Exzessiver Leistungssport in der Freizeit

Trainieren – bis der Arzt kommt

Sport ist gut - aber ist viel Sport besser?
Sport ist gut - aber ist viel Sport besser? © picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Von Elmar Krämer und Ralf Bei der Kellen |
Fast jeder hat sie im Bekanntenkreis - jene sportbegeisterten Menschen, die viele Aspekte ihres Privatlebens dem Training unterordnen. Sport ist gut, aber ist viel Sport auch besser? In den USA kennt man das Phänomen bereits seit den 90er-Jahren als "excercise addiction". Psychologen hierzulande gehen davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung übermäßig Sport treibt.
Das Schlagwort von der Sportsucht macht neuerdings die Runde. Die Ursachen für das exzessive Sporttreiben waren bislang wenig erforscht: Lange ging man von einem Rauschzustand durch vermehrte Endorphin-Produktion aus. Allerdings sind jüngere Menschen häufiger von Sportsucht betroffen. Steckt dahinter auch ein gesellschaftlicher Trend zu einem normierten Schönheitsideal? Oder will man sein Selbstbewusstsein aufwerten?
Ralf bei der Kellen: "Alles fing damit an, dass der Kollege Elmar Krämer und ich einen Termin abmachen wollten, um bei Kaffee oder Wasser über ein Thema für einen längeren gemeinsamen Radiobeitrag zu sprechen. Doch die Kontaktaufnahme gestaltete sich schwierig."
Ralf bei der Kellen spricht auf AB: "Sie sind verbunden mit dem Anrufbeantworter von ... " – "Hallo Elmar, melde dich doch mal wegen unserer Sendung, ich hab da vielleicht ne Idee."
Ralf bei der Kellen liest vor: "Trainiere gerade. Noch 25 Minuten Krafttraining, dann ne Viertelstunde stretchen, melde mich gegen sieben."
Elmar Krämer: "Den Kollegen Ralf Bei der Kellen zu erreichen ist aber auch nicht gerade einfach – oft ist sein Handy ausgeschaltet und zu Hause erreicht man eher seine Tochter als ihn."
Krämers Tochter:"Papa ist gerade im Schwimmbad, der ist so in zwei Stunden wieder da. Oder drei."
Ralf bei der Kellen: "Fakt ist: Wir verbringen beide einen nicht unerheblichen Teil unseres Lebens mit Sport – zumindest soviel, dass berufliche und soziale Kontakte dadurch gelegentlich eingeschränkt werden."
Elmar Krämer: "Fakt ist auch, dass wir uns ein Leben ohne Sport nicht vorstellen können. Egal ob es die regelmäßigen Bahnen im Schwimmbad sind, oder mein Fitnesstraining und Stretching im eigenen Wohnzimmer."
Ralf bei der Kellen: "Natürlich haben wir unsere – sehr guten – Gründe: Ich zum Beispiel bekämpfe mit dem Schwimmen Rückenprobleme, auch der Tinnitus meldet sich bei ausreichend Sport nicht."

Training als fester Bestandteil des Lebens

Elmar Krämer: "Fast 30 Jahre hab ich Karate trainiert, zwei bis drei Mal in der Woche. Das Training war ein integrativer Bestandteil meines Lebens. Dann machten die Gelenke Probleme. Ich merkte jedoch schnell: Ohne Sport geht es trotzdem nicht. Seit ich gezielte Kraft- und Dehnübungen mache, sind die Schmerzen weniger geworden."
Ralf bei der Kellen: "Da ist es ja fast nebensächlich, dass man sich auch noch mental wohler fühlt, wenn man seinen Körper nach dem Sport besser spürt. Von der gezähmten Gewichtszunahme ganz zu schweigen."
Elmar Krämer: "Und ganz nebenbei: Ich denke, jeder, der Sport treibt und behauptet, nicht auch mal im Spiegel den Zustand seiner Muskulatur zu überprüfen, lügt."
Ralf bei der Kellen: "Wie dem auch sei, aber: Trotz aller positiven Effekte stand eines Tages die Frage im Raum."
Elmar Krämer: "Sag mal…"
Ralf bei der Kellen: "Ja, also, sag du doch mal…"
Elmar Krämer: "Sind wir ... "
Ralf bei der Kellen: "Ja, sind wir vielleicht eigentlich ..."
Elmar Krämer: "…vielleicht nicht doch schon, ähhh,…"
Ralf bei der Kellen: "Ja, ähhh ..."
Elmar Krämer und Ralf bei der Kellen: "Sportsüchtig?"
Gibt man den Begriff "Sportsucht" bei Google ein, bekommt man – immerhin – circa 40.000 Einträge. Auch Wikipedia kennt das Phänomen – allerdings unter der Bezeichnung "Exzessives Sporttreiben":
Bei exzessivem Sporttreiben (pathologisches Sporttreiben, umgangssprachlich auch Sportsucht oder Fitnesssucht) handelt es sich um eine zumeist nichtstoffliche Abhängigkeit, die unter den Oberbegriff "Substanzungebundene Abhängigkeit" fällt.
Der in der internationalen Forschung gebräuchliche Begriff ist "excercise addiction", im deutschen Sprachraum hat sich das Schlagwort von der "Sportsucht" etabliert. Dass vor allem dieser Begriff so viel Aufmerksamkeit erregt, liegt nicht zuletzt auch daran, dass er als Paradoxon wahrgenommen wird: Wie kann eine Sache, die allgemein für gut befunden wird und der Gesundheit doch eher zuträglich ist, "süchtig" machen, also zu etwas Negativem werden?

