftiges historisches Material
Bei den Filmen handele es sich um Agitprop-Material des militanten palästinensischen Widerstands gegen die israelische Armee, das entsprechende Feindbilder propagiere, berichtet Kunstkritiker Carsten Probst. Man könne dort viele antiisraelische Parolen und antisemitische Klischees hören.
"Auch Verteidiger der Documenta haben diese Filme als erläuterungsbedürftiges historisches Material beurteilt, das man nicht unkommentiert lassen kann." Das Expertengremium habe seine Beurteilung mit einer Dringlichkeit versehen, um "ruangrupa" mitzuteilen, dass ein kuratorischer Eingriff nötig sei.
Rigorose Formulierungen
Bemerkenswert sei vor allem der zweite Teil der Stellungnahme, sagt Probst. Dort heiße es, die Geschäftsführung der Documenta hätte viel früher auf die Antisemitismus-Vorwürfe bei der Ausstellung reagieren und mit dem Zentralrat der Juden reden müssen.
Damit werde die kuratorische Leitung und die Geschäftsführung der Documenta insgesamt kritisiert. Die Rigorosität der Formulierungen lege den Schluss nahe, dass die Documenta als Ganzes versagt habe und geschlossen werden müsste.
Im bisherigen Verlauf der Debatte sei zu wenig miteinander und zu viel übereinander geredet worden, meint Probst. So sei es verwunderlich, dass das Gremium nicht vor seinem Gang an die Öffentlichkeit das interne Gespräch gesucht und das Kuratorenkollektiv angehört habe.
Signal an die Politik
Das Vorgehen des Gremiums zeige, dass der eigentliche Adressat der Stellungnahme nicht die künstlerische Leitung oder die Geschäftsführung der Documenta sei, so Probst. Diese sei "letztlich an die Politik gerichtet, um eine Art Handhabe zu liefern, wie man diese Documenta insgesamt zu beurteilen hat und worauf man bei künftigen Documentas achten sollte, möglicherweise auch mit bundespolitischen Regularien".
Das Gremium hätte eigentlich reflektieren sollen, wo die Debatte derzeit stehe, anstatt sie zu verfestigen. "Dazu bedarf es aber einer Beleuchtung anderer Standpunkte, nicht nur des einen Antisemitismusvorwurfs, der auch missbräuchlich verwendet werden kann, um bestimmte politische Ansichten von vornherein zu diskreditieren. Es hätte gut getan, das als Differenzierung einzufügen."