Fachkräfte aus Fernost

Deutschlands Pflegenotstand ist Daisys Chance

32:10 Minuten
Die Krankenschwester Daisy Agravante mit Mundschutz im Operationssaal.
Daisy Agravante aus den Philippinen im Bonner OP: Eine Krankenschwester mit Uniabschluss ist hierzulande eher selten. © Heike Bredol
Von Heike Bredol, Kerstin Gallmeyer und Markus Person |
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Daisy Agravante hat vor einem Jahr ihre Familie auf den Philippinen zurückgelassen. Wie sie werden viele Krankenschwester im Ausland angeworben, um den Pflegenotstand hierzulande zu bekämpfen. Ein Teil ihres Traumes hat sich Daisy bereits erfüllt.
Daisy Agravante: "Mein Name ist Daisy Agravante, ich bin 28 Jahre alt, ich arbeite als OP-Krankenschwester am Uniklinikum Bonn - im Cardio-OP Ich habe eine Tochter, und ich bin auch verheiratet. Meine Tochter ist jetzt auf den Philippinen. Und hoffentlich, nächstes Jahr oder übernächstes Jahr, kann ich meinen Mann und meine Tochter hierher mitbringen."
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: "Die Wahrheit ist: Wir brauchen auch Fachkräfte aus dem Ausland, weil die, die vor 16, 17, 18 Jahren nicht geboren wurden, die können wir heute auch nicht zu Pflegekräften ausbilden."
Pflegeratspräsident Franz Wagner: "Grundsätzlich ist es natürlich eine gute Idee, überall zu schauen, wo wir Menschen bekommen, die in der Pflege arbeiten wollen. Im Gegensatz zu manchen anderen sind wir nicht überzeugt, dass es den Kern des Problems, das wir haben, lösen wird."
Pfleger Guy-Harald Hofmann: "Es ist dort gut, wo wir internationalen Kulturaustausch befördern oder zum Beispiel kultursensible Pflege realisieren. Es ist dort schlecht, wo wir Raubbau an den sozialen Kräften anderer Gesellschaften betreiben."
"Hier in Deutschland ist es meine erste Erfahrung bei einer Herz-OP", sagt Daisy Agravante. "Aber insgesamt ist das heute natürlich nicht meine erste Bypass Operation."

Mann und Tochter auf den Philippinen zurückgelassen

Es ist der 22. November 2018: Daisy Agravante steht in einem Operationssaal des Universitätsklinikums Bonn. Sie ist eine eher kleine Frau mit langen, dunklen Haaren, einem wachen Blick und einem offenen, zugewandten Wesen. Daisy ist aufgeregt. Keine vier Wochen ist es her, dass sie in der philippinischen Hauptstadt Manila in ein Flugzeug gestiegen ist, um in Deutschland einen neuen Job zu beginnen und ein neues Leben aufzubauen.
Ihren Mann und ihre kleine Tochter hat sie erstmal zurückgelassen. Daisys Ziel: die Familie so schnell es geht nachholen. Es wird ein langer und steiniger Weg, auf dem wir die junge Krankenschwester ein Jahr begleiten.
Die Herausforderung heute: eine Operation am offenen Herzen in einem Hightech-Operationssaal und tausend neue Vokabeln. "Können wir das Codan benutzen?", fragt Daisy. "Nee, wir benutzen das neue Octinidam", antwortet ihr Kollege. "Nur das. Das andere können wir direkt zur Seite stellen."

