Wie die Kaufsucht Menschen in den Ruin treibt
Fünf bis acht Prozent der Erwachsenen in Deutschland gelten als kaufsüchtig. Sieglinde Zimmer-Fiene gehörte fast 25 Jahre dazu - und die Schatten der Vergangenheit liegen bis heute auf ihrem Leben.
"Also am Anfang bin ich schon geschlendert, da fand ich das alles gut, hab die Kinder ja auch inspiriert, guck mal, was es hier alles gibt. Aber zum Schluss, wenn ich dann alleine losgegangen bin, war das wirklich mehr so ne Jagd nach irgendwas. Irgendwo reinzukommen, das noch zu schaffen. Also da war nichts mehr irgendwo gemütlich. Da war das schon suchtgetrieben. Also, ich wäre schon in diesen Bücherladen gegangen. Eigentlich so halt in Boutiquen. So alles, was so jeden Tag mich inspirieren würde. Also in der Hauptsache war's ja die Mode."
Ein Nachmittag in der Fußgängerzone von Hannover. Werbeplakate preisen die neuste Schuhmode an. Ein Bekleidungsgeschäft wirbt mit angeblichen Tiefstpreisen. Aus einer Parfümerie strömen süße Düfte und ein Kaufhaus lockt seine Kunden mit sanfter Musik. Vor ein paar Jahren noch hätte Sieglinde Zimmer-Fiene hier nicht alleine entlanggehen können.
"Mir war es im Prinzip egal, wie teuer das ist, oder meiner Sucht war es egal, wie teuer das ist. Es ging um das Teil, was ich haben wollte, das war das, worum ich gekämpft habe an dem Tag."
Kontrollverlust beim Shopping
Fast 25 Jahre lang war Sieglinde Zimmer-Fiene kaufsüchtig. Sie ging nicht einkaufen, weil sie eine neue Hose, ein Paar Schuhe oder ein bestimmtes Buch brauchte, sondern weil sie einen unstillbaren Drang zum Kaufen verspürte.
"Also zum Schluss bin ich jeden Tag losgegangen in drei, vier, fünf Läden. Also da war mein Tag, auch wenn ich gearbeitet habe, hinterher ausgetickert bis sieben, acht Uhr. Also ich bin nicht zum Stillstand gekommen, weil ich am Tag mindestens so ein so'n Erlebnis haben musste."
Sieglinde Zimmer-Fiene gehörte mit ihrer Sucht zu einer immer größer werdenden Gruppe. Experten schätzen, dass fünf bis acht Prozent der Erwachsenen in Deutschland kaufsüchtig sind. Tendenz steigend. Nach den Tabak-Abhängigen bilden Kaufsüchtige damit die zweitgrößte Gruppe der Süchtigen in Deutschland. Eine der wenigen Psychologinnen, die in Deutschland das pathologische Kaufen erforscht, ist Professor Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule in Hannover.
"Also das Kernsymptom von Kaufsucht besteht darin, dass exzessiv mit einem großen Kontrollverlust beim Einkaufen immer wieder Waren konsumiert werden, die die Menschen entweder überhaupt nicht brauchen, oder in der Anzahl nicht brauchen. Die sie kaufen, um ihre Gefühle zu modulieren, also wenn sie sich langweilen, wenn sie traurig sind, dass sie sich davon ablenken können. Das heißt es geht also nicht primär darum, etwas zu erwerben, um es hinterher auch nachhaltig zu benutzen, sondern es geht um den Kaufmoment an sich."
Kaufsucht ist keine neumodische Erscheinung. Schon vor mehr als 100 Jahren haben Psychiater den Zwang zum Einkaufen bei einigen Patienten festgestellt. Doch richtig ernstgenommen wurde das Phänomen jahrzehntelang nicht. Einkaufen – das macht doch eigentlich jedem Spaß! Aber wann wird aus jemandem, der gerne einkauft, ein Kaufsüchtiger?