Der Jogging-Boom der 1970er

Zu Beginn der 1970er-Jahre erlebte das Laufen einen Boom – zunächst in den USA, dann auch schnell in Europa. Es wurde gejoggt, was das Zeug hielt. Triathlon-Wettbewerbe erfreuten sich plötzlich eines immensen Zulaufs, 1978 startete der erste Ironman auf Hawaii.
Eine junge Frau beim Marathon in Berlin.
Eine junge Frau beim Marathon in Berlin.© dpa / picture alliance / Rolf Kremming
Mediziner und Psychologen in den USA beobachteten diese Bewegung und begannen, die Motive der Teilnehmer zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang kam Mitte der 1970er-Jahre erstmals der Begriff "exercise addiction" auf. 1976 veröffentlicht der Psychiater William Glasser das Buch "Positive Addiction" – "Positive Abhängigkeit". 1979 legt W.P. Morgan einen vielbeachtete Studie vor. Der Titel: "Negative Addiction in Runners" – "Negative Abhängigkeit bei Läufern".
Thomas Schack: "Morgan hat eben dann ganz gut deutlich gemacht, dass eben das sicherlich viele positive Aspekte beinhaltet, aber eben auch zwanghafte Komponenten letztendlich hervorbringen kann – und eben auch, dass verschiedene Personen Entzugserscheinungen erleiden und aufgrund dieser Entzugserscheinungen Sport treiben und nicht bloß, weil sie diese positiven Erfahrungen machen wollen."
Thomas Schack ist Professor für Neurokognition und Bewegung an der Universität Bielefeld. Die amerikanischen Forscher hatten festgestellt, dass Läufer und Triathleten, die durch Verletzungen, Krankheiten oder andere Gründe Trainingsabstinenz halten mussten, zu Gereiztheit und Aggressivität neigten. Zudem trainierten einige von Ihnen trotz eines ärztlichen Verbotes weiter und gefährdeten sich damit teilweise akut. Begriffe wie "runner's high" oder "second wind" tauchten auf, die auf einen rauschähnlichen Zustand bei den Ausdauersportlern hinwiesen.
Oliver Stoll: "So eine richtige systematische, empirische Forschung gibt's erst seit, naja, über den Daumen gepeilt, zehn Jahren. In Deutschland vielleicht seit sechs, sieben Jahren."
Professor Oliver Stoll von der Universität Halle. Seine Schwerpunkte sind Sportpsychologie und Sportpädagogik. Seit Jahren betreut er auch Profisportler psychologisch. Der Wissenschaftler unterscheidet zwischen der primären und der sekundären Sportsucht. Letztere tritt zusammen mit einer Magersucht oder Bulimie auf:
"Das finden Sie bei jeder vierten essgestörten Patientin, dass die eben gleichzeitig exzessiv Sport treibt, damit sie möglichst viel Kalorien verbrennt. Und die kommt weitaus häufiger vor als die primäre Sportsucht, die so ein bisschen unser Forschungsthema in den letzten Jahren war. Da geht's dann um das reine exzessive Sporttreiben mit Suchtcharakter."
Primär Sportsüchtige gebe es nur sehr wenige, sagt Oliver Stoll, dessen Forscherteam 2013 eine Studie mit knapp 1100 Sportlern zwischen 18 und 79 Jahren durchgeführt hat. Es ist eine der wenigen Untersuchungen, die es auf diesem Gebiet bislang gibt. In erster Linie sind es Ausdauersportler, die von dem Phänomen betroffen sind. Es wird vermutet, dass ca. 3-4 Prozent Gefahr laufen, ernsthaft an Sportsucht zu erkranken. Oliver Stoll geht davon aus, dass die Zahl der wirklich Süchtigen letztlich auf weit unter ein Prozent rutscht. Was auch ein Grund ist, warum das Phänomen bis heute wenig bis kaum erforscht ist.
Trotzdem findet es zunehmend mehr Beachtung – in der Forschungslandschaft und in den Medien.
"Trainieren bis zum Umfallen"
"Der lange Lauf in die Abhängigkeit"
"Wenn trainieren zur Krankheit wird"
"Joggen ohne Grenzen"
"Sportsucht macht aus gesundem Hobby eine ernste Gefahr!"
"Verschleiß und Vereinsamung"
"Laufen, bis es wehtut"
"Zuviel des Gesunden"
"Wenn Bewegung zur Droge wird"