Hilfsschwester trotz Uniabschluss

Daisy Agravante ist mit ihrem Bachelor of Science in Nursing von den drei Pflegern, die heute mit im OP sind, die einzige mit einem Universitätsabschluss. Dennoch darf sie bis zu ihrer Anerkennung in Deutschland nur als Hilfsschwester arbeiten. So lang verdient die junge Krankenschwester von den Philippinen rund 400 Euro weniger als ihre Kollegen. Noch ist sie mit der deutschen Sprache recht unsicher, und wenn es die Situation erlaubt, verständigt sie sich lieber auf Englisch.
"Generell muss immer alles vorbereitet sein, bevor der Patient eingeliefert wird", sagt sie. "Natürlich müssen wir die Zeit beobachten: Ist der Patient für die OP vorbereitet, betäubt. Hat er alle Medikamente? Dann können wir die Instrumente vorbereiten und das Material öffnen."
Dann geht es los. Der Patient, ein älterer Mann, der einen Bypass und eine neue Aortenklappe bekommen soll, wird an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Der Operateur betritt den Saal. Die Gespräche verstummen. Die Atmosphäre: hoch konzentriert.
Für das Pflegeteam an der Uniklinik ist Daisy Agravante eine große Hilfe, bestätigt ihr persönlicher Betreuer, der OP-Pfleger Rafael Manka, ohne lange zu überlegen.
"Auf jeden Fall, das ist eine große Chance", sagt Rafael Manka. "Gerade hier der Pflegemangel. Wir brauchen dringend Leute. Und die Leute, die investieren was, indem sie hierher herkommen. Und wir investieren, indem wir sie ausbilden. Und profitieren letzten Endes. - Klar, es ist ein Zukunftsprojekt. Das dauert seine Zeit."
Daisy hat viel investiert: 11.000 Kilometer und sechs Stunden Zeitunterschied trennen sie von ihrer mittlerweile dreijährigen Tochter Hailey und ihrem Mann Thomas. Die beiden warten darauf, dass Daisy sie irgendwann nach Deutschland holen kann. Doch dafür muss Daisys Berufsabschluss in Deutschland anerkannt werden, und sie muss einen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen.

Nicht die Einzige aus einem anderen Land

Daisy Agravante ist längst nicht die einzige Krankenschwester, die im vergangenen Jahr aus einem anderen Land nach Bonn gekommen ist. Das Universitätsklinikum – etwas südlich der Stadt auf einem Hügel gelegen – sucht wie fast alle Krankenhäuser in Deutschland händeringend Pflegepersonal. 129 ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger aus anderen Ländern kamen 2018 hierher: 19 aus Bosnien-Herzegowina, 15 aus Serbien und 91 Männer und Frauen von den Philippinen.
Die Initiative dazu ging vom Pflegedirektor der Uni-Klinik Bonn aus. Alexander Pröbstl sitzt nur ein paar Gebäude von Daisys OP-Saal entfernt in einem großen Büro mit dunklen, glänzenden Schrankwänden und vielen Büchern. Der Pflegenotstand in Deutschland bereitet ihm schon seit sehr vielen Jahren Sorgen.
"Wenn ich einer Pflegefachkraft zumute, zehn Patienten zu versorgen, während in anderen europäischen Ländern eine Pflegekraft nur drei oder vier Patienten versorgen muss, dann macht das was an der Qualität", sagt Alexander Pröbstl. "Und wir müssen politisch entscheiden, welche Qualität wollen wir. Und wenn wir die Qualität heute weiterhin so gestalten, dass wir im europäischen Vergleich eher in dem unteren Feld, was pflegerische Qualität anbelangt, rangieren, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass wir nicht mehr sehr erfolgreich sind in der Vermeidung von Entzündungen, Keimen... Keime, die die Patienten belasten, weil die Hygiene nicht optimal ist."

Pflegenotstand gefährdet die Patienten

Laut einer Studie des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten wurden 2015 in Deutschland mehr als 2300 Todesfälle infolge von Infektionen mit multiresistenten Bakterien registriert. Damit steht Deutschland EU-weit an dritter Stelle. Die Tendenz: seit Jahren steigend.
Multiresistente Keime sind ein gravierendes Problem, aber bei Weitem nicht das einzige: Es gibt vor allem viel zu wenig Zeit für die Patienten, für eine menschenwürdige und angemessene Pflege. Sie reicht meist nicht einmal, um die absoluten Minimalstandards einzuhalten, egal ob in Krankenhäusern, Seniorenheimen und in der ambulanten Pflege, sagt Guy-Harald Hofmann.
Der 59-jährige lebt in der Nähe von Osnabrück, ist Pfleger aus Überzeugung und engagiert sich in einer Initiative für bessere Bedingungen in seinem Job: "Ein paar Beispiele aus dem Osnabrücker Raum der letzten 18 Monate: eine Fachkraft und eine Hilfskraft für 90 Bewohner im Altenheim. Zwei Fachkräfte für 22 Frühchen und Säuglinge unter einem Jahr im Nachtbereich. Da sagt die Kollegin: Da müssen wir manchmal Magensonden legen, damit wir fertig werden. Das heißt, die legen eine Magensonde ohne medizinische Indikation. Das ist Körperverletzung! Es ist immer das gleiche: zu viele Patienten mit hohen Anforderungen für zu wenig Personal."
Und das Problem wird sich wohl in Zukunft noch zuspitzen: Bis 2050 wird es Prognosen zufolge 4,5 Millionen Pflegebedürftige geben. Das ist ein Anstieg um circa 50 Prozent im Vergleich zu heute.