"Also die Patienten erzählen mir, dass sie einen Großteil der Waren nie auspacken, dass sie noch mit Preisschildern versehen in ihren Schränken, in Kisten, unterm Bett, im Keller, in der Garage irgendwo lagern, dass sie sie also horten sozusagen, das machen zwei Drittel der Patienten. Und wenn ich trotzdem nicht aufhören kann zu kaufen, obwohl ich irgendwann schon finanzielle Probleme hab, meine Miete nicht mehr zahlen kann, meine Privatschulden bei meiner besten Freundin nicht zurückzahlen kann, dass ich, sobald ich Geld in der Hand habe das ausgeben muss für irgendetwas, was nicht unbedingt dringend notwendig ist in dem Moment, dann läuft das in so ne Richtung Kaufsucht."
Dabei ist Einkaufen eigentlich eine tolle Sache. So jedenfalls wird es uns von der Werbung und den Medien suggeriert. Wer einkaufen kann, ist erfolgreich. Angeblich können wir uns sogar glücklich kaufen. Die Binnennachfrage in Deutschland steigt seit Jahren. Die Kaufsucht ist die dunkle und deutlich weniger beachtete Seite dieses Phänomens.
Viele zehntausend Euro Schulden
Sieglinde Zimmer-Fiene kauft jahrelang maßlos ein, macht viele zehntausend Euro Schulden. Sie steht mehrfach wegen Betrugs vor Gericht und sitzt am Ende acht Jahre in der Forensischen Psychiatrie ein. Begonnen – das sagt die heute 60-Jährige im Rückblick selbst – hat alles in ihrer Jugend.
"Also, ich habe beim Rechtsanwalt gelernt und damals gab es halt wenig Geld, das waren 50 Euro im ersten Lehrjahr und ich hab natürlich dann angefangen am Tage so in der Stadt zu sein und mir so Dinge zu kaufen. Hört sich jetzt vielleicht doof an, ist ja jetzt auch fast 30 Jahre, 40 Jahre her, so ne Strumpfhose, ne schöne, die eben nicht so aussieht: mokkabraun, so wie die Älteren das anhatten, sondern so'n Beigeton hatten, die halt 'n bisschen teurer war. Also, das sind so meine Momente, die ich weiß und in ner Mittagspause so Bananenmilch getrunken habe mit denen, die da gelernt haben und das war dann halt jeden Mittag und ich bin mit meinem Geld nicht ausgekommen und meine Mutter hat mir damals halt das Geld dann zugesteckt, also wenn ich’s nicht hatte, war so: Ja gut, ich geb dir was."
Zimmer-Fiene heiratet mit 20 Jahren und bekommt mit ihrem Mann zwei Töchter. Wenige Jahre später erkrankt ihr Partner an einem Hirntumor und muss für lange Zeit ins Krankenhaus, weit weg vom Wohnort der Familie. Zimmer-Fiene gibt ihren Beruf vorübergehend auf und mietet sich in einer Pension in seiner Nähe ein. Die Kinder lässt sie bei ihren Eltern. Nur am Wochenende fährt sie heim. In dieser Zeit beginnt sie immer mehr einzukaufen: Handtücher und Trainingsanzüge für ihren Mann, Spielzeug für die Kinder, Kleidung und Essen für sich selbst. Sie leiht sich Geld von ihren Eltern und von der Bank. Ganz langsam häufen sich erste Schulden an.
"Und ich hab lange gedacht: Das krieg ich wieder hin. Ich krieg es hin, das krieg ich in Griff. Wenn am Ersten das Geld kommt, dann gleiche ich die Konten aus, ich gebe meinen Eltern ihr Geld zurück."
Nach langem Klinikaufenthalt stirb Zimmer-Fienes Mann. Die junge Frau trauert und fühlt sich überfordert von der Verantwortung für ihre Kinder, die sie nun alleine trägt. Noch häufiger als zuvor geht sie jetzt einkaufen.
"Ich hab jemanden verloren, was so mir das Herz so zur Hälfte rausgerissen hat. Also mir fehlte dieser Teil und das hab ich irgendwo versucht, ja, mit dem, was ich gekauft habe, irgendwo wieder heile zu machen."