Wo beginnt das Suchtverhalten?

Die Sportsucht zu definieren ist schwierig. Eine eigenständige Diagnose gibt es derzeit nicht, Fragen und Anhaltspunkte aber viele: Ist man schon süchtig, wenn man zwei- bis dreimal in der Woche trainiert und unleidlich wird, wenn etwas dazwischen kommt? Oder beginnt die Sucht erst dort, wo man gegen besseres Wissen auch bei deutlichen Signalen des Körpers, bei Schmerz, Erkältung, Schlaflosigkeit u.ä. weitertrainiert? Oder, wenn der Freundeskreis ausgetauscht wird und man sich nur noch mit Gleichgesinnten umgibt, weil man mit ihnen besser über Trainingspläne, Ernährung und Ausrüstung sprechen kann?
Ingo Froböse: "Wenn das Verhalten die Person bestimmt und nicht mehr die Person das Verhalten – ich glaube, dann ist das ganz entscheidend. Das bedeutet also: Wenn die Pflicht, Sport treiben zu müssen, dazu führt, dass ich alle anderen Dinge vernachlässige: Meine Familie, meine Freunde – mein Leben letztendlich nur danach ausrichte, dass Sport getrieben werden kann, dann ist es Sucht."
Professor Ingo Froböse leitet das "Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung" der Deutschen Sporthochschule Köln. Erste Anhaltspunkte für eine Sportsucht sind für ihn leicht auszumachen:
"Natürlich ist es so, dass man erste Anzeichen dann hat, wenn man Schlaflosigkeit bekommt, wenn man Unruhe bekommt und ich kenne einige Menschen, mit denen wir gearbeitet haben, die, wenn sie einen Tag nicht trainiert haben, richtig körperliche Entzugserscheinungen haben. Die äußern sich beispielsweise, wie ich gerade schon mal beschrieben habe in Unruhe, in Nervosität. Man kommt damit nicht so richtig klar, mit diesem Zustand, der Körper vor allen Dingen auch nicht, das heißt, die Herzfrequenz verändert sich, manchmal schlägt es viel schneller. Also nervös wird man richtig, kribbelig und vor allem die Nachtruhe wird deutlich schlechter."
Elmar Krämer: "Sag mal: Wie oft gehst du eigentlich schwimmen?"
Ralf bei der Kellen: "Drei- bis viermal die Woche? Und wie oft trainierst du?"
Elmar Krämer: "Zwei bis fünf Einheiten die Woche."
Ralf bei der Kellen: "Einheiten?"
Elmar Krämer: "Je nach Muskelgruppen, dauert zwischen 20 Minuten und 1,5 Stunden."
Ralf bei der Kellen: "Aber – du wirst ungehalten, wenn man dich vom Sport abhält, oder?"
Elmar Krämer: ""Na sagen wir mal so: Wenn ich trainiere und das Telefon klingelt, nervt es. Und wenn ich mir vornehme, am Wochenende noch die letzte Einheit zu machen, und dann klappt es nicht, dann bin ich schon unzufrieden.
Ralf bei der Kellen: "Bei mir wirkt das schon wie bisschen eine Droge."
Elmar Krämer: "Soso, ein bisschen?"
Ralf bei der Kellen: "Nun warte doch mal ab – also: Dieses intensive Fühlen des eigenen Körpers – wenn ich das nicht alle zwei, drei Tage kriege, dann hänge ich schon durch. Dann kreisen meine Gedanken immer stärker darum, wo ich mir zwischen Familie und Beruf das nächste Zeitfenster schaffen kann, um Sport zu machen. Und wenn ich kann, steigere ich auch die Dosis ... im Urlaub gehe ich dann jeden Tag. Und du?"
Elmar Krämer: "Ich weiß einfach, wie ich mich nach dem Training fühle. Und wenn ich einen anstrengenden Tag hinter mir habe und dann abgeschlafft auf dem Sofa hänge, dann bin ich unzufrieden. Schaffe ich es aber, den inneren Schweinehund zu überwinden und noch ein bisschen zu trainieren, dann geht es mir deutlich besser. Da fällt mir ein: Früher sprach man doch immer von diesen körpereigenen, glücklich machenden Substanzen – was ist denn jetzt damit?"