Gesundheitsminister wirbt um Fachkräfte aus dem Ausland

"Wir haben heute schon einen Bedarf von 50.000 bis 80.000 zusätzlichen Pflegekräften, und wir haben gerade eine Studie der Uni Bremen bekommen, die sagt, dass wir bis 2030 noch mal auch bis zu 100.000 Pflege-Hilfskräfte zusätzlich brauchen werden. Also Sie sehen, der Bedarf ist riesig", sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
Daisy steht mit ihren Kollegen im Pausenraum des Uniklinikum Bonn.
Daisy mit ihren Kollegen im Pausenraum: Wir brauchen auch Fachkräfte aus dem Ausland, sagt Gesundheitsminister Jens Spahn.© Heike Bredol
Sein derzeitiger Lösungsansatz: eine attraktivere Ausbildung, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Geld. Aber eben auch, Fachkräfte aus dem Ausland. Spahns Haus wirbt deshalb zurzeit ganz offensiv um Pflegekräfte aus dem Ausland. Im Juli unterzeichnete der Gesundheitsminister eine Absichtserklärung mit dem Kosovo. Es geht um eine Zusammenarbeit in der Ausbildung und Anerkennung von Pflegefachkräften.
Das soll es in Zukunft auch mit Mexiko und den Philippinen geben. Im September reiste Bundesgesundheitsminister Spahn dafür nach Mexiko, einen Monat zuvor flog die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesgesundheitsministeriums, Sabine Weiss, auf die Philippinen. In Manila warb sie um Pflegekräfte für deutsche Krankenhäuser.
"Wie mit dem Kosovo wollen wir auch mit den Philippinen besser und schneller zusammenarbeiten, um Pflegekräfte für unser Land, für Deutschland zu gewinnen", sagt Sabine Weiss. "Und das soll für beide Seiten gut sein. Für die Filipinos, weil sie bessere Arbeits- und Fortbildungsmöglichkeiten haben als in manchen anderen Ländern auf dieser Welt, aber auch für uns, für Deutschland ist es gut, wenn diese jungen Menschen zu uns kommen, um uns in unserem Pflegenotstand, den wir ja haben, zu helfen."

"Ich freue mich über jeden"

Die Philippinen, Kosovo, Mexiko - warum gerade diese Länder?
"Das sind Länder, die selbst sehr, sehr jung sind", erklärt Jens Spahn, "die über den eigenen tatsächlichen Bedarf in ihren Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen ausbilden, wo es also arbeitslose Pflegekräfte ohne Perspektive gibt. Und Länder, die uns auch kulturell so nahe sind, dass eine Integration - weil Klinikalltag ist ja auch schon sehr intensiv, auch menschlich intensiv - dass auch eine Integration auch gut gelingen kann."
Der Plan ist: Weil es in Deutschland an Pflegepersonal mangelt, sollen in den kommenden Jahren so viele Schwestern und Pflegern wie möglich aus anderen Ländern nach Deutschland kommen.
"Ich freue mich über jeden, der diese Entscheidung trifft", sagt der Bundesgesundheitsminister. "Wir haben im Moment 50 bis 80.000 Stellen. Das sind finanzierte Stellen: Das heißt, das Geld dafür ist da, die könnten heute, morgen eingestellt werden. Und unser Arbeitsmarkt ist einfach leer gefegt."
Die Kooperationen soll den ausländischen Pflegekräften den Start in Deutschland erleichtern: durch Sprachkurse und schnellere Visa-und Anerkennungsverfahren. So wirbt das Bundesgesundheitsministerium für seine Initiative. Für deutsche Pflegeeinrichtungen hieße das: Die Lücken werden gefüllt. Für die jungen Pflegekräfte: die Aussicht auf ein Leben in Deutschland und bessere Arbeitsmöglichkeiten als zu Hause. Geht diese Rechnung auf?