Viele Patienten haben Probleme mit dem Selbstwert
Welche Ereignisse oder Faktoren dazu führen, dass jemand kaufsüchtig wird, haben Wissenschaftler noch nicht abschließend erforscht. Dass sie wie Sieglinde Zimmer-Fiene versuchen, mit dem Gekauften traumatische Ereignisse zu übertünchen und ein schwindendes Selbstwertgefühl zu kaschieren, hat Professor Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule Hannover jedoch schon häufig beobachtet.
"Was wir aber so sagen können im Querschnitt von unseren Patienten, ist, dass wir bei fast allen Patienten Selbstwertprobleme finden, ne erhöhte Depressivität, ne erhöhte Ängstlichkeit, vor allem verbunden mit sozialen Ängsten. Starken Hang zum Perfektionismus, stark ausgeprägte materielle Wertevorstellungen, also materielle Werte sind ganz zentral im eigenen Leben, ich bewerte mich und andere Menschen häufig auch nach dem, was sie besitzen. Was diese Menschen haben, das sind wichtige Dinge, bestimmte Persönlichkeitsstrukturen, also auch hier sowas Perfektionistisches, sehr impulsives, das sind so Dinge, die ganz sicherlich dazu beitragen."
Einkaufen ist das einzige, was Sieglinde Zimmer-Fiene nach dem Tod ihres Mannes noch ein gutes Gefühl verschafft.
"Wie ein Orgasmus. Dass der Körper rauscht und es ist toll, Dir wird warm. Es ist super. Und du freust Dich richtig. Du bist stolz auf dieses Teil, du fährst nach Hause. Du hast das. Und dieses Tolle, wenn Du halt anfängst zu kaufen, das flacht ab. Du kriegst diese Gefühle nicht wieder. Aber Du rennst hinter diesem Gefühl irgendwann hinterher und Du meinst, das kommt auch irgendwo wieder."
Mit der Zeit merkt ihr Umfeld, dass etwas nicht stimmt.
"Und meine Mutter sagte immer: Du läufst rum wie Lady Di. Und das fand ich dann immer: Ah, wie kommste denn darauf."
Gleichzeitig bekommt sie für ihr Aussehen aber auch Komplimente.
"Und dann war natürlich auch: Tolle Sachen hast Du und das sieht ja toll aus und wo hast'n das her?"
Sie kauft auch für Freunde und Verwandte ein
Es ist dieser Zuspruch, in dem sie sich sonnt und der ihr einen Teil ihres Selbstwertgefühls zurückgibt. Zimmer-Fiene kauft nicht nur für sich selbst ein, sondern auch für ihre Kinder, für Freunde und Verwandte. Für Geschenke gibt sie mehr Geld aus, als vereinbart. Sie will sich selbst und alle um sich herum glücklich machen – koste es, was es wolle. Gleichzeitig wird ihr immer bewusster, dass ihr Einkaufsverhalten nicht normal ist.
"Aber ich bin auch zwei Jahre später bin ich eigentlich schon von mir aus zum Therapeuten gegangen und habe gesagt: Ich geh immer los und irgendwo habe ich das Gefühl, ich muss kaufen und ich kann das nicht abstellen. Und dann bin ich in ne Klinik gegangen und von allen Seiten hörte ich: Ach, das ist vom Tod Ihres Mannes, Sie trauern, das wird schon wieder. Und dann habe ich gedacht: Na gut, die müssen das ja irgendwie wissen, die werden das irgendwo schon so meinen, wie sie das sagen. Und so ist das Ganze noch mehr ausgerudert."
Jahrzehntelang wurde die Kaufsucht auch von Medizinern entweder gar nicht erst erkannt, oder nur milde belächelt. Nadja Tahmassebi ist psychologische Psychotherapeutin und leitet an der Salus Klinik im hessischen Friedrichsdorf eine Station, auf der seit knapp sechs Jahren auch Kaufsüchtige behandelt werden. Heute besucht sie eine Konferenz in Hannover und steht jetzt in der Lobby eines Hotels. Tahmassebi beobachtet, dass Kaufsucht von Medizinern und Wissenschaftlern inzwischen sehr ernst genommen wird.
