Explosive Stimmung in Bolivien

Kein Frieden in Sicht

23:37 Minuten
Protest am Eingang der Treibstoffanlage Senkata in der Stadt El Alto. Eine Frau mit verzerrten Gesicht ist zwischen mehreren Soldaten zu sehen.
Protest Mitte November am Eingang der Treibstoffanlage Senkata in der Stadt El Alto. © imago images/Agencia EFE/Rodrigo Sura
Katharina Wojczenko und Ivo Marusczyk |
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In Bolivien eskaliert die Gewalt. Bei der Blockade einer Treibstoffanlage kamen mehrere Menschen ums Leben. Derweil twittert Ex-Präsident Evo Morales aus Mexiko - und die Übergangspräsidentin Jeanine Áñez wird von der indigenen Bevölkerung abgelehnt.
Auf dem Platz in El Alto ist kaum ein Durchkommen mehr. Tausende Menschen drängeln sich, manche sind Stunden zu Fuß gegangen, um gemeinsam zu trauern. Drei Särge stehen auf dem Boden, bedeckt mit der bunten Fahne der indigenen Völker Boliviens. Blumen sind darüber gestreut. Daneben stehen Spenden für die Angehörigen der drei Toten: Plastikflaschen mit Saft und Coca Cola, Schälchen mit einigen Geldscheinen. Die Menschen hier sind nicht reich.
"Wir haben so viele Leute verloren, es gibt so viele Tote. Die Opposition kann in aller Ruhe protestieren. Aber wenn wir auf die Straße gehen, dann schießen sie auf uns. Das ist ungerecht!"

Die Hälfte der Bolivianer ist indigen

Seit Tagen hatten Demonstranten in El Alto, der Nachbarstadt des Regierungssitzes La Paz, eine Treibstoffanlage blockiert, um Druck auf die Übergangsregierung von Präsidentin Jeanine Áñez auszuüben. Als Polizei und Armee den Weg frei machten, starben mindestens acht Menschen. Angeblich fiel kein einziger Schuss von Seiten der Streitkräfte, das behauptet der derzeitige bolivianische Verteidigungsminister. Die Menschen in El Alto berichten anderes. In ihren Gesichtern mischen sich Schmerz und Wut.
"Die Leute stellten sich um die Anlage. Sie waren wütend. Sie riefen dazu auf, die Anlage einzunehmen. Da begannen die Soldaten, mit Schrot- und Gewehrkugeln zu schießen. Dann kamen zwei Militärhubschrauber. Sie warfen Tränengas und schossen aus den Hubschraubern heraus. Dann kam ein zweites, viel größeres Kontingent von Polizei und Armee. Die Polizisten warfen in alle Richtungen Tränengas, die Soldaten schossen. Hier unten an der Straße sagten die Menschen: Wir werden die Mauern umwerfen. Und sie stießen sie um. Da kamen die Soldaten von drinnen heraus und haben wieder geschossen."


Fast alle auf dem Platz haben dunkle Haut und schwarze Haare. In El Alto leben hauptsächlich Menschen, die aus indigenen Dörfern in die Stadt gezogen sind. Viele sprechen nur gebrochen Spanisch, ihre Muttersprache ist Aymara. Die Frauen tragen traditionelle, bunte Röcke, die polleras, und um die Schultern Tücher, in denen sie sonst auf dem Rücken Babies oder Waren transportieren. Dazu schwarze Filzhüte oder andere Kopfbedeckungen gegen die Sonne, die auf 4100 Metern Höhe brennt. Den Indigenen, die in Bolivien knapp die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, hat die Regierung von Evo Morales in den letzten 13 Jahren Selbstbewusstsein gegeben.
Angehörige stehen hinter den Särgen der Toten.
Angehörige stehen hinter den Särgen der Toten und trauern.© Deutschlandradio / Katharina Wojczenko

Blockade 4100 Meter über dem Meeresspiegel

Bolivien kommt nach dem Rücktritt des ersten Präsidenten Südamerikas, der indigener Herkunft ist, nicht zur Ruhe, vor allem nicht in El Alto. So karg und staubig die Stadt auf der Hochebene ist, so lebenswichtig ist sie 500 Meter tiefer für La Paz, wo die Regierung sitzt. Die Seilbahnen, die beide Städte verbinden, sind wie Lebensadern. In El Alto ist der Flughafen. Aus El Alto kommen Gas, Benzin und Diesel für La Paz. Über El Alto kommen die Produkte aus dem Osten des Landes nach La Paz, vor allem Fleisch.
Wenn die Einwohner in El Alto die Zugangswege blockieren, dann haben die im tiefer gelegenen La Paz ein Problem.


