Die Wissenschaft muss sich mehr einmischen
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Oft wird heute vor „Expertokratie“ gewarnt: Zu viel blutleeres Spezialistentum schade der Demokratie. Dabei zeigt eine neue Studie: Die Mehrheit der Gesellschaft wünscht sich mehr Einmischung der Wissenschaft. Gut so, meint Sibylle Anderl.
Die Wissenschaft und die Öffentlichkeit – das ist keine einfache Beziehung. Einerseits brauchen wir alle die Expertise der Fachleute. Niemand kann alles wissen und alles selbst ergründen. Doch andererseits macht es misstrauisch, wenn elitäre Kreise Aktivitäten nachgehen und über Kenntnisse verfügen, die so vielen anderen verschlossen bleiben. Umso mehr, wenn all dies öffentlich finanziert wird. Sollte nicht die Öffentlichkeit verstehen und über das mitbestimmen, was sie bezahlt?
Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch
Nicht unbedingt, sagen die Wissenschaftler, letztlich können nur sie selbst über Ziel und Inhalt von Forschung entscheiden. Und das heute mehr denn je: schließlich wird täglich sichtbar, wie einfach die Massen in den sozialen Medien manipulierbar sind, wie falsch mancher Laie liegt, wenn er sich zum Experten aufspielt, wie Fehlinformation und Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch sind.
Wenn die Politik nun – vielleicht auch deswegen - zum Dialog aufruft, befindet sie sich grundsätzlich auf einer Linie mit dem britischen Wissenschaftsphilosophen Philip Kitcher. Der hatte in seinem Buch "Science in a Democratic Society" gefordert, die Wissenschaft müsse sich dem demokratischen Dialog stellen, wenn es um wissenschaftliche Wertfragen geht. Die sind nach Kitcher das Verbindungsglied, das über die Ethik in die Gesellschaft reicht: Was in der Forschung wichtig ist und was aus ihr folgt, sind Fragen, die alle angehen.
Hüten wir uns vor "Vulgärdemokratie" und "Technokratie"
Auf der Suche nach Antworten gilt es dabei, zwei Szenarien zu vermeiden, meint Kitcher: Die Vulgärdemokratie, in der die uninformierte Mehrheit über das entscheidet, von dem sie keine Ahnung hat. Und die Technokratie, in der die wissenschaftliche Elite über Fragen entscheidet, deren gesellschaftliche Relevanz sie nicht einschätzen kann. Was ihm stattdessen vorschwebt, ist die sogenannte "wohlgeordnete Wissenschaft": überlegte und informierte Beratungen unter einer repräsentativen Auswahl von Bürgern. Dass eine solche "wohlgeordnete Wissenschaft" nicht mehr als Ideal sein kann, gesteht Kitcher allerdings selbst ein. Wie ist vor diesem Hintergrund unsere gegenwärtige Situation einzuschätzen?
Die beiden US-amerikanischen Philosophen James Weatherall und Cailin O’Connor haben kürzlich argumentiert, wissenschaftliche Themen von öffentlichem Interesse würden schon heute wie in einer Vulgärdemokratie behandelt, zum Beispiel der Umweltschutz und Fragen der Gesundheitsvorsorge. Diesen Eindruck relativiert das aktuelle "Wissenschaftsbarometer" glücklicherweise: Zumindest in Deutschland genießt die Wissenschaft weit höheres Vertrauen als die Wirtschaft und Politik. Die Bürger schätzen den Wert der Wissenschaftsfreiheit und wünschen sich die Einmischung der Wissenschaft in die Politik.
Wissenschaft muss ihre Grundlagen besser vermitteln
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten das als Motivation verstehen: Die Öffentlichkeit will den politisch angemahnten Dialog und bringt den guten Willen dafür mit. Das sollte auch anwendungsferne Fächer ermutigen, ihr Publikum nicht zu unterschätzen und den Austausch zu wagen. Denn nicht nur gibt es viele Themen, zu denen die Bürger wissenschaftlich fundierte Informationen benötigen, um unsere Demokratie weiterhin erfolgreich mit zu gestalten. Um eine Vulgärdemokratie zu vermeiden, muss auch vermittelt werden, was Wissenschaft im Kern ausmacht und wie sie funktioniert. Und dazu können Natur- wie Geisteswissenschaften, Anwendungs- wie Grundlagenfächer gleichermaßen beitragen.