"Ja, ich finde das verändert sich. Am Anfang gab es relativ wenig Artikel auch dazu, also relativ wenig wissenschaftliche Artikel. Das hat sich jetzt verändert, das ist ein Bereich, der zunehmend erforscht wird und der auch von den Kliniken zunehmend aufgenommen wird."
In den 80er und 90er Jahren, als Sieglinde Zimmer-Fiene unter Kaufsucht litt, war das Phänomen noch unbekannt und weitgehend unerforscht.
"Ich bin auch nur noch durch die Städte gerannt, ich war wie ne Getriebene. Das war morgens wenns Geschäft aufmacht, war ich die Erste, manchmal nicht zu wissen, was ich überhaupt will. Sondern reinzugehen, da hat irgendwas auf mich reagiert und hat geschrien: Nimm mich und dieses, was das Schlimmste an der Sache ist, das ist, dass man die Preise ausblenden kann. Also man geht ja immer höher und es wird ja immer besser und die Marken werden besser, aber Du siehst nicht mehr 400 DM, 400 Euro als Wert des Geldes, sondern es geht um das Teil, es geht um das Buch, es geht um genau das, das muss ich jetzt haben. Da rauszugehen und das nicht zu kriegen war, als ob dich irgendeiner auf den Scheiterhaufen stellt. Du bist ein Versager, Du kriegst das jetzt nicht.
Ich sterbe, wenn ich das jetzt nicht kriege.
Und dann gehste ausm Geschäft: Ach, das will ich überhaupt nicht. Was mach ich jetzt? Aber Du gehst nicht zurück. Ich konnte nicht mehr die Tür aufmachen, reingehen und sagen: Wissen Sie was? Behalten Sie doch alles."
Die Rechnungen in Blumenvasen versteckt
Zu ihren Hochzeiten fährt sie an manchen Tagen Waren im Wert von mehreren tausend D-Mark in ihrem Kofferraum nach Hause. Die Tüten trägt sie häufig erst nachts ins Haus, wenn ihre Kinder schlafen. Die Rechnungen versteckt Zimmer-Fiene in Blumenvasen und Schubladen. Immer wieder nimmt sie sich vor am nächsten Tag nicht mehr einzukaufen – und kann dann doch nicht anders, als wieder und wieder loszugehen.
Häufig bestellt sie in Versandhäusern. Als sie die Rechnungen nicht mehr bezahlt und deshalb keine Waren mehr bekommt, ordert sie die Sachen auf die Namen ihrer Töchter. Ihr Verderben aber ist, dass sie zu einer Zeit kaufsüchtig wird, in der Stammkundinnen unbezahlte Waren zur Auswahl mit nach Hause nehmen dürfen. Immer häufiger bringt sie die Sachen nicht zurück – bezahlt sie aber auch nicht.
"Und dann kam irgendwann ja '94 halt der Tag, wo ich morgens die Kinder zur Schule geschickt habe. Naja, und an diesem Tag klingelte es und da standen zwei Polizisten vor der Tür, die dann meinten: Wir müssen Sie jetzt leider mitnehmen, weil: Hier sind so und so viel Anzeigen, das heißt jetzt: Unterbringungsbefehl. Und ich: Wie? Festnahme? Nein, Unterbringungsbefehl ist was anderes, Sie kommen jetzt nicht ins Gefängnis, Sie kommen jetzt in die Psychiatrie, also Forensik."
65 Ladeninhaber und Kaufhausketten haben Sieglinde Zimmer-Fiene im Laufe der Zeit angezeigt, weil sie Waren nicht zurückgebracht und Rechnungen nicht bezahlt hat. Insgesamt – so wird später festgestellt werden – belaufen sich ihre Schulden zu diesem Zeitpunkt auf mindestens 65.000 DM.
Zwei Wochen darf sie ihre Kinder nicht sehen, nach vier Wochen erst weiteren Besuch empfangen. In einem Gerichtsprozess wird sie schließlich wegen Betrugs zu drei Jahren Unterbringung in der Forensischen Psychiatrie verurteilt, da ist sie 39 Jahre alt. Sie muss nicht ins Gefängnis, weil ein Gutachter sie auf Grund ihres Kaufzwangs für vermindert schuldfähig hält. Eine darauf abgestimmte Therapie erhält sie nicht.