Kritik vom Berufsverband für Pflegeberufe

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat seine Hauptgeschäftsstelle in Berlin Moabit keine fünf Kilometer vom Bundesgesundheitsministerium entfernt. Dort hat man eine andere Sicht auf die Dinge. Franz Wagner ist Geschäftsführer und auch Präsident des Pflegerats. Auch er kennt die schwierige Personalsituation in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen bestens. Dass die Bundesregierung endlich versucht, etwas gegen den Fachkräftemangel in Pflegeberufen zu tun, sei richtig.
Sie aber aus dem Ausland zu holen, das hält Franz Wagner nicht für die beste Lösung. Er denkt, dass vor allem die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal signifikant verbessert werden müssten. So könnte man viele deutsche Schwestern und Pfleger, die zum Teil aus Erschöpfung in Teilzeit arbeiten oder sich aus Frust beruflich neu orientiert haben, zurückgewinnen. Er gibt außerdem zu bedenken, dass in den Heimatländern plötzlich die Pflegekräfte fehlen könnten, um die eigene Bevölkerung zu versorgen.
"Die WHO hat einen ethischen Code erlassen", sagt Franz Wagner, "der die ärmsten Länder davor schützen soll, ausgebeutet zu werden, weil reiche Länder, die Menschen dort weglocken, weil sie wurden ja mit Geld von dort ausgebildet, aber dann gehen sie ins Ausland und fehlen in dem dortigen System. Oft gibt es tatsächlich arbeitslose Pflegekräfte in den Ländern. Aber die sind arbeitslos, nicht, weil sie nicht gebraucht werden, sondern weil das Land es sich nicht leisten kann, sie zu beschäftigen."

Minister Spahn will anderen Ländern Pfleger nicht "klauen"

Ein ethisches Dilemma also? Bundesgesundheitsminister Spahn sieht das nicht so. Für ihn sind ausländische Pflegekräfte einfach ein unabdingbarer und moralisch vertretbarer Baustein zur Lösung des Pflegenotstands in Deutschland.
"Weil mir wichtig ist, dass wir nicht anderen Ländern die Pflegekräfte aus den Krankenhäusern, in Anführungszeichen 'klauen' - wegnehmen, und dort dann Probleme entstehen", sagt Jens Spahn. "Ohne Zweifel würde man im Idealzustand sagen: Auch im Kosovo oder auch in Mexiko würden die Krankenhäuser mehr Pflegepersonal gebrauchen können. Die Wahrheit ist aber: Das Geld ist nicht da. Und diese jungen Menschen sind arbeitslos. Also, es gibt tausende arbeitslose Pflegekräfte in diesen Ländern, und das ist doch dann zum Gewinn von allen."
Auf den Philippinen hat das auf gewisse Weise System. In dem südostasiatischen Inselstaat werden Pflegekräfte gezielt über Bedarf ausgebildet. Manche sprechen auch kritisch von einer regelrechten Industrie. Denn sehr viele Schwestern und Pfleger verlassen das Land - und ihre Familie -, um woanders auf der Welt mehr Geld zu verdienen. Ein Großteil geht in die USA, aber auch Saudi-Arabien, Kuwait und europäische Länder wie Italien, Irland, Norwegen und eben Deutschland sind attraktiv.

Ein eigener Wirtschaftssektor der Philippinen

Rund 10 Millionen Filipinos – mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – leben im Ausland und schicken einen Teil ihres Verdienstes an die Familien in der Heimat. Die Overseas Filipino Workers sind quasi ein eigener Wirtschaftssektor. Im Jahr 2018 überwiesen die im Ausland arbeitenden Filipinos 31 Milliarden US-Dollar nach Hause – fast ein Zehntel des Bruttoinlandsproduktes des Landes.
Auch im Freundeskreis von Daisy Agravante ist es ganz normal, die Familie zurückzulassen, um im Ausland zu arbeiten.
"Auf den Philippinen gibt es wirklich sehr viele Krankenschwestern und Pfleger", erzählt Daisy Agravante. "Besonders in meinem Jahrgang. Aber wir sind enttäuscht. Wir haben vier Jahre studiert und hohe Studiengebühren bezahlt. Es ist nicht fair, dass wir hier auf den Philippinen kaum mehr als den Mindestlohn bekommen. Davon kann man keine Familie ernähren! Viele von uns arbeiten zwei bis drei Jahre in der Heimat, um etwas Praxiserfahrung zu sammeln, und dann tun wir alles, um ins Ausland zu gehen. Die meisten meiner Kommilitonen arbeiten inzwischen in Dubai oder Saudi Arabien. Aber dort bekommt man meist keine dauerhafte Arbeitserlaubnis. Deshalb gehe ich nach Europa. In Deutschland kann ich dauerhaft arbeiten und auch meine Familie nachholen."
Es ist das Osterwochenende 2018. Noch lebt Daisy in Cebu, der zweitgrößten Stadt der Philippinen mit ihrem Mann Thomas und ihrer Tochter Hailey, die damals noch keine zwei Jahre alt ist. Die kleine Familie bewohnt ein Apartment im Haus von Daisys Tante. Daisys Mutter und eine Schwester von Daisy leben und arbeiten schon seit einigen Jahren in Norwegen.

