Explosives Erbe

Von Thomas Gith |
Zehn Prozent der gut 1,6 Millionen Tonnen Bomben, die während des Zweiten Weltkrieges auf Deutschland abgeworfen wurden, sind nicht detoniert. Ein Team von Spezialisten arbeitet bei der Entschärfung der Blindgänger Hand in Hand
"Achtung, Achtung! Hier ist der Befehlsstand der ersten Flakdivision Berlin. Die gemeldeten Bomberverbände befinden sich im Raum Hannover-Braunschweig. Wir kommen wieder!"

"Man musste tagtäglich und stündlich immer damit rechnen, dass es Alarm gab oder dass irgendetwas passierte."

Hans Janssen, ehemaliger Werftarbeiter und Zeitzeuge des Luftkriegs.

"Und dann hat man schon gemerkt, wenn weiter weg die ersten Bomben fielen, denn schüttelte sich das schon. Und denn kamen die, die oben rauf fielen. Da hast du ... dir fliegt der Kopf auseinander! Durch den Druck und durch das Getöse. Das kann man sich gar nicht vorstellen, der ganze gewaltige Betonklotz, der hob sich und senkt sich wieder. Und du gingst mit! Ganz furchtbar! Das kann man gar nicht beschreiben das Gefühl."

Der Luftkrieg gegen Deutschland beginnt im Mai 1940: Mitte des Monats fliegt die englische Royal Air Force erstmals große Angriffe mit Dutzenden Bombern auf Westdeutschland, darunter auf Mönchengladbach. Es ist der Anfang eines bis dahin in diesem Ausmaß noch nie dagewesenen Flächenangriffs auf deutsche Städte, an dem sich ab 1942 auch die Amerikaner beteiligten. Doktor Harald Potempa, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt.

"Der Luftkrieg gegen Deutschland beginnt verstärkt ab 1942/43 durch die Royal Airforce bei Nacht, durch die US-Armee-Airforce bei Tage und setzt sich in großen Bombenangriffen – tausend Bomberangriffe auf Köln, auf Hamburg und später dann auf Dresden - fort. Mit den entsprechenden Flächenbombardements hauptsächlich bei Nacht und mit den entsprechenden, ja, eher punktuellen Bombardements bei Tage verstärkt dann ab 1944/45."

Hamburg, Berlin, Köln und Dresden werden durch die zentnerschweren Sprengbomben zum großen Teil zerstört - aber auch Städte wie Kassel, Rostock, Mainz, Pforzheim und Osnabrück versinken in Trümmern. Brandbomben entfachen zusätzlich Feuerstürme, die ganze Stadtteile in Schutt und Asche legen. 500.000 Menschen sterben.

"Es gab zwei wesentliche Ziele im Zweiten Weltkrieg, Städte zu bombardieren. Das erste ist, es sind Industriegebiete, es sind Hafenstädte, es sind Verkehrsknotenpunkte und das Zweite ist, die Wohnungen, Wohnflächen der entsprechenden Arbeiter, aber auch die Wohnungen der Bevölkerung liegen in einer Großstadt sehr stark geballt. Und all dieses braucht eine Kriegsindustrie, um produzieren zu können."
The Big Week, die große Woche, startete im Februar 1944: 6000 Bomber zerstören speziell ausgewählte Ziele der deutschen Rüstungsindustrie.
""Und so sind die Zerstörung der militärischen Infrastruktur, der Industrieproduktion, der Verkehrsknoten aber natürlich auch der Wohnungen, diese vier Elemente, die sich zu einem Bombardement und auch einem Flächenbombardement während des Zweiten Weltkriegs verwoben haben."

Am 8. Mai 1945 hat nicht nur dieser Schrecken ein Ende. Deutschland kapituliert.

Etwa 1,6 Millionen Tonnen Bomben wurden während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland abgeworfen. Rund 10 Prozent der Bomben detonierten nicht. Viele dieser Blindgänger liegen bis heute im Erdreich - verborgen unter Gras, Asphalt, Beton. Es sind tickende Zeitbomben, die jederzeit explodieren können. Das zu verhindern ist Aufgabe der Kampfmittelräumer.