Die Ursachen der Sucht sind noch nicht erforscht
Die Hannoveraner Anwältin Tanja Brettschneider vertritt seit 15 Jahren immer wieder Kaufsüchtige vor Gericht, die wie Sieglinde Zimmer-Fiene auf Grund ihrer Sucht mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Wie sie den Betroffenen helfen kann, hängt vom Einzelfall ab.
"Also wenn Leute zum Beispiel erstmalig mit einem Problem kommen und ein Ermittlungsverfahren läuft gegen sie, dann kann man den Betroffenen raten, Schadenswiedergutmachung zu leisten, das heißt an den Geschädigten – meistens ja irgendein Kaufhaus oder eine Firma – in Raten zumindest das abzubezahlen, oder man kann dann auch weiterhin raten, sich in Therapie zu begeben und kann da ein bisschen unterstützend arbeiten. Das wird dann auch positiv vor Gericht gesehen, das ist ein Strafminderungsgrund, wenn man den Schaden wieder gutgemacht hat."
Automatisch als strafmildernd wird eine Kaufsucht vor Gericht jedoch nicht anerkannt: Da die Ursachen der Sucht noch nicht ausreichend erforscht sind, ist die Kaufsucht bislang nicht als Krankheit anerkannt und nicht in die sogenannten "Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme", kurz ICD, aufgeführt. In diesem Verzeichnis, das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird, sind alle anerkannten Krankheiten erfasst. Nadja Tahmassebi von der Salus-Klinik in Friedrichsdorf geht davon aus, dass es noch viele Jahre dauert, bis auch die Kaufsucht darin stehen wird.
"Naja ich rechne damit, dass das sozusagen nicht vor zehn Jahren passiert. Also weil die Forschung einfach relativ lange braucht."
Für Sieglinde Zimmer-Fiene spielen all diese Überlegungen noch keine Rolle, als sie Mitte der 90er zu drei Jahren Unterbringung in der forensischen Psychiatrie verurteilt wird. Denn keiner ihrer Psychiater nimmt richtig wahr, dass sie unter einer ausgeprägten Kaufsucht leidet. Behandelt wird sie mit einer Familientherapie.
Als die drei Jahre, zu denen sie verurteilt wurde, vorbei sind, wird Sieglinde Zimmer-Fiene trotzdem nicht entlassen. Ein Richter entscheidet in einem Begutachtungstermin, dass sie noch immer gefährlich für die Allgemeinheit sei. Immerhin werden ihre Unterbringungsbedingungen gelockert: Alle zwei Wochen darf sie jetzt am Wochenende nach Hause zu ihren Kindern. Während der Woche darf sie die Forensik verlassen, um ihren Beruf auszuüben. Zimmer-Fiene arbeitet zu diesem Zeitpunkt als Sekretärin bei der Bundeswehr. Dass sie in ihren Job zurückkehren darf, gilt als Therapiemaßnahme.
Jahrelang mit dem Problem gekämpft
Doch dieses neu gewonnene Stückchen Freiheit wird für sie schnell zur Falle: Wann immer sie die Möglichkeit hat, kauft sie jetzt wieder ein, bestellt Waren im Katalog, ohne sie zu bezahlen. Parallel zu ihrem Aufenthalt in der Forensik gibt es deshalb neue Anzeigen gegen sie. Beim alljährlichen Begutachtungstermin entscheidet der Richter immer wieder, dass Zimmer-Fiene auf Grund der neuen Vorfälle noch nicht entlassen werden kann. Insgesamt sitzt sie schließlich acht Jahre in der Forensik. Zusammen mit Mördern, Kinderschändern und Vergewaltigern. Und als eine von wenigen Frauen.
"Zum Schluss war es so, dass meine Familie mir nicht mehr geglaubt hat, dass ich wegen Kaufsucht, Betrug da drin war. Sie haben gedacht, da geht keiner wegen Kaufsucht rein. Die Mitpatienten haben gedacht: Da muss doch ein Mord passiert sein, die muss doch einen umgebracht haben. Sonst bleibt hier keiner acht Jahre drin."