Das vorerst letzte gemeinsame Osterfest

Für die Feiertage kocht Daisy gerade eine typisch philippinische Süßspeise. Für Daisy ist es das vorerst letzte gemeinsame Ostern mit der Familie, denn noch in diesem Jahr will sie nach Deutschland gehen. Sie muss nur noch die Sprachprüfungen bestehen. Gemeinsam mit ein paar Kollegen hatte die junge OP-Schwester sich über das deutsche Anwerbeprogramm Triple Win beworben.
Daisy Agravante sitzt am Osterfest gemeinsam mit ihrer Familie um einen gedeckten Tisch herum.
Daisy Agravante feiert das vorerst letzte Osterfest gemeinsam mit ihrer Familie in Cebu, der zweitgrößten Stadt der Philippinen.© Kerstin Gallmeyer
"Meine Mutter und ich wollten schon lange nach Europa", erzählt Daisy Agravante. "Aber als sie dann nach Norwegen ging, hatte ich gerade geheiratet und wurde schwanger. Jetzt gab es diese Möglichkeit mit Bonn. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es das Richtige ist, aber einige Kolleginnen haben mich überredet, mich zu bewerben. Und dann wurden wir auch tatsächlich angenommen. Zum Glück! Wir sind die ersten Krankenschwestern aus Cebu, die an dem Programm teilnehmen können."
Triple Win ist ein Programm der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit, kurz ZAV. Triple Win - so steht es auf der Internetseite des Programms, weil es ein dreifacher Gewinn sei: Für die deutschen Pflegeeinrichtungen, für die Krankenschwestern und -pfleger aus dem Ausland und für ihre Heimatländer, deren Arbeitsmärkte entlastet werden. Auch Triple Win hält sich an die WHO-Vorgabe, keine Pflegekräfte dort abzuziehen, wo sie gebraucht werden.

Finanzielle Hilfe vom Programm Triple Win

Einmal im Programm aufgenommen, finanziert Triple Win seit Mai 2017 Daisys Sprachkurse auf den Philippinen und übernimmt außerdem Visa-Gebühren und Reisekosten nach Deutschland. Für die Übersetzung ihrer Dokumente und die Reisen zu Seminaren und Bewerbungsgesprächen auf den Philippinen musste die Krankenschwester selbst aufkommen. Um sich besser aufs Lernen konzentrieren zu können, hat Daisy in den letzten Monaten auf den Philippinen nicht gearbeitet.
Daisys Arbeitsaufenthalt in Bonn ist ganz klar ein gemeinsames Projekt der Großfamilie. Sie wird in Zukunft auch bei der Betreuung von Daisys Tochter helfen. Das ist für sie selbstverständlich. Nur Daisys Mann Thomas war zuerst nicht besonders begeistert von der Idee.
"Ich fand das erst ungerecht", sagt er. "Ich hatte ein gutes Jobangebot in Saudi-Arabien, aber sie hatte Angst weil es im Nahen Osten liegt. Jetzt sehe ich, dass es ihr Opfer ist für die Familie. Also ist es ok. Es ist eine gute Chance. Auch für mich. Ich kann vielleicht dort als Ingenieur arbeiten."

