Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er publiziert zu Bildungsfragen und arbeitet weiterhin in der Lehrerausbildung sowie als freier Schulberater. Er ist Mitbegründer der aktuellen Initiative Bildung NRW – da geht doch mehr!.
Bildungssystem in Schieflage
Uns fehlen weder Bürohengste noch Orchideenprofessuren, sondern Fachkräfte im Handwerk, betont der ehemalige Lehrer und Bildungsaktivist Michael Felten. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Zu viele Gymnasiasten, zu wenige Fachkräfte
Ohne Abi und Studium geht nichts, meinen viele Eltern. Kein Wunder, dass uns die Handwerker fehlen, sagt der Bildungsaktivist Michael Felten. Er fordert mehr Anerkennung für Ausbildungsberufe und strengere Zugangsbeschränkungen für Gymnasien.
Vier Gymnasiasten, vielleicht 9. Klasse, trödeln nach Hause, lästern über dieses und jenes, bleiben an einem Bauloch stehen. In drei Meter Tiefe müht sich ein junger Handwerker ab, ein Wasserrohr ist gebrochen. „Was macht der denn da – echt das Opfer!“, meint einer der Schüler. „So blöd müsste man sein, sich für andere die Finger dreckig zu machen!“, pflichtet sein Kumpan bei. Die Truppe zieht johlend weiter, einem legeren Nachmittag entgegen – ein bisschen Hausaufgaben, vielleicht Sport, sicher viel Tiktok.
„Hier stimmt was nicht“, so die jüngste Imagekampagne des Deutschen Handwerks. Die Bildungsexpansion seit 50 Jahren war sinnvoll. Der aktuelle, auch durch OECD-Rankings geförderte Studiersog ist aber ein Irrsinn. Zu viele Jugendliche machen sich einen Lenz in der Schule, obwohl der Bücherkram sie kaum interessiert.
Andere dürfen dafür als Bäcker früh aufstehen, als Zimmerleute bei Wind und Wetter Dachbalken montieren, als Bauern auch in den Ferien ackern. Konkretes Zupacken hat keinen guten Ruf mehr, Debatten und Konzepte sind angesagt. Aber davon werden wir weder satt, noch hat man es warm, noch wird man gepflegt. Was ist da schiefgelaufen?
Oft sind die Eltern das Problem
Schauen wir auf den Anfang. Berufswünsche von Kindern kreisen zunächst um Greifbares: Baggerfahrer, Polizistin, Lehrerin, Verkäufer. Aber viele Eltern blicken abschätzig auf den Bauarbeiter, schwärmen von Jobs mit weißen Hemdkragen, schauen zum Professor auf. Zudem verwöhnt man das eigene Kind nach Kräften, räumt ihm Hindernisse möglichst aus dem Weg. Die Freude am Sich-nützlich-Machen, die Orientierung am Gemeinwohl verkümmert.
Dann die Schule. Unser Süßer kein Abitur, das wäre echt der Abstieg. Also wird kräftig Druck gemacht – schon auf Drittklässler wegen der Noten, dann auf die Lehrerin bei der Gymnasialempfehlung. Danach schuftet man ordentlich, um permanent Nachhilfe zu ermöglichen. Dank aufgeweichter Noten schafft der Spross es bis zur Uni, braucht dort aber erst mal Vorkurse, landet letztlich irgendwo im Büro. Gelangweilt, befristet und schlechter bezahlt als sein Nachbar, der Installateur.
Mit Stolz einen Ausbildungsberuf ergreifen
Uns fehlen weder Bürohengste noch Orchideenprofessuren, sondern Fachkräfte im Handwerk. Junge Menschen, die gerne technische oder logistische Probleme lösen, denen Mühe und eine Prise Dreck nichts ausmacht, die mit Stolz von sich sagen: „Ich bin Lehrling.“
Als Lehrer hat mich anfangs verblüfft, dass die Schullust vieler meiner Gymnasiasten scheinbar anstieg, wenn sie aus dem dreiwöchigen Betriebspraktikum zurückkehrten. Nicht weil sie Formeln und Gedichte jetzt cooler gefunden hätten. Sondern weil sie gemerkt hatten, dass Unterricht ganz schön gemütlich ist – und das Arbeitsleben außerhalb der Schule ziemlich anstrengend. Dann doch lieber Abi probieren – und danach erstmal auf Weltreise gehen.
In meinem Garten musste kürzlich eine riesige Fichte gefällt werden. Wie zufrieden kann der Baumpfleger doch abends nach Hause gehen: Er hat die Welt ein Stück weit verändert, er hat etwas Nützliches getan – nämlich mit Fachwissen und Verantwortung dafür gesorgt, dass meine Nachbarn und ich beim nächsten Sturm ruhiger schlafen können.
Die Gesellschaft braucht Handwerker
Handwerker, Techniker, Pfleger – ohne sie wäre die Gesellschaft komplett aufgeschmissen. Sie sind unverzichtbar. Seit einiger Zeit haben wir uns angewöhnt, sie ärmeren Ländern wegzunehmen.
Dabei könnte man es auch wie die Schweiz machen. Dort lässt man im Schnitt nur jedes fünfte Kind ans Gymnasium. Die haben dann aber auch Bock auf Bücherlernen – sowie den nötigen Grips. Und die übrigen 80 Prozent gelten nicht als gesellschaftliche Resttruppe, sondern bilden die überwiegende Mehrheit der Jugend.
Die Folge: Selbst gute Schüler wollen dort gar nicht unbedingt ans "Gymi". Die Eltern drängen den Nachwuchs auch nicht dorthin. Die Berufe stehen gleichwertiger nebeneinander. So entsteht letztlich auch weniger gefühltes gesellschaftliches Oben und Unten.