Mark Schmidt-Medvedev leitet im Auftrag der Stadt Hamburg die Schuldnerberatung afg worknet und hat regelmäßig mit kaufsüchtigen Klienten zu tun.
"Wir haben so im Jahr zehn schwere Fälle, Tendenz steigend in den letzten drei Jahren. Das Thema ist schon auch sehr präsent, ist jetzt nicht das Hauptthema glücklicherweise, weil Kaufsucht und Spielsucht, das sind so die schwierigsten Klientel, die wir in der Schuldnerberatung haben."
Die meisten Menschen harren sehr lange aus und versuchen, ihre Sorgen zu verdrängen, bevor sie sich Hilfe in einer Schuldnerberatung suchen. Durchschnittlich sieben Jahre kämpfen sie schon mit ihrem Problem, bevor sie sich an Schmidt-Medvedev und seine Kollegen wenden. Viele kommen erst, wenn existenzielle Dinge wie ihre Wohnung auf dem Spiel stehen.
Kaufsüchtige wissen zu Beginn der Beratung oft gar nicht, dass sie krank sind. Wie viele Alkohol- oder Drogensüchtige auch, schämen sie sich für ihr moralisches Fehlverhalten. Die Diagnose kann ihnen einen Teil dieser Schuldgefühle nehmen.
Obwohl Schmidt-Medvedev kein Therapeut ist, hat er durch seine jahrelange Erfahrung einen Blick dafür, ob jemand auf Grund einer Kaufsucht Schulden macht.
"Und dann sprechen wir mit den Klienten und sagen auch ganz offen: Wir vermuten hier eine Suchtproblematik, wie stehen Sie dazu, was sagen Sie dazu? Viele sind dann geschockt. Ich hab’s bisher nicht erlebt, dass jemand gesagt hat: Ich gehe jetzt, das stimmt nicht oder so. Weil wir auch immer sagen: Wir haben die Vermutung, wie stehen Sie dazu. Und viele sind dann einfach froh, dass das angesprochen wird."
Die durchschnittliche Schuldensumme eines Klienten lag in der Schuldnerberatung von Mark Schmidt-Medvedev im vergangenen Jahr bei 32.608 Euro. Diese Zahl ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn die Bandbreite der Schulden reicht von ein- oder zweitausend Euro bis zu Summen in Millionenhöhe. Die meisten Menschen, die zu ihm in die Beratung kommen, wissen jedoch gar nicht, wie hoch ihre Schulden tatsächlich sind.
Einen Entschuldungsplan erarbeiten
Grund dafür, so vermutet Schmidt-Medvedev, ist eine psychologische Hürde: Viele Klienten haben Angst davor zu hören, wie hoch ihre Gesamtschulden sind.
Sehen die Klienten ein, dass sie möglicherweise kaufsüchtig sind, trifft Schmidt-Medvedev mit ihnen eine Abmachung: Der Klient lässt sich von einem Therapeuten beraten oder sucht sich eine Selbsthilfegruppe. Und Schmidt-Medvedev fertigt im Gegenzug eine Aufstellung über die Schulden an, prüft jede einzelne Forderung und kontaktiert die Gläubiger.
"Das heißt, wir nehmen ihnen erstmal unheimlich viel Arbeit ab und auch viel Druck, manche Gläubiger sind tatsächlich auch dann, dass sie sagen: Okay, wir haben Verständnis, wir buchen das aus. Das passiert uns auch. Ist selten, aber gibt's auch."
Zusammen mit seinem Klienten erarbeitet Mark Schmidt-Medvedev dann einen Entschuldungsplan: Dazu überlegen sie gemeinsam, welchen Betrag seiner Schulden der Betroffene monatlich abzahlen kann. Für manche kommt eine Privatinsolvenz in Frage. Bei Kaufsüchtigen ist das jedoch fast nie der Fall. Denn dieses spezielle Insolvenzverfahren für Privatpersonen kann nur beantragt werden, wenn die Schulden nicht in Zusammenhang mit einer Straftat entstanden sind. Da Kaufsüchtige häufig Betrug begehen und beispielsweise – wie Sieglinde Zimmer-Fiene – unter falschem Namen Waren bestellen oder Waren nicht bezahlen, ist eine Privatinsolvenz in diesen Fällen ausgeschlossen.
