Fabien Toulmé: Dich hatte ich mir anders vorstellt
Übersetzt von Annika Wisniewski
Avant Verlag, Berlin 2015
250 Seiten, 24,95 Euro
"Willkommen im Handicapland!"
Unter Schock verlässt Julias Vater die Geburtsstation: Sie hat Trisomie 21. Fabien Toulmés autobiografische Graphic Novel "Dich hatte ich mir anders vorstellt" lässt jedes Tabu außer Acht und erzählt vom steinigen Weg zur Liebe zu seiner Tochter.
Alle werdenden Eltern wünschen sich vor allem eins für ihr ungeborenes Kind: Gesundheit! Dieser Wunsch ist so stark, dass mittlerweile eine millionenschwere Industrie gut davon leben kann. Neben zahlreichen Ratgebern ist es vor allem die Pränataldiagnostik, die werdenden Eltern in dieser Angelegenheit Sicherheit verspricht – in erster Linie mit Hilfe von Ultraschallbildern. Schon in der zehnten Schwangerschaftswoche sehen die Richtlinien eine erste solche Untersuchung vor.
Dabei wissen die wenigsten, dass es hier um das Ausloten von Wahrscheinlichkeiten geht. Eltern gewährt dieser Termin eher einen aufregenden ersten Blick auf das noch unbekannte Wesen. Glücklich und froh verlassen die meisten die Praxen, mit einem ersten wackeligen Schwarz-Weiß-Bild ihres Kindes in den Händen.
So erlebte das auch Fabien Toulmé, als seine Frau mit dem zweiten Kind schwanger war. Alles gut, bescheinigte der Pränataldiagnostiker, ein gesundes Mädchen sei auf dem Weg. Julia soll sie heißen, beschließen die erleichterten Eltern noch auf dem Rückweg von der Praxis.
Doch beim Vater bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Unruhig fragt er sich, ob nicht noch ein zweiter Arzt einen Blick auf den Fötus werfen sollte. Soll er nicht, findet die Ehefrau, der das ängstliche Gehabe ihres Mannes gehörig auf den Nerv geht. Denn tatsächlich steht anderes auf dem Plan: ein Umzug von Brasilien nach Paris, ein neuer Job, eine neue Wohnung. Warum sich also grundlos sorgen?
Doch dann kommt es während der Geburt zu Komplikationen: Das Baby muss wegen eines Herzfehlers auf die Intensivstation. Dort treffen sich Vater und Tochter dann das erste Mal – und eine Welt bricht zusammen. Schon auf den ersten Blick erkennt der Vater, dass seine Tochter Trisomie 21 hat.
Unter Schock verlässt er die Station, ohne sein Kind auch nur in den Arm genommen zu haben. Er kann und will das nicht. Unfähig fragt er sich, ob er dieses Kind je lieben wird? Am liebsten würde er ihn umtauschen, diesen "Mongo", der fortan mit heraushängender Zunge sein Leben zerstören wird. Besser noch, das Mädchen stürbe an ihrem Herzfehler.
Gnadenloser Blick auf Umstände und eigene Gefühle
Toulmés autobiografische Geschichte ist verstörend und stark, auch weil sie jedes Tabu außer Acht lässt. Wut, Ekel und Abscheu – all das kommt hier zur Sprache. Er erinnert sich, wie er selbst in seiner eigenen Kindheit einem Down-Syndrom-Jungen böse mitgespielt hat, er beschreibt seine Wut auf die zahlreichen Therapeuten, die er mit seiner Tochter aufsuchen muss, und berichtet mit gnadenlosem Blick von den Treffen der Selbsthilfegruppe. Schön ist hier nichts.
"Willkommen im Handicapland!", heißt es dann auch bitter.
"Nur herein spaziert, die Damen und die Herren, die jungen Eltern mit ihren besonderen Kindern! Wir haben für jeden Geschmack das Passende: Kardiologen, Psychologen und Physiotherapeuten."
Geradeaus, ohne politische Korrektheit, erzählt er so vom steinigen Weg hin zur Liebe zu seiner Tochter - denn den findet er am Ende doch.
Die Zeichnungen leben vom feinen, skizzenhaften Strich. Sie sind reduziert auf das Wesentliche und immer schwarz-weiß. Lediglich der Hintergrund ist von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich: die Krankenhausszenen sind blau unterlegt, die Bilder während der Diagnose knallrot und die der Annäherung grün. Der Schwerpunkt liegt auf den Figuren, ihren Gesichtern, ihrer Körperhaltung – mitunter gramgebeugt.
Cartoon-artig wird es immer dann, wenn das Schicksal als unerträglich empfunden wird: Etwa als Toulmé die Diagnose offiziell bestätigt wird, da fährt das Damoklesschwert auf ihn nieder und schlägt ihn zum Trisomie 21-Ritter.
Oder wenn er in seiner Verzweiflung auf der Suche nach guten Ärzten das Bild vom "Reiseführer der weltbesten Gynäkologen" malt. Solche Zeichnungen lassen auflachen – sollen sie auch, denn sie erzählen davon, dass sich im Leben mit einem behinderten Kind ein Meer der Gefühle auftut. Und dass es wichtig ist, sie auch zu zulassen. Alles andere wäre unerträglicher Harmonieschleim.