"Also, wir sind hier auf dem ehemaligen Flugplatz Oranienburg. Das wird ein Gewerbegebiet oder ist als Gewerbegebiet ausgewiesen."

Einer dieser Kampfmittelräumer ist Andreas Hüter. Gerade steht er auf einer weitläufigen Brache.

""Andererseits ist es so, das hier in diesem Bereich im Zweiten Weltkrieg sehr stark bombardiert wurde. Das heißt also, hier liegen latent, permanent Bomben noch im Erdreich. Wir haben gerade im letzten halben Jahr zwei Stück hier geborgen. Das heißt also, bevor ich hier irgendwelche Hochbauaktivitäten starten kann, muss die gesamte Fläche von Kampfmittel befreit werden."

Sandhaufen und wilde Gräser prägen das Areal. Von dem explosiven Erbe des Zweiten Weltkriegs ist hier auf den ersten Blick nichts zu sehen – und doch ist es näher, als man denkt. Das Team von Andreas Hüter baggert gerade den Boden ab.

"Der Oberboden wird abgezogen. Weil dort drin sehr viele Anomalien, sprich Störkörper in jeglicher Art und Weise enthalten sind, die würden jetzt hier ein sehr unsauberes Sondierergebnis erzielen. Deswegen wird wie gesagt dieser Boden abgezogen, gesichtet auf Munition, bis zu dem gewachsenen Boden. Und auf dieser Fläche wird dann noch mal eine Sondierung durchgeführt, um eventuell tiefer liegende Verdachtspunkte, sprich Bomben zu verifizieren."

Neben der Baustelle liegt ein Haufen Abfall: Getränkedosen, verrostete Fahrradteile, Reste von einem Drahtzaun. Sie wurden direkt unter der Grasfläche gefunden – die Sonde, die Bomben aber auch Granaten und Gewehrgeschosse aufspüren soll, würde bei all diesem Schrott ständig anschlagen.

Etwas tiefer ist das nicht mehr der Fall. Ein Sondierer steigt auf den freigelegten Erdboden hinab und geht mit der Sonde über den Grund. Die Sonde, das ist ein langer Metallstab, an dessen Spitze eine Magnetspule baumelt. Auf einem Display zeigen Nadeln an, wie stark der magnetische Impuls im Erdreich ist, dazu knarzt das Gerät.

Sind die Ausschläge besonders heftig, wird mit der Hand vorsichtig nachgebuddelt. Diesmal kommt nur ein Klinkerstein zum Vorschein. Weil der Eisenoxyd enthält, hat die Sonde angeschlagen. Entwarnung fürs Erste.

"Auf dieser Fläche haben wir die letzte Bombe etwa vor vier bis fünf Wochen gefunden. Die lag etwa drei Meter tief. Wenn sie dann freiliegt, wird der Kampfmittelbeseitigungsdienst informiert, der kommt dann konkret raus und entscheidet das weitere Vorgehen, was er mit der Bombe macht, ob er sie entschärft oder halt sprengt. In dem Fall hier ist sie letztlich gesprengt worden."

1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die Menschen in Deutschland beginnen mit den Aufräumarbeiten. Es ist die Zeit der Trümmerfrauen, die Schutt wegschleppen, Steine sortieren, retten, was zu retten ist. Technische Ausrüstung haben sie keine. Woher auch. Bombentrichter werden einfach zugeschüttet.

Dass bis heute überhaupt noch Bomben im Boden liegen, erklärt sich aber auch durch die Geschichte der Suchtechnik. Die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg war es schlicht unmöglich, die Bomben aufzuspüren. Horst Reinhardt, Technischer Leiter des Brandenburger Kampfmittelbeseitigungsdiensts und einer der versiertesten Fachleute auf dem Gebiet der Bombenentschärfung.