Welche Rolle spielen Endorphine?

1973 entdeckten Forscher in den USA und Schweden fast zeitgleich körpereigene Opiate, denen man dann die entrückten Bewusstseinszustände zuschrieb, von denen viele Ausdauersportler berichteten.
"Und ein wesentliches Opiat war dann das sogenannte Beta-Endorphin. Und man hat also zunächst angenommen, dass diese körpereigenen Stoffe eine Hauptmotivation für Personen ist, über diese lange Zeit hinweg Sport zu treiben."
Erklärt Thomas Schack, Professor für Neurokognition an der Universität Bielefeld. In der neueren Forschung sei das aber heftig umstritten, da man zum Beispiel nicht genau feststellen kann, ob Endorphine die Blut-Hirn-Schranke überwinden können.
Computergrafik des menschlichen Gehirns
Die Wirkung von Endorphinen im Gehirn ist in der neueren Forschung umstritten.© imago stock&people/Roger Harris/Science Photo Library
Der Sportwissenschaftler Oliver Stoll nennt es einen Mythos, dass Runners High und Flow-Erfahrungen auf Endorphine zurückzuführen seien, hingegen:
"Beim Endorphin ist es in der Tat so, dass es natürlich eine Wirkung hat auf die Psyche beziehungsweise im Gehirn, aber es ist vor allem eine schmerzlindernde Wirkung, die Endorphin hat."
In den 1990er-Jahren entdeckte man das endogene Cannabinoid-System, ein Teil des Nervensystems. So kamen die körpereigenen Cannabinoide in die Diskussion, denen man ebenfalls schmerzunterdrückende wie auch aufputschende Wirkung zusprach. Es gibt noch andere Erklärungen, die nicht auf einer rein hormonellen Basis beruhen.
Thomas Schack: "Also heute wird das auch eben sehr stark in den Kontext von, ja sage ich mal, psychischen Prozessen gestellt. Und man schaut sich heute stärker an, in welchem Lebenskontext eine solche Person steht, die sportsüchtig ist oder sportsüchtig wird."
Weltweit forschen laut Oliver Stoll nur etwa sechs oder sieben Arbeitsgruppen zu dem Thema. Dazu kommt, dass es nicht viele wirklich Sportsüchtige gibt, weshalb Mediziner keine Notwendigkeit sehen, die Diagnose in die gängigen medizinischen Klassifikationssysteme aufzunehmen. Bislang nimmt man Sportsüchtige einfach in die Kategorie "Sonstige" auf: zum Beispiel "Sonstige Persönlichkeitsstörungen" oder "Sonstige Impuls-Kontroll-Störung".
Oliver Stoll: "Also die Frage stellt sich ja mir: Handelt es sich bei der Sportsucht wirklich um eine Suchterkrankung im ureigentlichen Sinne? Also, so wie man jede Alkoholsucht oder eben stoffgebundene Süchte betrachtet, oder handelt es sich eher um eine Impuls-Kontrollstörung? Also, das, was man eher so bei den Kleptomanen, den Pyromanen und so was kennt. Weil die Symptomatik da sehr gut passt. Die Läufer und Triathleten, mit denen wir gearbeitet haben, beziehungsweise die in unsere Studien eingeflossen sind und vor allen Dingen die, die wir als gefährdet gescreent haben, die berichten eben immer von dieser ansteigenden Spannung, die in ihnen hochkommt. Und die sie nur lösen können, indem sie dann diese Tätigkeit ausführen."
Thomas Schack: "Wenn die Personen in der Lage wären, ihre körperliche Aktivität auf den nächsten Tag um 17 Uhr zu verschieben, wäre oftmals schon viel gewonnen. Sie verspüren aber sehr oft das Bedürfnis, es jetzt sofort zu tun, und sind dann nicht in der Lage, das zu verschieben oder auf einen anderen Tag umzuplanen."