Nach acht Jahren wird Sieglinde Zimmer-Fiene schließlich aus der forensischen Psychiatrie entlassen. Nicht, weil sie nicht mehr einkauft, sondern weil ihre Anwältin auf Unverhältnismäßigkeit plädiert: Sie hält es nicht für gerechtfertigt, jemanden wegen massiver Kaufeskapaden ähnlich zu bestrafen wie Mörder und Vergewaltiger.
"Als die mich dann rausgelassen hatten, bin ich in mein Auto gestiegen, habe die Sonnenbrille aufgesetzt, bin 220 Kilometer gefahren und habe nur geheult und im Radio lief als erstes: 'Please, forgive me' und ich weiß jetzt überhaupt nicht, wem ich vergeben soll und was ich vergeben soll. Also ich bin in so'n richtigen Heulfluss reingekommen und hab mir diese acht Jahre und dieses ungerechte, dieses dass dann einer singt: Please forgive me, ich gedacht habe, ich spinne doch jetzt wohl nicht."
"Wie eine Blase, die aufgetuckt wurde"
Geheilt von ihrer Sucht ist Sieglinde Zimmer-Fiene noch lange nicht. In all den Jahren in der Forensik, so erzählt sie es, hat nie ein Therapeut mit ihr über die Kaufsucht gesprochen. Ihre Kinder haben den Kontakt abgebrochen. Als ihre älteste Tochter heiratet, wird Zimmer-Fiene nicht eingeladen. Sie weiß nicht, wie ihr Leben in Freiheit weitergehen soll.
"Ich konnt mich am Anfang nicht darüber freuen. Ich habe wirklich paar Wochen im Bett gelegen und wollte nicht mehr aufstehen. Eigentlich war mir der Tod in der Zeit näher, gedanklich, als weiterzuleben. Ich hab schon so oft auf den Gleisen gestanden, ich wusste, wann die Züge fahren. Ich hab mir Vorstellungen gemacht: Wenn ich nicht mehr bin, geht’s allen besser."
Eine Bekannte von Sieglinde Zimmer-Fiene arbeitet zu diesem Zeitpunkt als Reporterin bei der Lokalzeitung. Sie hat ihre Geschichte und die Gerichtsprozesse mitverfolgt. Jetzt berichtet sie mit Zimmer-Fienes Einverständnis über deren Zeit in der Forensik. Kurz nachdem der Artikel erschienen ist, meldet sich die Mitarbeiterin einer Selbsthilfeorganisation bei ihr. Sie fragt, ob Zimmer-Fiene sich vorstellen könne, eine Selbsthilfegruppe für Kaufsüchtige zu leiten. Sie kann. Wenige Wochen später meldet sich die erste Betroffene.
"Ja, und wir haben erzählt und irgendwo kam aus beiden Mündern das Gleiche raus: Du auch? So hast Du auch empfunden? So ist das bei Dir auch abgegangen? Und das war so: Hä? Wie so ne Blase, die aufgetuckt wurde, dass so da zwei sitzen und nee ehrlich? Und da hab ich gedacht: Ey, das ist wie so'n Zauber. Das kann jetzt nicht sein. Jahrelang glaubt dir kein Mensch und es hat auch nie irgendeiner jemals gesagt, ich glaub Ihnen oder so, ne?"
Nach acht Jahren Forensik, unzähligen Anhörungen und Gerichtsprozessen trifft Sieglinde Zimmer-Fiene zum ersten Mal in ihrem Leben jemanden, der sie wirklich versteht. Das ist im Jahr 2002. Damals ist sie 47. Heute, 14 Jahre später, leitet Zimmer-Fiene die Selbsthilfegruppe noch immer. Durchschnittlich 15 Personen kommen jede Woche zu den Treffen.