" Die Suchtechnik, die man damals hatte, dort hat man vielleicht eindringen können wenige Zentimeter oder einen Meter vielleicht oder maximal auch einen Meter fünfzig oder zwei Meter. So hat sich das dann ja langsam mit der Suchtechnik entwickelt. Aber man hat damit nicht alle Bomben gefunden. Die Bomben, die dann drei Meter, vier Meter, bis sieben Meter in manchen Gegenden liegen, die hat man einfach nicht gefunden! Heute sind wir durchaus in der Lage, in jeder Tiefenlage die Bomben zu finden, anzumessen, genau auf den Punkt frei zu graben und dann auch mit verfeinerter Technik unschädlich zu machen."

Erst langsam entwickelte sich ein gezielter Umgang mit Blindgängern. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: wie die Bomben finden und - viel wichtiger - was tun, wenn man sie gefunden hat? Seit Jahrzehnten suchen Spezialisten nach geeigneten Methoden. Sie entwickelten hochempfindliche Geräte: Metalldetektoren etwa, die in der Lage sind, die speziellen ferromagnetischen Impulse dieser Bomben auch in mehreren Metern Tiefe zu erkennen.

Aber auch die Sprengtechnik wurde verbessert. Seit den 80er-Jahren werden Blindgänger mit einer Art sanften Sprengung, der sogenannte Low-Order-Methode, entschärft: Bei ihr wird der Bombenkörper vorsichtig angesprengt, sodass der Zünder herausfällt – der Explosivstoff im Inneren brennt anschließend ab. Angewandt wird das Verfahren vor allem in Berlin. Doch es gibt Kritik an der Technik – weil sich eine ungewollte große Explosion nicht ausschließen lässt. Horst Reinhardt.

"Wir haben unsere Entwicklung dahingehend gemacht, dass wir das kontrollierte Sprengen weiter entwickelt haben. Wir verhindern, dass Splitter, Druck und so weiter auf Sachwerte wirken können. Das haben wir so weit entwickelt, dass wir sehr zufrieden sind damit, und vor allem auch den Erfolg vorher einschätzen können. Hundertprozentig einschätzen können, das wird so, wie wir es berechnet haben, was man bei Low-Order nicht kann."

An der Technischen Universität Cottbus wird derzeit eine neue Methode erprobt: In-Position nennt sich das Verfahren, bei dem die Feuerwerker die Bombenhülle mit einem Plasmaschneider aufschweißen und den Sprengstoff anschließend abbrennen. Das bringt Vorteile: Die Bombenhülle lässt sich so in rund 5 Sekunden öffnen – der Sprengstoff im Inneren erhitzt sich dabei nicht. Noch ist diese Methode Forschungsgegenstand. Angewandt wird dagegen bereits eine andere neue Technik: die Sprengung im Wasserbett. Sie gilt als Alternative zur Low-Order-Methode und ist besonders sicher.

"Die Bombe wird am Fundort also tiefer gelegt, also die Grube wird vergrößert. Und dann wird eine Baufolie, ganz einfach aus dem Baumarkt eine Baufolie eingezogen, um hier ein Loch zu erzeugen, was wasserdicht ist letztendlich. Dort bitten wir dann die Feuerwehr, Tausende Liter Wasser einzulassen, der Bombe wird die Ladung angesetzt, sodass sie im Prinzip unter Wasser liegt, das Wasser kann nicht ausweichen wegen dieser Baufolie und dann wird sie zur Detonation gebracht."

Das Wasser bremst und kühlt die sehr heißen Bombensplitter. Denn die könnten ansonsten trockene Wiesen, Bäume und Büsche in der näheren Umgebung entzünden. Grundsätzlich ist es für die Feuerwerker am sichersten, direkt vor Ort zu sprengen – doch häufig ist das unmöglich, etwa wenn Menschen gefährdet sind oder die Erdstöße Wohngebäude, Straßen und Bahngleise zu beschädigen drohen. Dann entschärfen die Kampfmittelräumer die Bombe am Fundort.
Mit einer Rohrzange oder anderen Geräten drehen sie den Zünder vorsichtig aus der Fassung. Eine Panne darf es dabei nicht geben – denn das ist zwangsläufig tödlich. Am sichersten ist es daher, die Bombe aus der Ferne unschädlich zu machen: Eine neu entwickelte Schneidanlage verspricht dabei gute Ergebnisse.