Klare Definitionen fehlen

Da eindeutige Parameter und klare Definitionen fehlen, wird mit den Begriffen Sportsucht, exzessives Sporttreiben oder "ganz normal trainieren" locker hantiert. Und immer kommt es auf die Perspektive des Einzelnen an. Das regelmäßige Sporttreiben, das dem einen völlig normal erscheint, kann den Anderen schon verständnislos den Kopf schütteln lassen.
In den 1980er-Jahren war Sportwissenschaftler Ingo Froböse aktiver Leistungssportler. Als Leichtathlet war die Kurzstrecke seine Disziplin. Mehrfach ging er bei Deutschen Meisterschaften an den Start, bei der Leichtathletik-Halleneuropameisterschaft 1982 in Mailand vertrat er Deutschland.
Einsamer Marathonläufer
So mancher Läufer kennt die Angst, zu wenig trainiert zu haben.© picture alliance / Hinrich Bäsemann
Ingo Froböse kennt die Angst, zu wenig trainiert zu haben. Schon vor seiner Zeit als Leistungssportler war er immer sportlich aktiv – die Laufschuhe hat er nie an den Nagel gehängt:
"Also ich trainiere fünfmal in der Woche, manchmal auch sechsmal in der Woche. Relativ regelmäßig, aufgrund der Zeiteffizienz gehe ich laufen, ziemlich regelmäßig, wie gesagt fünf Mal in der Woche ne Stunde ungefähr und kombiniere es meistens mit Muskeltraining mit dem körpereigenen Gewicht und in den Sommermonaten fahre ich relativ viel Rennrad oder Mountainbike. Aber ich gehe davon aus, ich habe es wirklich noch gut im Griff. Ich toleriere, wenn mein Körper eine Erkältung hat, dass ich es dann nicht mache: Ich toleriere Wetterveränderungen, die es mir fast unmöglich machen und ich toleriere insbesondere auch meine körperliche Leistungsfähigkeit, wenn ich mal etwas schwächele, fahre ich mein Trainingspensum nicht durch, sondern schraube es herunter. Also ich glaube, ich habe es noch im Griff."

Die Reizvokabel der Eigenverantwortung

Eigenverantwortung ist eine der Reizvokabeln in der Diskussion. In der Fitnessszene und vor allem im Ausdauersport gibt es viele Sportler, die sich selbst offen als süchtig bezeichnen, die sich nicht vorstellen können, nicht mehr zu trainieren und für die auch im Urlaub die Laufschuhe und die Sportsachen das Erste sind, was sie in den Koffer packen. Patricia Kusatz ist eine von ihnen. Sie hat immer Sport getrieben, war auch regelmäßig laufen. Als ihr ein Freund einen Zeitchip, mit dem bei offiziellen Veranstaltungen die Zeit gemessen wird, schenkt, intensiviert sie ihr Training:
"2008 bin ich meinen ersten Halbmarathon in Berlin gelaufen und fand das ganz schau und da hat mich die Sucht so ein bisschen gepackt und dann dacht ich so, hm, prima. Und da ging es ja noch, dass man sich so Mai, Juni für den Berlin-Marathon anmeldet. Hab ich mich auch für den Berlin-Marathon angemeldet, alle Welt hat gesagt, die ist ja total bekloppt, wie kann man denn in einer so kurzen Zeit Marathon laufen? Ich bin dann den Berlin-Marathon mitgelaufen und hab den in 3 Stunden 45 geschafft und fand das natürlich ganz toll und dann nahmen die Dinge so seinen Lauf."
In ihrem Bücherregal stehen etliche Bücher übers Laufen, über Marathon, Ultramarathon und Trainingsplanung. Mittlerweile sind die 42 Kilometer für die 46-Jährige nichts Besonderes mehr. Das, was für viele Läufer den Höhepunkt ihrer Karriere darstellt, ist für Patricia Kusatz fast schon alltäglich. In einer Liste schreibt sie alle offiziellen Läufe auf, das Kapitel 2015 ist recht voll:
"Eins, zwei, drei .... 19. Ich muss dazu sagen, da hab ich jetzt mitgezählt. Ich war im März in Ungarn und da gibt es so einen Lauf der nennt sich Supermarathon, der geht um den Balaton rum. Der Balaton ist insgesamt 194 km lang und das ist so ein Etappenlauf, und die Strecke wird in vier Teile geteilt. Das heißt, du läufst jeden Tag so um die 50 km, einmal rundherum. Das heißt, du kommst wieder da an, wo du losgelaufen bist, mit Übernachtungen immer und das habe ich jetzt auch mitgezählt. Und dann kommt zu diesen Läufen noch dazu, das, was du halt so machst. Wenn ich richtig im Training stehe, sechsmal die Woche, meistens um die 20 km. Und gerade wenn man so viel Ultratraining, wo ich in diesem Jahr trainiert hab, bin ich schon jedes Wochenende 40-50 km gelaufen.
Ach, hier das ist die Medaille von den 100 Meilen."