Viele in El Alto haben am 20. Oktober für Evo Morales gestimmt, der inzwischen in Mexiko im Exil ist. So wie die Frau mit dem zerfurchten Gesicht, die an einer Straße getrocknete Kartoffeln verkauft – auch wenn wegen der vielen Blockaden kaum mehr Kundschaft kommt, wie sie klagt. Die Leute haben weniger Geld, die Preise sind gestiegen.
Evo Morales am 20. November im mexikanischen Exil. Ein Mann sitzt an einem Tische und sagt etwas.
Evo Morales am 20. November im mexikanischen Exil.© dpa/picture alliance/ZUMA Press/El Universal
"Wir haben immer Evo gewählt, weil er für uns arme Leute etwas tut. Er hat Straßen gebaut, Schulen auf dem Land, er hat den Leuten sehr geholfen. Ich will, dass diese Señora verschwindet, die jetzt Präsidentin ist. Sie ist Rassistin, sie beleidigt uns indigene Frauen, das wollen wir nicht. Diese Regierung muss weg. Entweder soll Evo zurück oder ein Jüngerer soll kommen, der so ist wie Evo."

Die "Señora" hat keine Chance bei den Indigenen

Die "Señora"– das ist Jeanine Áñez, die sich nach dem Rücktritt von Evo Morales zur Übergangspräsidentin ernannt hat. Sie ist das genaue Gegenteil von Morales: Sie ist rechts-konservativ, gehört zur europäisch-stämmigen Elite und – sie ist weiß. Mit der Bibel in der Hand möchte sie Bolivien wieder auf den rechten Weg bringen. Davor aber muss sie Neuwahlen organisieren. Evo Morales, der eigentlich laut Verfassung bereits nach seiner zweiten Amtszeit hätte abtreten müssen, wird nicht mehr kandidieren, wie er aus dem Exil verlauten lässt. Er darf es auch nicht mehr. Das Festhalten an der Macht mit allen Mitteln über fast vier Amtsperioden hinweg hat Evo Morales viele Sympathien gekostet.
Als ihn am 10. November der Militärchef zum Rücktritt auffordert und Morales dem folgt, ist deshalb der Jubel in manchen Stadtteilen von La Paz groß. Völlig überrascht fallen sich Menschen in die Arme, Paare küssen sich, einigen laufen Tränen übers Gesicht. "Jetzt ist er weg, jetzt ist er weg, Evo Morales ist weg." "Ja, wir haben es geschafft", singen sie. "Wir erleben ein demokratisches Fest, einen unvergesslichen Tag, der in die Geschichte von Bolivien eingehen wird. Ein Tag, an dem Bolivien sich Gehör verschaffte und einen Diktator stürzte."


Unter Evo Morales, dem Präsident mit den indigenen Wurzeln, wuchs Boliviens Wirtschaft dank wachsender Rohstoffpreise, Infrastrukturprojekte kamen voran und die Armut sank. Das bestreiten selbst seine Feinde nicht. Besonders die arme Bevölkerung – mehrheitlich indigen – hat davon profitiert. Aber mit seiner Rhetorik hat er zunehmend die Land- und Stadtbevölkerung gegeneinander ausgespielt.
Die bolivianische Übergangspräsidentin Jeanine Áñez am 21. November im Palacio de Gobierno, dem bolivianischen Regierungssitz in La Paz. Eine Frau mit langen blonden Haaren und einer Brille sitzt vor einem Mikrofon und spricht.
Die bolivianische Übergangspräsidentin Jeanine Áñez am 21. November im Palacio de Gobierno, dem bolivianischen Regierungssitz in La Paz.© picture alliance / dpa/ Lokman Ilhan

"Wir kennen uns nicht. Das ist das Problem"