"Die Entwicklung hat ja eine Weile gedauert. Wir haben viele Übungen damit gemacht. Und in diesem Jahr haben wir das erste Mal auch in Oranienburg einen Langzeitzünder ausgeschnitten."

Zusammen mit einem Industriebetrieb hat der Brandenburger Kampfmittelbeseitigungsdienst die Schneidanlage entwickelt: Ein feines Sand-Wasser-Gemisch wird dabei mit Hochdruck durch eine Düse gespritzt. Der harte Strahl schneidet den Zünder kreisförmig aus dem Eisenmantel der Bombe heraus.

"Vorteil dieser ganzen Anlage ist: Ich muss an der Bombe überhaupt nicht mehr manipulieren. Die Bombe wird festgelegt. Das heißt, die wird richtig festgebunden mit Ketten und ähnlichem mehr, alles was möglich ist, damit sie nicht verrutscht, verrückt. Und dann wird diese Wasserschneidanlage, dieser Dreibock sozusagen, dahinter positioniert. Eine Videokamera aufgestellt, dass man den Prozess aus der Ferne beobachten kann. Die ganze Mannschaft ist im guten, sicheren Abstand. Und dann wird ferngesteuert der Vorgang in Gang gesetzt. Und funktioniert hervorragend."

Ist die Bombe entschärft, bringt sie ein Gefahrguttransporter zu einem der landeseigenen Sprengplätze. Dort werden die Kriegsaltlasten vernichtet. Der Brandenburger Sprengplatz liegt sehr einsam auf einer Lichtung im Kiefernwald. Warnschilder verbieten es Fremden, den Platz zu betreten, ein Posten kontrolliert jeden Ankömmling.

"Personalausweis wenn das geht."

Besucher sind auf eigene Gefahr hier.

"So, wir gehen jetzt mal nach vorne, da zeige ich ihnen mal, wo der Sprengplatz ist."

Über einen Asphaltweg geht Horst Reinhardt vom Eingang des Geländes zum etwas abseits gelegenen Sprengfeld. Das ist rund 100 Meter lang, genauso breit und komplett sandig. 25 Tonnen Munition sind hier vergraben: Brand- und Sprengbomben, Minen, Patronen, Granaten. Sprengmeister Klaus Pöhl.

"So, insgesamt sind hier 15 Sprenggruben angelegt und einige kleinere Sprengstellen. Insgesamt 21 Sprengschüsse werden zu hören sein. Wir haben dann Zeitstufen zwischen den einzelnen Sprenggruben, damit die Erschütterungen auslaufen und sich nicht addieren. Also wir müssen auch schonende Sprengverfahren hier praktizieren. Denn wir sind nicht im luftleeren Raum. Wir müssen auch die Belange der Bevölkerung und den Umweltschutz berücksichtigen"

Bevor die alten Kampfmittel vernichtet werden, muss das Gelände geräumt sein – damit die Splitter, die bei der Explosion durch die Luft wirbeln, keine Menschen verletzen. Bis auf Klaus Pöhl und seine Assistenten verlassen nach und nach alle Mitarbeiter den Sprengplatz. Dann beginnen die letzten Kontrollen.

"An alle Absperrkräfte, ob Absperrkreis geschlossen ist. Posten eins kommen!"

"Posten eins, Absperrkreis geschlossen, kommen."

"Posten 2, kommen!"

"Posten zwei, Absperrkreis geschlossen, kommen."

15 Männer haben sich in einem Umkreis von 1000 Meter um den Sprengplatz herum positioniert – jeweils so, dass sie einander sehen können. Damit ist sichergestellt, dass keine Spaziergänger oder Radfahrer versehentlich aufs Gelände gelangen, wenn es zur Massenexplosion kommt.

"Posten 15, kommen!"

"Posten fünfzehn, Absperrkreis geschlossen."

Die Sicherheitsmaßnahmen vor der Sprengung sind dringend nötig. Denn die Druckwellen, die es hier nachher geben wird, sind gewaltig, erzählt Horst Reinhardt.

