Facettenreiche Postmigrantin

Von Gerd Brendel · 12.05.2011
Die Schauspielerin Sesede Terziyan ist vor allem eins: Ausnahme von der Regel. Im Kreuzberger Klein-Istanbul ist sie die Einzige mit armenischen Wurzeln, beim Spielen am Deich war sie die Einzige mit schwarzen Haaren, in der Schule in Baden-Württemberg, die Einzige, die richtig Hochdeutsch sprach.
"Frau Kehlig war die größte Herausforderung","

für die Schauspielerin Sesede Terziyan.

Frau Kehlig, gefärbtes blond, Kostüm, hochhackige Schuhe, ist die Hauptfigur in Verrücktes Blut: In dem Stück von Jens Hilje und Nurkan Erpulat zwingt die Lehrerin ihre Klasse aus deutsch-türkischen Machos und Kopftuch-Mädchen mit vorgehaltener Pistole zum Deutschunterricht.

""Das war zum Beispiel als Nurkan Erpulat meinte: Sesede, ist völlig egal was Du hier machst, denk bloß nicht politisch korrekt, ich möchte dass sie die Geiselnahme ernst nehmen, in dieser Situation. Und ich stand nur da und sagte: Nurkan, Nurkan, was soll ich denn machen","

erinnert sich Sesede Terziyan.

""Und er sagte: Ist mir scheißegal, mach irgendwas. Und ich stand dann irgendwann da mit dieser Pistole und meinte: Zieh Dich aus! Und mein Kollege war total fassungslos und meinte: Sesede Abla, was machst Du da. Und ich meinte: Welche Sesede? Ich Frau Kehlig, zieh Dich aus! Und dann hat sich der wirklich ausgezogen."

Zwei Tage vor der nächsten Aufführung von "Verrücktes Blut" sitzt Sesede Terziyan in ihrem Lieblingscafé in Kreuzberg mit ihrem echten schwarzen Haar, Kos und in Jeans und Streifen-Hemd.

"Eigentlich ist das ja hier mein Betriebsbüro. Ich wohn hier um die Ecke."

Seit knapp zehn Jahren ist die gebürtige Niedersächsin mit armenischen Eltern hier zu Hause.

"Wo ich das erste Mal in Kreuzberg gewesen bin, das muss 2002 gewesen sein, das muss irgendeine Fußballmeisterschaft gewesen sein, Europa- oder Weltmeisterschaft, und am gleichen Tag war hier auch die CSD-Parade. Und ich bin hier angekommen und alle Bürger dieses Kiezes haben zusammen gefeiert, ob mit Kopftuch, ob ohne, ob Fußballfanatiker, ob Fußballhasser, ob schwul, ob Transe ob hetero: Alle waren auf der Straße und haben getanzt und gefeiert, und das hat mich so glücklich gemacht. So was hab ich nirgends sonst erlebt. Und ich dann schnell ne Wohnung gefunden und ich fühl mich hier unheimlich wohl."

Damals kam sie als Abiturientin aus der schwäbischen Provinz nach Berlin. Gerade hatte sie im zweiten Anlauf die Aufnahmeprüfung an der Ernst-Busch-Schule für Schauspiel geschafft: Beim ersten Mal hatte man sie noch nach Hause geschickt:

"Jetzt noch nicht Frau Terziyan, machen sie mal erst mal ihr Abi und bereiten sie sich gefälligst richtig vor! Und da hab ich gedacht, haah, eigentlich interessieren die sich für Dich total und dann bin ich wirklich ein Jahr später noch mal hingegangen, hab mein Abi gemacht, hab mich gut vorbereitet und dann hat's geklappt."

Theaterspielen faszinierte Sesede schon als Sechsjährige damals hinterm Deich an der Wesermündung.

"Ich hab mich als Kleinkind unheimlich gern verkleidet mit meiner Freundin Gesa Ränken. Wir haben auf dem Bauernhof immer gespielt und die hatten eine Riesenholztruhe und in dieser Truhe waren unheimlich viel Kleider und Stoffe."

Ihren Geburtsort Nordenham hat Sesede der Willkür des bundesdeutschen Asylverfahrens zu verdanken. Als Asylbewerbern war ihrer Familie eine Wohnung im Landkreis Wesermarsch zugewiesen wurden.

"Wir waren die einzigen Ausländer im Umkreis von 50 km."