"Es kommt aus allen Gesellschaftsschichten: Ich habe Politiker, mit denen ich Kontakt habe, Ärzte, ja, alles, was es halt irgendwo gibt. Es gibt auch Therapeuten, die das haben. Soll keiner wegschmeißen und sagen: Da habe ich nichts mit zu tun."
Seit sechs Jahren keinen Rückfall mehr
Die Gruppe wird auch für Zimmer-Fiene zur Therapie. Wann immer sie zurückfällt in alte Muster und exzessiv einkauft, zwingt sie sich dazu, in der Gruppe darüber zu berichten. Ganz langsam kann sie sich auch zu Dingen durchringen, die sie früher nie übers Herz gebracht hätte: Sie kauft weniger ein, fängt an, gekaufte Kleidungsstücke zurück ins Geschäft zu bringen oder Verkäuferinnen ins Gesicht zu sagen, dass sie eine Hose oder einen Pullover nicht haben will. Seit knapp sechs Jahren, so erzählt sie es selbst, hatte sie keinen Rückfall mehr.
Ob es heute mehr Kaufsüchtige gibt als früher, oder ob die Sucht einfach nur bekannter geworden ist, Betroffene sich vermehrt Hilfe suchen und Therapeuten die Krankheit dadurch häufiger diagnostizieren, ist schwer zu sagen. Die Psychologin und Psychotherapeutin Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule Hannover beobachtet, dass die ständige Verfügbarkeit von Waren im Internet es den Betroffenen zunehmend schwer macht.
"Als ich das vor zehn Jahren gemacht hab, hatte ich in der Gruppe vorrangig Patienten sitzen, die ein sogenanntes Offlineshopping machen. Also in Läden tatsächlich einkaufen gehen und ein paar – vorrangig Damen – die TV-Shopping betrieben haben oder Katalogshopping. In den jetzigen Gruppen habe ich einen Großteil der Patienten, die entweder ne Mischform macht – Online- und Offlineshopping – oder auch viele Patienten, die vorrangig Onlineshopping machen."
Mark Schmidt-Medvedev von der Schuldnerberatung in Hamburg nimmt dafür auch die Händler in Verantwortung.
"Es wird auch von den Firmen – muss man ja ganz deutlich sagen – es wird von den Firmen auch zu leicht gemacht. Wenn ich nen Kunden nicht kenne dann schicke ich dem doch nichts per Rechnung, zum Beispiel. Sondern dann sage ich: Okay, wir können das gerne per Überweisung machen oder per Kreditkarte oder so etwas, aber solange ich Dich nicht kenne, funktioniert's nicht per Lastschrift."
"Das flammt immer wieder auf"
Sieglinde Zimmer-Fiene sagt über sich selbst, dass ihre einstige Kaufsucht heute in Geiz umgeschlagen ist. Gerade Kleidung, die sie früher in Massen erstanden hat, kauft sie heute nur noch selten und fast ausschließlich im Schlussverkauf. Obwohl sie über ihre akute Sucht hinweg ist, wird sie bis heute fast täglich daran erinnert. Denn die Schulden von damals sind noch lange nicht getilgt. Regelmäßig bekommt sie Post von Gläubigern, bei denen sie vor 20 oder 30 Jahren eingekauft hat. Samt Zinsen und Mahngebühren haben sich teilweise beträchtliche Summen angehäuft. Privatinsolvenz anmelden kann sie nicht, weil ihre Schulden durch Betrug und damit durch Straftaten entstanden sind.
"Also, das ist nicht, dass irgendwann ein Stopp ist. Also ich werd das bis zum Lebensende haben. Weil die ja immer irgendwo wieder aufflammen und ja immer wieder, ja, halt neu anfangen zu mahnen. Das war am Anfang für mich ganz schwer und dass ich da ganz schlecht mit leben kann. Also, ich werd ja heute genauso noch gepfändet und mir wird der größte Teil genommen, was ich eigentlich habe an Rente. Aber das ist ne Sache, wo ich heute sage: Das ist das, wo ich mein Leben lang irgendwo mitnehmen kann. Ich kann keinem was hinterlassen außer meinen Schulden, aber das ist irgendwo das Spiel, was die Kaufsucht mit mir irgendwo gespielt hat."