Die lange Trennung als Wermutstropfen

Vor allem eine Sache trübte damals Daisys Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland. Die lange Trennung von ihrer Familie. An diesem Osterwochenende im März 2018 sind es nur noch ein paar Monate, bis zu ihrem Abflug nach Deutschland.
"Ich bin aufgeregt und auch traurig", sagt Daisy Agravante. "Weil ich meinen Mann und meine Tochter zurücklassen muss und meine Familie hier auf den Philippinen. Aber ich freue mich auch, meine Mutter, meine Schwester zu sehen und Deutschland kennenzulernen. Die Schlösser, die Museen in Berlin. Ich bin motiviert."
Dass bei den Krankenschwestern und Pflegern, die bei uns in Deutschland die Lücken im Pflegesystem füllen, solche Schicksale dahinter stehen und Familien getrennt werden, das ist Pflegedirektor Alexander Pröbstl vom Uni-Klinikum Bonn durchaus bewusst. Doch auch er glaubt, dass die Vorteile für die jungen Menschen überwiegen.
"Die Frage ist doch, was hat dieser Mensch in Manila für eine Alternative", sagt Alexander Pröbstl. "Wenn er ein Gehalt bekommt von 200 US Dollar, wird er niemals an dem Konsum teilnehmen, den er jetzt hat. Denn er schickt 300 bis 400 Euro im Monat an seine Familie zurück, um die Zeit bis zum Zusammenzuziehen zu überbrücken. Wir helfen den Menschen, indem wir ihnen hier Arbeit geben."

Berichte über Ausbeutung ausländischer Fachkräfte

Laut Bundesagentur für Arbeit lag in Deutschland 2018 der Anteil der Pflegekräfte mit ausländischer Staatsbürgerschaft bei neun Prozent - etwa 154.000 Menschen. Nicht alle sind mit seriösen Anbietern gekommen. Manche mussten sich für mehrere Jahre an einen Arbeitgeber binden. Es gab auch Berichte über Knebelverträge und systematische Ausbeutung der Menschen, die von deutschen Arbeitnehmerrechten keine Ahnung hatten.
Das weiß auch der Geschäftsführer des Pflegeverbands, Franz Wagner: "Nach meiner Einschätzung sind das Einzelfälle, aber es gibt es. Dass die dann einen Vertrag kriegen, mit einer bestimmten Vertragsbindungsdauer. In der Finanzkrise kamen ja auch etliche Pflegefachpersonen aus Portugal und Spanien. Denen hat man versprochen, ihr arbeitet im Krankenhaus, aber dann haben sie sich im Pflegeheim wiedergefunden. Oder man hatte ihnen nicht gesagt, dass sie erst volles Gehalt bekommen, wenn sie den Sprachtest bestanden haben. Und dann waren sie dort als Pflegehilfskräfte eingesetzt. Die hatten dort die Ausbildung als Studium gemacht und waren sehr qualifiziert. Und dann durften sie hier nur Essen reichen und Toilettengänge machen, was ja zur Pflege dazu gehört. Aber alles, was etwas anspruchsvoller war, durften sie nicht machen."
Das Programm Triple Win gehört nicht zu den schwarzen Schafen. Alexander Pröbstl, der Pflegedirektor von der Uniklinik in Bonn, hat gute Erfahrungen damit gemacht. Seit 2015 sind mithilfe von Triple Win 178 Pflegekräfte ans UKB gekommen. Bis auf eine Person sind sie alle geblieben: 24 aus Bosnien-Herzegowina, 25 aus Serbien und 118 – wie Daisy Agravante – von den Philippinen.

Anerkennung je nach individuellem Lernfortschritt

"Die Leute, die wir holen", sagt Alexander Pröbstl, "gehen sofort in den Lehrgang, in den Sprachkurs, Deutsch als Fremdsprache. Der Sprachkurs läuft parallel, und dann stellt die Bezirksregierung fest, welche Praxisstunden die machen müssen – vielleicht in der Chirurgie, vielleicht OP, ähnlich wie bei der Krankenpflegeschule. Wenn sie diese Einsätze durchlaufen hat, geht sie in das Kolloquium und erhält dann den Bescheid: Die Zeit ist erfüllt, die Theoriestunden sind erfüllt, sie kann anerkannt werden. Das dauert individuell nach dem persönlichen Lernfortschritt und den Vorgaben zwischen sechs und 18 Monaten."
So wenig Zeit wie möglich soll verloren gehen. Was gut ist für beide Seiten – die Pflegeeinrichtungen und die ausländischen Pflegekräfte. Denn erst wenn sie das Anerkennungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben, werden sie genauso bezahlt wie eine ausgebildete deutsche Pflegekraft.
Zweimal die Woche hat Daisy Agravante Sprachkurs an der Volkshochschule in Bonn. Speziell für medizinisches Deutsch. Die Zeit wird ihr als Arbeitszeit angerechnet. Ihre Lehrerin ist Sarah Bär, selbst gelernte Krankenschwester. Sie bringt den Pflegerinnen und Pflegern aus dem Ausland die deutschen Begriffe für Kniescheibe, Oberschenkel oder Hüftgelenk bei.
Die Krankenschwestern und Pfleger aus dem Ausland sind sehr besorgt darum, in ihrem neuen Job in Deutschland keine Fehler zu machen, ist Lehrerin Sarah Bär aufgefallen. In der ersten Stunde hat sie einen Fragebogen ausgegeben. Darin ging es eigentlich um Wünsche und Erwartungen an den Deutschkurs.