Immer noch besser als das Leben als armenische Familie mit einem marxistischen Vater in Anatolien in den unruhigen 70er-Jahren, der in seinem Kino linke Filme zeigte, bis es niedergebrannt wurde. Als 1981 das Militär putschte, entschlossen sich die Eltern zur Flucht. Acht Jahre mussten sie auf die Anerkennung ihres Asylantrags warten, dann endlich durfte sich der Vater eine Arbeit suchen. Die fand er in Baden-Würtemberg und die kleine Sesede musste lernen, sich im Schulalltag einer schwäbischen Kleinstadt zu behaupten.

"War unfair, ich werd das nie vergessen, in der vierten Klasse war mein Notendurchschnitt Gymnasium-equivalent. Und ich hatte Geburtstag und da kam meine Lehrerin zu mir und sagte: Spätestens in der siebten Klasse wirst du versagen, weil das Englische und das Französisch wird dich völlig überfordern. Und dann bin ich nach Hause gekommen, heulend, und hab das erzählt. Und dann ist mein Bruder mit meiner Mutter zur Schule gegangen und hatte ein Gespräch mit der Lehrerin. Und ich bin dann aufs Gymnasium gekommen und hab dann locker mein Abi geschafft.""

Genauso locker wie später die Schauspielprüfung. Es folgte ein festes Engagement am Stadttheater und erste Fernsehrollen. Einem größeren Publikum wurde Terziyan mit der Hauptrolle in dem Tatort "Schatten der Angst" bekannt.

"Ist sozusagen eine Ehrenmord-Geschichte. Eine junge Frau, die sich in einen jungen Mann verliebt, und zwischen ihren kulturellen Stühlen stecken bleibt."

Mit 36 Jahren ist Sesede Terziyan dabei, ihre eigenen kulturellen Stühle wieder zu entdecken. Erst als junge Frau erzählten ihr die Eltern , wie der Urgroßvater den Völkermord an den Armeiern 1915 überlebte.

"Die haben sich versteckt, sind versteckt worden von türkischen Nachbarn. Die Familie hat das so verinnerlicht, zu schweigen, dass ich erst in den letzten Jahren es geschafft habe einige Dinge zu erfahren."

Und Sesede Terziyan gibt sich mit einfachen Wahrheiten nicht zufrieden, von keiner Seite. Auch darum fühlt sie sich so zu Hause in Kreuzberg und am Ballhaus Naunynstraße, in dem seit ein paar Jahren erfolgreich postmigrantisches Theater gemacht wird. "Verrücktes Blut", das zum Theatertreffen eingeladen wurde, ist nur eines von mehreren Stücken, in den Sesede mitspielt.

"Ich habe das Glück mich zwischen Freigeistern zu bewegen, habe Kollegen und Menschen um mich herum, die über ihre eigene Herkunft sehr differenziert sprechen und auch die auch um die Absurdidät einer nationalen Identität wissen."

Mit ihnen teilt Sesede die Liebe zu einer Heimat, die nicht viel größer als ein paar Quadratmeter ist: die Bühne. Heute Abend wird die in "Verrücktes Blut" zum Klassenzimmer und Sesede Terziyan zur Deutschlehrerin mit Pistole. In den letzten Tagen gab es viele Anfragen von Medien, alle wollen mit einem Mal mehr erfahren über die kleine Bühne in einer Kreuzberger Nebenstraße und über die Schauspielerin mit dem türkischen Namen und dem norddeutschen Zungenschlag.

Fast scheint es, als stünde Sesede Terziyan ein zweiter Karrieresprung bevor. Immerhin pünktlich zum Theatertreffen trägt die Hauptdarstellerin in der Aufführung heute Abend zum ersten Mal keine ausgeliehene, sondern eine eigene Perücke. Als sie davon erzählt, fällt einem die sechsjährige Sesede ein, wie sie hinter dem Deich mit ihrer Freundin Gesa die Kleidertruhe nach Kostümen durchstöbert.

"Wir bestehen aus so vielen Facetten. Das reicht nicht, welches Geschlecht wir haben, und welche Ethnie. Wir haben doch alle so einzigartige Biografien - und das ist doch toll –dass ich auf der Bühne stehen kann und alles rauslassen kann, das ist ein Genuss sag ich ihnen."

Und dabei durchdringenden Terziyans schwarze Augen ihr Gegenüber so eindringlich, dass man am liebsten gleich mit auf die Bühne will.

Service:
"Verrücktes Blut" von Jens Hilje und Nurkan Erpulat mit Sesede Terziyan wird im Rahmen des Theatertreffens am 11. bis 14.05., am 16. und 17., und vom 19. bis 22.05. in Berlin aufgeführt.