Ein Leben um den Sport gestrickt

Patricia Kusatz strickt ihr Leben um den Sport, Urlaube sind meist mit dem Laufen verbunden, Städtereisen kombiniert sie nach Möglichkeit mit einem Marathon. Freunde sind größtenteils aus der Szene und unterstützen sie bei den großen Wettkämpfen – so wie ihre Freundin Nicole bei den 100 Meilen von Berlin, immerhin rund 162 Kilometer:
"Ohne Nicole auf dem Fahrrad hätte ich es nicht geschafft, spätestens bei Kilometer 100 wäre ich nach Hause gegangen. Ich kann das gar nicht beschreiben – du läufst und stellst dir die Frage wieso, weshalb warum? Und dann wurde es dunkel und das letzte Stück durch Teltow, da bin ich dann tatsächlich auch beim Laufen eingeschlafen so kurzzeitig. Und dann sagte Nicole irgendwann zu mir 'Patricia jetzt komm, ist doch nur noch ein Marathon' und ich so: 'Wie? Weißt du eigentlich wie lang ein Marathon ist?' Und vorher hab ich immer gesagt das ist doch nüscht. Also es war dann wirklich heftig, die letzten 42 km, die waren wirklich so, ich wollte wirklich aufhören. Man kann es gar nicht beschreiben, was da im Kopf vor sich geht. Also du hast wie so einen kleinen Teufel und einen kleinen Engel. Der Teufel sagt immer 'Alles blöd, geh ins Bett, was machst'n hier? Was soll denn das? Du rennst hier durch die Nacht.' Und der Engel sagt immer: 'Los, lauf weiter, lauf weiter, du schaffst es!' Also – es ist phänomenal. Jedenfalls nach 23 Stunden 39 bin ich dann endlich ins Ziel eingelaufen."
Patricia Kusatz erfüllt einige Kriterien, die für eine Sportsucht sprechen, andere hingegen nicht: Körperliche Schäden hat sie noch nicht davongetragen, in ihrem Kühlschrank finden sich nicht nur Nahrungsergänzungspräparate. Die Sportlerin achtet zwar auf ihre Ernährung – aber nur ein bisschen: Sie raucht gelegentlich, greift auch gern zu Süßigkeiten. Und vor allem: Es macht ihr noch Spaß.
Als Fertigungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen, hat sie Führungsverantwortung – und nimmt nicht selten Arbeitsthemen und Probleme mit zum Laufen:
"Also ich denke halt auch viel nach beim Laufen. Ich habe ja Personalverantwortung in der Firma und gerade, wenn es da diesbezüglich Dinge gibt, die man klären muss, oder wenn ich da nach einer Lösung suche – beim Laufen denk ich dann über diese Dinge nach. Ja und da fallen mir oft die besten Lösungen ein und deshalb nehme ich mir einen Zettel und einen Stift mit und schreib mir das dann auf."
Eine Frau läuft am 03.04.2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf einem Laufband.
Viele Freizeitsportler bringt das Laufen auf gute Gedanken.© picture-alliance / dpa / Oliver Berg
Dass Patricia Kusatz während ihres Ausdauersportes noch nachdenken kann, könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass sie nicht sportsüchtig ist. Denn seit Kurzem gibt es einen neuen theoretischen Forschungsansatz von Arne Dietrich, der an der American University of Beirut lehrt. Er geht davon aus, dass während hochintensiver körperlicher Aktivität vor allem die Muskulatur mit Sauerstoff versorgt werden muss. Um das zu gewährleisten, werden alle Areale, die nicht zur Bewegung gebraucht werden, heruntergeregelt – darunter auch der präfrontale Kortex, in dem das Nachdenken und Grübeln stattfindet. Vielleicht lässt diese Betäubung, Ausdauersport für manche Menschen interessant werden – bis hin zur Sucht.