"Na ja, bei ungünstigen Wetterlagen passiert es schon mal, das zehn Kilometer weiter eine Scheibe zerspringt. Das passiert, das hatten wir auch schon. Das heißt, hier findet bei bestimmten Wetterlagen eine Reflexion statt und diese Druckwellen, die gehen dann so weit."

Druckwellen und fliegende Splitter sind auch der Grund dafür, dass der Sprengplatz rund zweieinhalb Kilometer vom nächsten Ort entfernt ist. Die Bewohner dort wissen schon: Wenn das Wetter es zulässt, wird immer freitagvormittags gesprengt. Eine Sprengung, die Risiken mit sich bringt.

Viel weniger zu kalkulieren ist allerdings das Risiko, das von noch unentdeckten Blindgängern ausgeht.

Bei der Zerstörung Hamburgs im Jahr 1943 und der Dresdens 1945 etwa kommen auch die besonders gefährlichen Sprengbomben zum Einsatz: Viele von ihnen besitzen einen chemischen Langzeitzünder, der die Bombe erst Stunden oder Tage nach dem Abwurf detonieren lässt. So sollen die Aufräumarbeiten in den Städten erschwert werden.

Zahlreiche dieser Bomben sind bis heute stumm geblieben – wegen der mehrstufigen Zünderkette. Doch die Zünder sind über die Jahrzehnte brüchig geworden – und sie können jederzeit nachgeben, warnt Alexander Döring. Er ist Leiter eines Ingenieurbüros für Kampfmittelräumung.

"Man hat es ja auch gesehen, wie gefährlich so etwas sein kann in Göttingen vor kurzem, wo ja aus dem Nichts heraus quasi im Rahmen einer Bergung so eine Bombe explodiert ist und viele Kollegen in den Tod gerissen hat. Und daran sieht man eben, dass diese Waffen wirksam sind. Es gibt ja bei vielen Menschen die Illusion, dass Munition nach so vielen Jahren nicht mehr wirksam ist und das ist genau falsch."

Auch andere Unglücke belegen das: Im Jahr 2000 etwa explodierte im hessischen Burbach eine Langzeitzünderbombe von selbst, ein Jahr später in Baden-Württemberg. Besonders brenzlig ist die Lage in der nördlich von Berlin gelegenen Kleinstadt Oranienburg. Dort hat es seit 1991 bereits drei Selbstdetonationen gegeben. Der Altlastenexperte Professor Wolfgang Spyra von der Technischen Universität Cottbus hat wegen der Ausnahmesituation in Oranienburg ein Gutachten über die dortige Blindgängerbelastung verfasst – ein Gutachten, das es in ähnlicher Form für keine andere Stadt in Deutschland gibt. Das Fazit der im Mai 2010 veröffentlichten Studie: In dem Ort mit seinen 42.000 Einwohnern liegen vermutlich noch rund 320 Bombenblindgänger. Die Kosten, um all diese Bomben zu orten, zu bergen und zu entschärfen schätzt Spyra auf mehr als 400 Millionen Euro. Seine Forderung: Die Räumungen in der Stadt haben unverzüglich zu beginnen. Suchtrupps sind bereits vor Ort - denn die vermutliche Lage der Blindgänger ist bekannt.

"Die Lage der Bomben kann man eigentlich relativ gut vorhersagen. Weil man die Gebiete, die bombardiert worden sind, sehr gut dokumentiert hat. Nach jedem Angriff sind ja Aufklärer geflogen worden und die haben die Zahl der Bombentrichter natürlich fotografiert, die ausgewertet sagen auch, dort, wo ich viele Bombentrichter habe, kann ich auch viele Bombenblindgänger erwarten. Und damit hat man eigentlich auch die Lagen ganz gut identifizieren können, wo diese Bomben liegen."