Die Sprache ist der Knackpunkt

"Fast alle hatten Sorge", sagt Sarah Bär, "dass sie im stressigen Krankenhausalltag etwas nicht verstehen oder überhören und dadurch ein Patient möglicherweise nicht optimal behandelt wird."
Die Sprache ist der Knackpunkt - auch für Guy-Harald Hofmann, den engagierten Pfleger aus Osnabrück.
"Im Krankenhausbereich in Pforzheim habe ich das aktuell gerade selbst erlebt, wo sieben Pflegekräfte aus Ex-Jugoslawien, eine aus Makedonien und sechs aus Bosnien anwesend waren, die wirklich nicht gut Deutsch konnten", erzählt Guy-Harald Hofmann. "Wenn dieser Kollege in der Urologie arbeitet und ich mich nicht mit ihm auseinandersetzen kann, welche speziellen Anforderungen ich jetzt habe, dann kann er das nicht nur mündlich nicht, sondern auch schriftlich nicht. Und entsprechend knapp ist die Dokumentation. Und ich versteife mich nicht auf Orthografie, sondern auf Inhalte, die transportiert werden müssen, weil die Info über das Wohl und Wehe der Patienten ein wichtiger Bestandteil in der Pflege ist."

Vorbehalte bei machen Kolleginnen und Kollegen

Keine Frage, die neue Sprache und Kultur sind eine Herausforderung – aber auch eine Bereicherung für beide Seiten. Diese Erfahrung hat Daisy Agravante vor allem mit einer älteren Patientin gemacht, als sie im Rahmen ihres Anpassungslehrgangs auf der neurologischen Station gearbeitet hat.
Die Kommunikation mit den Kollegen allerdings ist manchmal etwas schwieriger. Manche haben Vorbehalte gegen die ausländischen Pflegekräfte und denken, der Aufwand, sie zu integrieren und auszubilden, lohne sich nicht. Viele von Daisys Bonner Kollegen erinnern sich noch an die griechischen Pflegekräfte, die 2015 kamen. Die Hälfte ging zurück in die Heimat, sobald sich die wirtschaftliche Lage dort etwas entspannt hatte. Besonders in stressigen OP-Situationen ist die Stimmung manchmal angespannt. Oft fehlen einfach Zeit und Nerven für lange Erklärungen.
"Im OP, also die Leute sind immer, also die Leute sprechen immer schnell - und mit dieser Maske", sagt Daisy Agravante. "Ich kann nicht immer alles gut verstehen und muss immer fragen: Noch einmal bitte? Kannst du das bitte wiederholen? Manchmal haben die Leute keine gute Laune ... Aber ich brauche das, weil ich das lernen muss."