Eine Wette machte den Wissenschaftler zum Läufer

Auch Sportwissenschaftler Oliver Stoll ist als Läufer aktiv. Am Beginn stand bei ihm eine Wette unter Freunden: Wer den ersten Marathon läuft, bekommt einen Kasten Bier. Er gewinnt: 1984 kommt er nach drei Stunden und 37 Minuten durchs Ziel. Und nur vier Jahre später nimmt Oliver Stoll am Ironman-Triathlon auf Hawaii und anderen Extremläufen teil. In einem Buch, in dem er seine Teilnahme am 100-Kilometer-Lauf von Biel schildert, schreibt er rückblickend:
"Eine Zeit in meinem Leben, an die ich mich nicht wirklich gern zurückerinnere. Eine sehr, sehr dunkle Seite des Sports. Ich habe mich damals selbst zerfleischt, wenn ich einen Marathon nicht schneller gelaufen bin als beim letzten Mal. Medaillen landeten im Müll, Urkunden gingen in Flammen auf. Diese so negativen Gefühle, die ich erlebt habe, verbunden mit diesen Niederlagen gegen mich selbst, waren schier unerträglich und dennoch musste ich diese Erfahrung immer wieder und wieder machen."
Oliver Stoll: "Ich würde mich als damals süchtig bezeichnen. Damals hätte ich das nie zugegeben, aber aus meiner Sicht heute, mit dem, was ich weiß, würde ich sagen, dass ich damals in so einer Suchtphase war."
Patricia Kusatz: "Also Laufen ist jetzt mit das Wichtigste in meinem Leben geworden. Und es macht mir halt nach wie vor Spaß, nicht nur die Praxis, sondern auch die Theorie. Sport ist mein Leben."
Patricia Kusatz hat, wie viele Menschen, die derart exzessiv Sport treiben, kein Problem damit, sich selbst als "sportsüchtig" zu bezeichnen. Andere dagegen werden schnell ungehalten, wenn man sie mit dem Begriff konfrontiert. Einige nicht-professionelle Ausdauersportler wollten sich nicht dazu äußern, ob sie sportsüchtig sind. Allerdings hat jeder eine Geschichte zu erzählen über jemanden, der es noch exzessiver betreibt als er oder sie selbst.
Unbestritten: Es gibt sie, die Fälle, in denen Sportler bis zum Zusammenbruch Marathon laufen, immer wieder kommen Herzpatienten bei Laufveranstaltungen ums Leben. Studien belegen: Ein bis zwei Todesfälle auf 100.000 Marathonteilnehmer. Und oft hört man Geschichten von Ausdauersportlern, die vor etwas weglaufen: vor schwierigen Familien- oder Beziehungssituationen, vor unbewältigten Konflikten.
Trotz der Tatsache, dass alle an der Forschung über die Sportsucht Beteiligten von nur wenigen echten Fällen berichten, rückt das Problem immer mehr in den Fokus der Berichterstattung. Viel Wind um wenige Einzelschicksale?
Oliver Stoll: "Ja, also ich denke, das wird medial überbewertet."
Thomas Schack: "Man kann eben auch sagen, dass überhaupt Ausdauersport international in den letzten Jahren stark zugenommen hat und man sich dann eben auch um diese – wenn man es mal so sagen will – negativen Effekte kümmern muss. Und natürlich auch die mediale Aufmerksamkeit, was das Thema Sportsucht angeht, hat in den letzten 15 Jahren sehr stark zugenommen."
Es ist bislang ein Randgruppenthema, aber für Experten wie Thomas Schack steht die Vermutung im Raum, dass es in den kommenden Jahren zu einem gesellschaftlich größeren Thema wird. Immer wieder taucht in der Diskussion der Begriff "Identitätsfindung" auf. Das betrifft vor allem Menschen in sensiblen Lebensphasen:
Thomas Schack: "Wenn man sich die Literatur anschaut, dann macht das jedenfalls so den Eindruck, dass Frauen im Alter von vielleicht 15 bis 25 Jahren doch stärker betroffen sind, bei Männern vielleicht mitunter dann im Kontext, ja, von Neuorientierung in der Arbeit und im Leben, im Alter so zwischen 30 und 50 Jahren. Sodass man also sagen kann, im Kontext von 'Identitätsprozessen' kann das in unterschiedlichen Lebensphasen auftreten.
Und das heißt, wenn jemand bereits sportlich aktiv ist und in Identitätsprobleme hineinrutscht, ist natürlich durchaus denkbar, dass er dann etwa auch in Richtung Sportsucht abgleitet – also einfach versucht, etwas über Sport zu kompensieren, was ihm an anderer Stelle nicht gut gelingt."