Die Luftbildauswertung spielt seit Ende der 80er-Jahre bei der Suche nach Blindgängern eine zentrale Rolle. In den ersten vier Jahrzehnten nach dem Krieg war der Zugriff auf die Bilder nicht möglich: Denn erst Mitte der 80er-Jahren gaben die Alliierten große Bestände ihrer Archivaufnahmen frei. Seitdem kaufen die Bundesländer Kopien der Bilder – und der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen: Schleswig-Holstein etwa hat erst in diesem Jahr 19.000 Luftbilder aus Großbritannien erworben – damit sie Baugrundstücke auf mögliche Einschlagpunkte absuchen können.
Fast vierzig Jahre lang wurden Blindgänger meist nur zufällig entdeckt, etwa bei Bauarbeiten. Zufallsfunde gibt es auch heute noch reichlich – doch das systematische Sondieren hat die Kampfmittelräumung in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend verändert.

"Das gibt allerdings mittlerweile auch die gezielte Suche, dass man sagt, entlang der Hauptkampflinien müssen wir uns noch mal darum kümmern, dass solches Kriegsmaterial geboren wird. Wo sind die Luftangriffe niedergegangen und da gibt es eben Städte, die sind besonders belastet, ob das Hamburg ist, Dresden, Köln, Berlin. Da hat man konkrete Hinweise, dass sehr viele Bomben abgeworfen worden sind und die kann man versuchen, nun gezielt zu finden, weil man dann über sogenannte Luftbildauswertungen zu Verdachtspunkten kommt, die dann gezielt untersucht werden auf solche Bombenblindgänger."

Die Luftbildauswertung gibt es in jedem Bundesland – denn jedes ist betroffen: Allein 2009 wurden deutschlandweit mehr als 1000 Sprengbomben über 50 Kilogramm entdeckt. Am mit Abstand stärksten belastet ist Brandenburg, gefolgt von Nordrhein-Westfalen. Doch auch Berlin und Hamburg haben im hohen Maße mit Blindgängern zu kämpfen. Und selbst in kleinen Bundesländern wie dem Saarland und Bremen werden regelmäßig Bomben entdeckt. Nicht alle Flächen sind jedoch in gleicher Weise belastet.

"Also zu den belasteten Gebieten in Deutschland zählen natürlich die Standorte der ehemaligen Rüstungsindustrie und logistische Zentren. Also wichtige Verkehrsknotenpunkte mit der Eisenbahn, die zum Beispiel die Ostfront versorgt haben. Also solche Stellen sind besonders bombardiert worden und die liegen natürlich auch heute noch im Fokus der Sanierung."

Bild für Bild wird nach Anhaltspunkten abgesucht. Tiefe Einschlaglöcher verraten etwas über den Zustand eines Gebietes - etwa von Bauland.
Bauherren können sich über neu zu bebauenden Flächen bei den Kampfmittelräumdiensten informieren. Die überprüfe dann, ob das Grundstück in einem Verdachtsgebiet liegt. Ist das der Fall, wird sondiert. Bei anderen Flächen ist das nicht so einfach. Dann zum Beispiel, wenn für das Areal keine Luftbilder vorliegen.

Gibt es hingegen Luftbilder, ist die gezielte Suche sinnvoll: Die erfordert eine sehr aufwendige und kleinteilige Fleißarbeit. Frank Ritter, Ingenieur und Luftbildauswerter, zeigt das an einem tischgroßen Metallgestell.

"Was wir jetzt hier vor uns haben, ist ein analoges Bildbetrachtungsgerät, das ist ein Visopret, mit dem können wir einen Stereoeffekt bei der Bildbetrachtung erzielen."

Der Visopret besteht aus einer beleuchteten Glasplatte, auf der sich die Luftbilder festklemmen lassen, und aus einem beweglichen Metallgestell, auf dem zwei Vergrößerungslinsen montiert sind. Frank Ritter fixiert das Bild.

"Diese Aufnahme, die wir jetzt hier haben, die ist vom 20. April 1945, und ist direkt nach der Bombardierung erfolgt."

Ein Blick durch die Vergrößerungslinsen genügt, und der Betrachter taucht ein in die unmittelbare Nachkriegszeit: Aus der Vogelperspektive lassen sich Häuser erkennen, dazu Straßen, Felder und Bäume. Und auf dem ganzen Bild verstreut klaffen kreisrunde Trichter.