Weniger Befugnisse als im philippinischen Klinikalltag

Die sprachlichen Hürden sind längst nicht das Einzige, was nach Erfahrung von Pflegedirektor Pröbstl für Frust sorgen kann. Auch die Jobbeschreibung eines Pflegers auf den Philippinen ist anders als in Deutschland. Sie geht deutlich über das hinaus, was eine Pflegekraft hierzulande üblicherweise macht.
"Auf den Philippinen, die jungen Leute, die wir jetzt holen, die haben alle einen Bachelor- oder Masterabschluss", sagt Alexander Pröbstl. "Die kommen hierher und verstehen teilweise gar nicht, dass sie jetzt fragen müssen, ob sie eine bestimmte Tätigkeit, einen Zugang legen, eine Punktion eines Gefäßes durchführen... Das verstehen die nicht, dass sie da einen Arzt fragen müssen, ob sie das tun dürfen, oder der Arzt sagt, das ist jetzt sein Job. Das ist in allen anderen Ländern nicht mehr die Aufgabe des Arztes. Dafür sind die Ärzte zu teuer, zu qualifiziert, die können andere Dinge besser. Die Aufgaben kann eine qualifizierte Pflegefachkraft machen. Und die ausländischen Pflegekräfte halten uns heute schon den Spiegel vor, weil sie aufgrund ihrer Qualifikation andere Vorstellungen vom Beruf haben."
Auch Daisy Agravante musste sich umgewöhnen. Und noch etwas ist ganz anders in Deutschland als zu Hause auf den Philippinen. Pochollo, der ebenfalls im vergangenen Jahr am Bonner Uni-Klinikum angefangen hat, wunderte sich in seinen ersten Wochen über den Umgang mit den Patienten hier in Deutschland.
"Ich war schockiert", erzählt er. "Die älteren Patienten! Sie weinen, weil sie niemand besucht! Das macht mich sehr traurig. Auf den Philippinen sind die alten Menschen etwas Besonderes. Wenn jemand im Krankenhaus ist, kommt die ganze Familie zu Besuch und bleibt den ganzen Tag. Auf den Philippinen wird mit Mitgefühl gepflegt Aber hier soll alles nur schnell gehen. Im Job werde ich ständig ermahnt, dass ich schneller machen soll. Klar kann ich schneller. Aber es geht doch nicht nur um Geld und Effizienz. Man muss die Menschen mit Respekt behandeln. So mache ich das. Ich kann nicht anders."
Daisy ist nun ein Jahr in Bonn. Sie wohnt in einem Schwesternheim in Bad Godesberg zusammen mit vielen philippinischen Kolleginnen. Abends sitzen sie öfter zusammen, kochen landestypische Gerichte. Ein Stück Zuhause, das auch ein wenig darüber hinweg hilft, dass die eigene Familie auf der anderen Seite der Welt lebt. Auch wenn ihr der Geschmack der Heimat fehlt. "Spanferkel, das ist mein Lieblingsessen", sagt Daisy Agravante. "Gibt es auch hier, aber in Cebu auf den Philippinen schmeckt es besser als hier."

Tägliche Familientreffen via Internet

Daisys Tochter Hailey ist diesen Mai drei Jahre alt geworden. Den Geburtstag hat Daisy nur über Facebook miterlebt. Über die sozialen Netzwerke sehen und sprechen sich Daisy, ihr Mann und ihre Tochter jeden Tag. Immer morgens, wenn sie gegen sechs Uhr früh auf dem Weg ins Krankenhaus ist, ruft sie an. Denn dann ist auf den Philippinen Mittagspause.
Daisy sitzt an einem Tisch im Schwesternwohnheim und chattet per Smartphone mit ihrer Familie.
Den Geburtstag ihrer dreijährigen Tochter Hailey hat Daisy nur über Facebook mitgefeiert.© Kerstin Gallmeyer
Familienzeit via Internet. Doch: Es gibt gute Aussichten, dass das bald vorbei ist. Ende des Jahres wird Daisy zum ersten Mal auf die Philippinen fliegen, um ihre Familie zu sehen. Und inzwischen hat Daisy ihren mehrmonatigen Anpassungslehrgang hinter sich gebracht. Ende September kam die Anerkennungsurkunde. Das heißt, der unbefristete Arbeitsvertrag ist in greifbarer Nähe. Bald will sie die ersten Anträge zum Familiennachzug einreichen.
Wenn die Formalitäten erfüllt sind, könnten ihre Tochter und ihr Mann dann vielleicht schon Ende des kommenden Jahres nach Deutschland kommen. Ein Verlauf nach Plan.
Pflegedirektor Alexander Pröbstl wünscht sich das auch für viele weitere Pflegekräfte von den Philippinen, aus Bosnien-Herzegowina oder Serbien. Denn der Bedarf ist weiterhin enorm: "Ich denke mir, in einer Größenordnung zwischen 60 und 100 pro Jahr werden wir als großes Klinikum mit 2000 Mitarbeitern pro Jahr aus Drittländern brauchen."
Aus Sicht der Kritiker ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, um den Pflegenotstand in Deutschland zu lindern. Für Daisy ist es dagegen eine Chance auf ein besseres Leben:
"Mein Traum ist natürlich zu arbeiten, was ich wirklich will. Den habe ich schon erfüllt. Ich arbeite jetzt im Kardio-OP. Mein zweiter Traum ist es, meine Familie, meine eigene Familie und meine Geschwister nach Deutschland zu holen. Ich wünsche mir ein besseres Leben für uns alle."

Autorinnen und Autor: Heike Bredol, Kerstin Gallmeyer, Markus Person
Sprecherinnen: Inka Löwendorf, Luzie Kurth
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Carsten Burtke

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