Die Gefahr der übertriebenen Selbstoptimierung

Jugendliche wollen sein wie medial präsentierte Stars, Menschen im besten Alter wollen sich und der Gesellschaft beweisen, dass sie ihre Grenzen noch lange nicht erreicht haben, sondern diese immer weiter hinausschieben können. Dadurch wird die Gefahr, es zu übertreiben größer. Stichwort: Selbstoptimierung.
Oliver Stoll: "Also, so eine Selbstoptimierungstendenz sehe ich im Moment auch in dieser unserer Gesellschaft. Ich weiß auch von den Sprüchen, also wie man so sagt: Heute muss jeder einen Marathonlauf im Lebenslauf eigentlich drinstehen haben oder es gehört einfach dazu, wenn man eine Führungsposition sozusagen gerne haben möchte. Da könnte was dran sein. Es gibt keine Forschung dazu also zumindest nicht, dass ich wüsste, aber – es klingt für mich nicht ganz unplausibel."
Elmar Krämer: "Und? Kommt dir das bekannt vor, Kollege? Findest du dich da wieder?"
Ralf bei der Kellen: "Ungerne, aber: ja. Mit Mitte 40 will man schon noch mal gucken, was geht, beziehungsweise: Was noch geht. Und selbst?"
Elmar Krämer: "Ganz ehrlich? Ich denke, die Dosis macht das Gift und deine und meine ist noch längst nicht hoch genug, um als Sucht durchzugehen. Und mir ist es lieber, ich werde kribbelig, wenn ich mal nicht zum Training komme, als wenn ich regelmäßig ein Feierabendbier brauche."
Ralf bei der Kellen: "Ich aber brauche Sport und Feierabendbier."
Elmar Krämer: "Was wir beide jetzt brauchen, ist aber: ein Fazit."
Thomas Schack: "Also, dass man Entzugserscheinungen bekommt, wenn man jetzt zwei, drei Tage nicht gelaufen ist, oder Sport gemacht hat – ich glaube das halte ich beinahe schon wieder für normal. Zumindest wenn ich eine Woche keinen Sport getrieben habe, fühle ich mich auch überhaupt nicht wohl."
Sagt der Neurowissenschaftler Thomas Schack und Sportwissenschaftler Ingo Froböse relativiert:
"Das wäre für mich erstmal, solange der Körper nicht geschädigt wird, das Positive an der Sucht, an dem Bedürfnis, körperlich aktiv zu sein. Da man in der Regel, wenn man es vernünftig macht, keine negativen Konsequenzen daraus resultieren. Und das bedeutet zu anderen Dingen – Zucker, Rauchen, Alkohol – da hab ich eben negative Komponenten, deshalb sind mir die Sportsüchtigen deutlich lieber."
Ralf bei der Kellen: "Na gut. Also beobachten wir uns weiter, aufmerksam. Aber jetzt haben wir die ganze Zeit im Studio gesessen – eigentlich wäre jetzt mal wieder Bewegung dran, oder? Da fällt mir ein: Hast du dein Pensum für heute schon absolviert?"
Elmar Krämer: "Ich hab noch eine Einheit offen – aber weißt du was?"
Ralf bei der Kellen: "Ha – was jetzt wohl kommt?"
Elmar Krämer: "Die lass ich heute einfach mal."
Ralf bei der Kellen: "Na dann!"