"Dieses Bild ist übersät mit Bombentrichtern, da braucht man nicht lange zu suchen."

Und auch die Einschlagstellen der Blindgänger lassen sich identifizieren: Statt der kreisrunden Krater sind es oft nur sehr kleine Löcher. Sobald ein verdächtiger Punkt entdeckt ist, müssen die Bildauswerter die Einschlagskoordinaten bestimmen. Das ist oft schwierig, sagt Frank Ritter.

"Also von einer Zentimetergenauigkeit zu reden, das wäre doch ein bisschen illusorisch. Wir sind zufrieden, wenn wir eine Dezimeter- bis Metergenauigkeit erreichen. Vielmehr ist aus diesen Kriegsluftbildern einfach nicht herauszuholen."

Auf den historischen Luftbildern suchen die Ingenieure zunächst nach Referenzpunkten, die es heute noch gibt: Das können Flüsse sein, Straßen oder Gebäude. Diese Arbeit wird allerdings dadurch erschwert, dass die Kriegsluftbilder oft verzerrt sind oder nur als blasse Kopien vorliegen. Dennoch: Sind die Referenzpunkte ausgemacht, wird das Luftbild mit einer aktuellen Landschaftskarte abgeglichen.

Anschließend geht es ins Gelände – dort wird der vermutliche Einschlagpunkt des Blindgängers geortet. Jahrzehntelang war das eine mühselige und aufwendige Arbeit: Denn der Verdachtspunkt im Gelände musste mit der Hand ausgemessen werden. Seit etwa sechs Jahren wird er satellitengestützt ermittelt. Alexander Döring.

"GPS-Systeme sind ja heute das Standardverfahren in der Vermessung geworden. Aus den Luftbildern kann man, wenn sie sehr vernünftig ausgewertet worden sind und qualitativ hochwertig bearbeitet worden sind, die Koordinaten ermitteln, die also theoretisch der Trichter hat oder die Bombe oder der Blindgänger. Und dann kann man mit Hilfe von GPS-Systemen relativ einfach heutzutage die konkreten Koordinaten im Gelände ermitteln."

Ist der Einschlagpunkt im Gelände markiert, beginnt die Suche mit der Sonde. Stück für Stück arbeiten sich die Fachleute vor. Doch das Gerät gibt manchmal falschen Alarm, reagiert auf eisenhaltiges Material im Erdreich. Schon das ist tückisch. Viel schlimmer aber: Liegt die Bombe zu tief, kann sie übersehen werden. Wolfgang Spyra.

"Zum Auffinden von solchen Bombenblindgängern gibt es grundsätzlich zwei Methoden. Das eine ist die flächenhafte Sondierung, wo ein Sondengänger über den Boden geht und nach solchen suspekten Signalen sucht. Und die andere Methode ist, dass man mit Bohrlochsondierungen in die Tiefe geht. Wenn man die Flächensondierung anwendet, dann gibt dies Reichweiten zwischen zwei und drei Metern. Die Bomben liegen aber erfahrungsgemäß auch sehr viel tiefer, bis zu acht Metern. Und da kann man nur mit der Methode der Bohrlochsondierung diese Signale zuverlässig orten."

Die Bohrlochsondierung muss genau an die geologische Struktur des Bodens angepasst sein – dafür wird der sogenannte Bombenhorizont ermittelt. Der gibt an, in welcher Tiefe sich der Blindgänger vermutlich befindet. In sandigen Gebieten liegt der oft in drei bis vier Meter Tiefe – egal ob das nun in Niedersachsen, Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen ist. Auf weichen Kleiböden oder in schlickigen Gegenden wie dem Hamburger Hafen kann er jedoch auch bis zu acht Meter tief sein. Ist der Bombenhorizont ermittelt, wird der Blindgänger gesucht.

