Vom Drahtesel zum "Bike"
Drei Millionen Autos werden hierzulande jedes Jahr neu zugelassen - aber fast vier Millionen Fahrräder gekauft. Im Schnitt für 520 Euro. Vor allem der Trend zum Elektrofahrrad hält weiter an. Wo die Nachfrage boomt, sollte es den Herstellern blendend gehen. Tatsächlich ist der Markt schwierig.
Tausende Radfahrerinnen und Radler haben sich mit ihren Fahrzeugen auf dem Zubringer zur Stadtautobahn versammelt. Gleich geht´s ab auf die Hochstraße, die auf Betonstelzen das Bahnhofsviertel durchschneidet. Die Schnellstraße ist für viele ein verhasstes Monument des Autowahns. Heute sperrt die Polizei den Flyover für den motorisierten Verkehr. Dann - und nur dann! - dürfen Tourenräder und Rostlauben, Liegeräder und E-Bikes auf dem Betonband fahren. Früher nannte man das Ereignis "autofreien Sonntag". Heute heißt es „Autofreier StadTraum“ in Bremen oder „Radlnacht“ in München und bedeutet Radelfreiheit für ein paar Stunden.
In der Stadt wird das Fahrradfahren von Jahr zu Jahr beliebter. Immer mehr Kilometer werden mit Muskelkraft auf zwei Rädern zurückgelegt. Eine mächtige, fröhliche Bewegung.
Aber: Wo kommen eigentlich all die vielen Räder her? Zum Beispiel aus Cloppenburg, einem Zentrum der deutschen Fahrradproduktion. Kaum jemand kennt die niedersächsische Kreisstadt. Ringsum: Plattes Land. Kuhweiden, Maisfelder, soweit das Auge reicht. Keine Steigung, kein Gefälle. Ein Fahrrad käme hier sogar ganz ohne Gangschaltung aus.
700 Beschäftigte produzieren bei Derby Cycle in Cloppenburg rund eine halbe Million Fahrräder in Jahr. 2800 pro Tag. Das ist ein Achtel der deutschen Produktion. Den Vorläufer der traditionsreichen Fabrik hatte gleich nach dem ersten Weltkrieg der Landbriefträger Heinrich Kalkhoff gegründet. Damals machte die Firma die wichtigsten Bauteile eines Fahrrads noch selbst: Rahmen, Laufräder, Lenker, Sattelstützen. Sogar die Kettenradgarnituren waren Marke Eigenbau.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden neue Produktionshallen in Betrieb genommen, sogar Mopeds und Mofas waren nun im Programm. In den 1980er Jahren aber brach die Produktion ein, die Kalkhoff-Werke mussten Insolvenz anmelden und die "Neue Kalkhoff" fand sich schließlich 1992 in der Derby-Holding wieder. "Kalkhoff" ist heute nur noch eine von sechs Marken des Hauses. Inzwischen gehört das Unternehmen zur niederländischen PON-Gruppe, die auch die renommierten Gazelle-Hollandräder herstellt.
Wer heute durch die weitläufigen Lager- und Produktionshallen in Cloppenburg streift, staunt über die Vielfalt der Fahrradtypen, unterschiedlichen Rahmengrößen, Marken und Farben.
"Wir verstehen uns als Komplett-Anbieter. Wir haben ja mehrere Marken“, sagt Thomas Raith, Vorsitzender der Geschäftsführung. "Mit den Marken decken wir ein sehr breites Fahrradspektrum ab - von dem Kinderfahrrad über das E-Bike, über das normale City-Trekking-Rad, über das hochmoderne Full-Suspension-Mountain-Bike bis hin zu einem bei der Tour de France eingesetzten Rennrad.“
Die enorme Vielzahl von Modellen erfordert eine präzise Organisation der Betriebsabläufe. Für jeden Typ gibt es einen Laufzettel. Darauf ist vermerkt, was an jeder Station zu tun ist. An manchen Arbeitsplätzen hängen Übersetzungslisten für die aus aller Welt importierten Komponenten, damit der Mitarbeiter weiß, dass ein „Twister Shifter“ ein Drehgriff ist und der „Stem“ den Lenkervorbau bezeichnet.