Katia Vergara, Mutter von drei Kindern, managt ein Lokal mit 22 Mitarbeiterinnen im Boheme-Viertel Sopocachi in La Paz. Die Speisekarte reicht von orientalischer Falafel bis zu bolivianischen Eintöpfen. Die 50-Jährige ist erschrocken darüber, dass Leute wie sie offenbar dem Feindbild vieler Indigener entsprechen. Die Blockaden haben ihr Einbußen von mindestens 50 Prozent beschert, sagt die Restaurant-Leiterin.
"In der ganzen Umgebung haben die Bauern die Straßen blockiert, damit die Waren aus dem Landesinneren nicht nach La Paz kommen. Deshalb musste wir unsere Produktion reduzieren, haben die Öffnungszeiten verkürzt. Das ist natürlich schwierig, wir haben ja Personal und unter diesen Umständen reicht das Geld am Monatsende nicht mehr."
Wütend klingt Vergara nicht, sondern eher nachdenklich.
"Die Leute, die diese Blockaden machen, tun das, weil sie falsch informiert sind. Sie glauben, wenn sich die Regierung ändert, nimmt man ihnen ihr Land weg und wird sie diskriminieren, so dass sie wieder versklavt werden. Sie werden getäuscht und haben Angst, deshalb machen sie das."
Vergara wohnt in der Zona Sur, wo Mittelklasse-Viertel auf Arbeiterviertel treffen. Als die bolivianischen Konfliktparteien auf totalen Konfrontationskurs gingen, beschlossen Katia Vergara und ihre Nachbarn, das Gegenteil zu tun.
"Wir haben versucht, zu den Menschen in den ärmeren Vierteln zu gehen und mit ihnen zu reden, sie zu fragen, warum sie blockieren, was ihre Angst ist, warum sie so aufgewühlt sind. In vielen Vierteln sind sich die Menschen so einig geworden. Wir haben es geschafft, miteinander zu reden, in Frieden miteinander zu sein, Zeit miteinander zu verbringen. Denn wir kennen einander nicht. Das ist ein Problem."
Für Katia Vergara haben die vergangenen Wochen deshalb auch etwas Positives bewirkt.
"Dank dieser Aktivitäten haben wir uns wirklich angenähert. Und sie haben gesehen, dass die Mittelschicht solidarisch mit ihnen ist. Wir haben uns geeint als Bolivianer. Das ist viel wert und wird dazu beitragen, dass dieses Land wächst und ein besseres wird."

"Mörderin" steht auf der Präsidentenschärpe

Für die Trauernden auf dem Platz in El Alto sind Versöhnung und Einigung noch weit weg. Blanke Wut entlädt sich, noch bevor die Feier zu Ende geht. Die Versammelten fordern lautstark den sofortigen Rücktritt von Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die ein Dekret erlassen hat, das dem Militär Straffreiheit zusichert, wenn die Soldaten mit der Polizei für die öffentliche Ordnung sorgen. Die Toten von El Alto könnten demnach ungesühnt bleiben.
"Wir bitten um internationale Hilfe, diese Ereignisse müssen aufgeklärt werden, alle müssen davon erfahren. Auf die Armen wird hier geschossen! Wir wollen Gerechtigkeit, und zwar sofort."
"Diese selbsternannte Präsidentin Añez hat dem Militär und der Polizei freie Hand gegeben, uns zu ermorden. Das Massaker hier ist beispiellos. Ich will, dass die ganze Welt erfährt, was hier in Bolivien mit den Armen geschieht. Das darf nicht sein! Das ist ungerecht!"
In El Alto zeigt sich die Wut in einem drastischen Bild: Vorne stehen die drei Särge. Im Hintergrund baumelt die Präsidentin als lebensgroße blonde Puppe samt Stöckelschuhen an einem Strick von der Brücke. "Mörderin" steht auf ihrer Präsidentenschärpe.


Die Vorkommnisse in El Alto sind vor wenigen Tagen geschehen. Südamerika-Korrespondent Ivo Marusczyk, seit Samstag im Land, schätzt die Lage inzwischen etwas ruhiger ein. "Die Pragmatiker kommen jetzt zum Zuge." Da sich alle Parteien auf schnellstmögliche Neuwahlen geeinigt haben und auch eine Wiederwahl Evo Morales ausgeschlossen haben, gibt es eine gemeinsame Grundlage – wenigstens bis zur Wahl.
Juana Aduviri Pasqui fordert Gerechtigkeit für die Toten.
Juana Aduviri Pasqui fordert Gerechtigkeit für die Toten.© Deutschlandradio / Katharina Wojczenko
Da die Gegensätze zwischen der indigenen Bevölkerung und der europäisch-stämmigen Elite in Bolivien extrem sind, komme es darauf an, die Mittelschicht zu mobilisieren. Die ist zwar relativ klein, hat sich aber unter der Regierung von Evo Morales stabilisiert. "Seine Wirtschaftspolitik war zwar umstritten, aber die Mittelschicht ist in seiner Regierungszeit gewachsen." Jetzt könnte sie zu einem wichtigen Akteur in einem Prozess der Versöhnung werden.
Verschwörungstheorien, die die USA, China, Kanada oder Chile in die bolivianische Krise verwickelt sehen, erteilt der Korrespondent eine Absage. "Es gibt zwar diesbezüglich Interessen, vor allem an den Lithiumvorkommen in Bolivien. Aber dass sich diese Länder aktiv in die Politik einmischen, das halte ich für ausgeschlossen."
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