Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin
Rowohlt Berlin, Berlin 2016
206 Seiten, 18,95 Euro
Wenn die Vorfahren uns zuwinken
In fünf Tagen durch zwei Jahrhunderte: Eine Frau um die 50 macht sich in "Die Liebesgeschichtenerzählerin" auf die Suche nach ihrer Herkunft. Friedrich Christian Delius setzt seine Vater-Tochter-Geschichte aus Eindrücken, Empfindungen und Erinnerungen zusammen.
"... die Vorfahren fahren vorbei und winken uns zu ... Ach unsere lieben Alten, wie sie sich balgen."
Seinem neuen Roman hat Friedrich Christian Delius als Motto ein Gedicht von 1979 vorangestellt. Seit einer Weile schon schreibt der 1943 geborene Büchner-Preisträger, der in mehr als 30 Romanen, Erzählungen, Essays die Entwicklung der Bundesrepublik gespiegelt hat, an einer großen literarischen Familienbiografie.
In immer neuen Anläufen sind das solide, klar und sorgfältig gebaute Geschichten wie das zauberhafte Andenken an die eigene Mutter ("Bildnis der Mutter als junge Frau", 2006) oder die köstliche Parodie auf einen historischen Roman ("Der Königsmacher", 2001), in der Delius sich als Nachfahre des ersten holländischen Königs und einer Berliner Tänzerin outet, als Hohenzollernenkel mit vier Ur-s, zu Zeiten der napoleonischen Kriege.
Nie die Zeit zum Schreiben gefunden
Auch "Die Liebesgeschichtenerzählerin" gehört in diese Reihe: Eine Frau um die 50 - (hinter der man Delius' Tante vermuten darf) - begibt sich Ende der 1960er-Jahre auf die Spur jener malerischen Mesalliance. Immer schon verspürte sie den Drang zu schreiben, doch dazu fand die Ehefrau und Mutter von vier Kindern niemals Zeit. Jetzt sucht sie in Den Haag nach dem Schlüssel ihrer Herkunft und dem Dreh, wie daraus ein Roman zu basteln wäre. Sie lässt sich treiben, vom königlichen Archiv an den Strand, zu Rembrandt ins Museum.
Fünf Tage, in denen die Protagonistin durch 200 Jahre reist. Ihren Gedankenfluss setzt Delius zusammen aus Eindrücken, Empfindungen und Erinnerungen, durch ihre Geschichte als braves deutsches Mädel, das sich in die blauen Augen des Mannes verguckte, der sich jetzt allnächtlich auf die Seite dreht. Sie erzählt, wie ein gereimtes Gedicht aus einem Liebespaar ihre Eltern machte, vom langen Warten auf den vermissten Soldaten, von der Flucht aus Doberan in ein kleines hessisches Dorf.
Innere Stimme ist der Vater, ein U-Boot-Kommandant, der im Ersten Weltkrieg Schiffe versenkte, ein glaubensstrenger Prediger, ein strenger Patriarch, er folgt ihr bis in ihre Träume. Nach dem Krieg begann er, an rätselhaften Lähmungen zu leiden, als hätte sich sein Körper entschlossen, den Gehorsam zu verweigern. Eine gequälte Seele, deren Zustand sich erst besserte, als sie Gott zu fürchten begann.
Ein Mann verbietet sich das Denken
So ist der Roman eigentlich ein Vater-Tochter-Roman. Die vom Titel versprochenen Liebesgeschichten bleiben blass, ein bisschen spröde - wie das evangelische Pfarrhaus. Gelungen sind die Passagen, in denen Delius uns lesend daran beteiligt, wie Einfühlung sich vollzieht, in einen Mann, der sich das Denken verbietet, von einer Frau in einen Mann, einer Tochter in den Vater, in einen Trauernden, der keine Gefühle zeigt. "Schluck's runter", heißt der familieninterne Befehl, der einer ganzen Generation zum Imperativ wurde.
Existentielles Pathos aber kommt nicht auf dank des Wechselspiels zwischen sympathiegeleitetem Verstehen und leise ironischer Distanz. Die schließt im Sinne der protestantischen Ethik auch den "armen lieben Gott" mit ein, der in diesen Kriegs- wie Friedenszeiten von Freund wie Feind angerufen wird. Hoffnungslos überfordert.