An Laufbändern unter der Decke ziehen soeben ausgepackte und vorgearbeitete graue Alurahmen an uns vorbei . Sie sind auf dem Weg in die Lackiererei, wo sie in mehreren Arbeitsgängen pulverbeschichtet und anschließend in einem Ofen bei 80 Grad Celsius getrocknet werden.
"Natürlich ist eine breite Modellvielfalt schwieriger zu handeln für einen Hersteller." Nicht nur eine Vielzahl von Modellen wird gleichzeitig hergestellt, sagt Pressesprecher Arne Sudhoff. Die Modelle selbst werden auch ständig überarbeitet oder ausgewechselt.
"Die Modellzyklen im Fahrradbereich sind teilweise jährlich. Die sind nicht wie im Automobilbereich alle drei oder alle vier Jahre, wo es neue Modelle gibt. Hier werden pro Jahr von den 600 Modellen ungefähr 100 bis 200 Modelle neu gemacht. Und das heißt nicht nur, dass wir mit neuen Dekoren und Farben arbeiten oder einfach eine neue Schaltung dran schrauben. Sondern im Modell werden auch wirklich teilweise noch neue Modellfamilien entwickelt."
Der rasche Wechsel der Modelle, die wachsende Rolle von neuem Zubehör, aktuellem Design, Dessins und modischen Lackierungen, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat, mag für Kunden attraktiv sein und sie zum Fahrradhändler treiben - für die Hersteller bringt sie durchaus Probleme mit sich. Warum denn jedes Jahr neue Räder? Michael Bollschweiler, Chefredakteur des Branchenmagazins "Fahrradmarkt":
"Manchmal hat man das Gefühl: Das fragen sich die Hersteller auch, und man merkt auch erste Tendenzen, dass sie davon weggehen, weil der Engineering-Aufwand sehr massiv ist. Das mag historisch mal so gewachsen sein, auch durch die Verdichtung des Messe-Turnus, der ja mal vor langer Zeit alle zwei Jahre war und dann auf jährlich umwechselte."
Der Markt ist also immer in Bewegung, offen für alle möglichen Innovationen und dabei sehr preissensibel. Und der Fahrrad-Fachhandel sendet durchaus widersprüchliche Signale aus.
"Auf der einen Seite sagte gerade immer der Handel: Ihr müsst auch immer mal was Neues bringen. Und auf der anderen Seite sagt der Handel auch: Ständige Modellwechsel sind schädlich, weil, dann habe ich noch alte Modelle, dann muss ich darauf Abschläge geben. So dass man da so ein bisschen zwischen Baum und Borke steht."
Auch bei Derby-Cycle scheint die Ära der Modell-Inflation zu Ende zu gehen. Firmenchef Thomas Raith:
"Da, glaube ich, findet ein Umdenken statt. Weil, es ist über die Vielfalt der Produkte nicht mehr möglich, nicht mehr solche kurzfristigen Lebenszyklen zu machen, und es ist auch nicht in der Nachhaltigkeit der Dinge verankert. Das heißt, wir alle tun gut daran, etwas nachhaltiger zu planen.“
Andererseits: Die raschen Modellwechsel sind auch eine Folge des kräftigen Innovationsschubs, der die Branche seit einigen Jahren erfasst hat. In den 50er - und selbst noch in den frühen 80er Jahren - war ein Fahrrad eben ein Fahrrad. Ein möglichst stabiles, langlebiges, leichtlaufendes, chromblitzendes Fahrzeug für alle Zwecke. Wer eine Dreigangschaltung besaß, konnte sich schon glücklich schätzen.
Fahrrad heute oft anspruchsvolles High-Tech-Produkt
"Da gab es natürlich außer mal einer neuen Farbe kaum einen Grund, ein neues Modell einzuführen“,fasst Michael Bollschweiler den technologischen Stillstand jener Jahre zusammen. Das Fahrrad von heute aber ist kein "Drahtesel" mehr, sondern oft ein anspruchsvolles High-Tech-Produkt. Und "Fahrrad" möchte das Vehikel eigentlich gar nicht mehr genannt werden. Sondern modisch: "Bike". Und vom positiven besetzten "Bike" möchten selbst Autohersteller profitieren. Im Zubehör-Shop können Kunden von Smart, Mercedes, Audi oder BMW „stylishe“ Bikes bestellen. Die „Drivers‘ Selection“ von Porsche bietet drei schicke Design-Räder zum Preis zwischen 2.650 und 5.900 Euro an. Porsche-Preise eben. Hoffen die Hersteller, dass etwas vom sportlichen Image der Räder auf ihre Benzinkutschen überspringt?