"Um den also zu finden, wird mit dem sogenannten Bohrlochverfahren ein Bohrraster angelegt, um den Verdachtspunkt herum, mit einem gewissen Sicherheitsbereich. Also in der Regel werden dann je nach Verfahrensweise zwischen 45 und 64 Bohrungen angelegt, bis in die Tiefe des zu erwartenden Bombenhorizontes. Dort werden dann Messungen durchgeführt mit sogenannten geophysikalischen Gradientenmessverfahren, entweder einkanalig oder heutzutage bei moderneren Messverfahren mit dreidimensionalen Messverfahren, die in der Lage sind, die Störungen des Magnetfeldes zu erfassen."

Ist das Magnetfeld gestört, erkennen die Fachleute wie Alexander Döring, ob die Bombe in dem abgesuchten Gebiet liegt oder nicht. Detektivarbeit auf höchstem Niveau also.

"Dazu muss man wissen, dass die Bomben aufgrund ihrer Form und ihrer Größe eine ganz spezielle magnetische Signatur haben, die aber leider nicht hundertprozentig nur übereinstimmt mit Bomben. Also zum Beispiel ein Gitterkorb von einem Brunnen, der hat eine ähnliche Signatur. Man findet also eine Signatur, die bombenverdächtig aussieht, aber ganz hundertprozentig sicher, ob es wirklich eine Bombe ist, ist man natürlich noch nicht. Dazu muss dann dieser Verdachtspunkt geöffnet werden, das ist der nächste Schritt."

Entdecken die Kampfmittelräumer einen Blindgänger, legen sie ihn zunächst vorsichtig frei. Im Idealfall wird er anschließend gesprengt oder, wenn das nicht möglich ist, entschärft. Doch trotz intensiver Suche: Manche Bomben bleiben unentdeckt.

"Wenn wir uns das Restrisiko nach solchen Sanierungen anschauen, dann liegt das daran, dass es immer noch Zufallsfunde geben kann, weil die Messmethoden in einem Boden stattfinden, der äußerst unkooperativ ist. Das heißt, dass sich die Bomben aufgrund der Geologie schwer erkennen lassen. Und darin liegen dann eben Risiken, wo man dann fehlgeht und nicht alles vielleicht im Boden entdeckt, was im Boden liegt."

Im brandenburgischen Kummersdorf-Gut ist alles vorbereitet für die Kampfmittelvernichtung: Das Gelände ist geräumt, die Munition mit zusätzlichen Zündern und TNT präpariert, die Sprenggruben sind verkabelt.

Mit drei Trötenstößen kündigt Klaus Pöhl die Sprengung an. Anschließend geht er in einem geschlossenen und sicheren Betonraum – jetzt sind nur noch ein paar Handgriffe nötig.


"Den Zündkreis messen, überprüfen, ob er Durchgang hat, die Zündmaschine anschließen und die Zündmaschine laden."

Klaus Pöhl dreht eine mechanische Kurbel und lädt so Spannung auf die Zündmaschine.

"Achtung! Drei, zwo, eins, Zündung!"

Mit einem Knopfdruck hat Klaus Pöhl die Explosionen ausgelöst. Von Mal zu Mal werden die lauter. Selbst im 300 Meter entfernten Sprengraum erzittern die Wände.

Insgesamt 21 Mal knallt es – dann sind alle Patronen, Granaten und Bomben zerstört. Kurz, nachdem der letzte Knall verklungen ist, hebt Klaus Pöhl den Sperrkreis auf. Auf dem Sprengfeld selbst sind nur noch Krater zu sehen: Und bereits der Weg dorthin ist mit Sand und Splittern bedeckt. Vor einem Krater auf dem Sprengfeld liegen die Hälften einer Panzergranate.

"Optimal! Zwei große Teile, die können wir einsammeln, die werden recycelt, die gehen in Schrott."

Alles, was von den Granaten, Patronen und Bomben übrig geblieben ist, wandert ins Altmetall. Ein nicht enden wollender Kreislauf beginnt von vorne: Denn die Suche nach den Blindgängern ist noch lange nicht zu Ende. Immer neue Luftbilder tauchen auf, werden abgeglichen. In den nächsten Wochen rücken Kampfmittelräumdienste bundesweit erneut aus, suchen nach den Kriegsaltlasten. Der Zweite Weltkrieg wirft weiter seine Schatten.