Fast geräuschlos kurven Pedelecs - Fahrräder mit Elektromotor-Unterstützung - schwungvoll über die Teststrecke in Halle 8 der Messe "Fahrrad Essen". Nur wenn die Fahrradlenker die kleine Steigung zu einer Brücke nehmen, scheppert es vernehmlich. Die meisten Testpiloten gehören zur Generation Ü60 und sitzen das erste Mal auf so einem Elektro-Fahrrad. Sie sind begeistert.
"Super! Ich bin heute das erste Mal auf einem E-Bike gefahren. Und jetzt bin ich über 60. Jetzt hab ich mir überlegt: Ob ich jetzt 700, 800 Euro für ‘n normales bezahle. Oder ‘n bisschen mehr bezahle. Es lässt sich klasse fahren, ich hab mal alles probiert jetzt in den zehn Runden, auch ohne Schaltung zu fahren und dann dementsprechend unterstützt zu fahren. Macht einfach Spaß bin jetzt 66 und möchte ganz gerne mit sportlichen Herren Fahrradtouren machen, und so mache ich es mir ein bisschen leichter. Jetzt schaue ich über die Messe und mache mich noch ein bisschen schlau. Und dann weiß ich, was ich haben möchte."
Pedelecs sind derzeit der Renner auf Messen und im Fahrradgeschäft. Immer mehr Räder haben einen Elektromotor, der den Fahrer beim Radeln unterstützt und Geschwindigkeiten bis zu 25 Kilometern pro Stunde erlaubt. So lange Elektroräder dieses Limit einhalten, gelten sie als normale Fahrräder, sind versicherungs- und steuerfrei und dürfen Radwege benutzen. Das Radeln verlangt deutlich geringeren Kraftaufwand und erweitert so den Radius der Nutzer. 450.000 E-Bikes wurden im vergangenen Jahr in Deutschland verkauft - jedes achte Fahrrad wird inzwischen elektrisch unterstützt. Nachhilfe aus dem Akku gibt es nicht nur für gemütlich dahinrollende Stadt- oder Tourenräder. Selbst Mountainbikes sind mit Elektromotor erhältlich. Der E-Bike-Boom hat der Fahrradindustrie einen beträchtlichen Innovations-Pusch - und zusätzlichen Umsatz beschert.
"Heute versucht natürlich jeder, auf diesen Zug mit aufzuspringen. Und jeder versucht auch, ein Stück von diesem Kuchen abzubekommen. Aber auch nicht jeder kann das entsprechend halten, weil das Thema nichts mit einem normalen Fahrrad zu tun hat."
Rahmenentwicklung beim E-Bike völlig anders als beim normalen Fahrrad
Der Oldenburger Hersteller Cycle Union - 180 Mitarbeiter, 125.000 Fahrräder Jahresproduktion - beschäftigt sich schon seit zehn Jahren mit der Entwicklung des Pedelecs, sagt Produktmanager Rainer Gerdes.
"Sie können nicht einfach ein normales Rad nehmen und einen E-Bike-Motor reinschrauben und dann das Produkt auf die Straße bringen. Da raten wir von ab, weil wir schon sehen, dass das auch mit Risiken verbunden ist."
Cycle Union ist ein relativ junges Unternehmen, das auf drei Marken setzt: VSF Fahrradmanufaktur, Rabeneick und Kreidler. Außerdem fertigen die Oldenburger die leuchtend gelb lackierten Briefträger-Räder für die Deutsche Post. Ähnlich wie beim Cloppenburger Marktführer Derby Cycle werden die in Deutschland entworfenen Rahmen in Asien gefertigt, importiert und die übrigen Fahrrad-Bestandteile, die so genannten "Komponenten", zugekauft. Zugleich ging in Oldenburg viel Gehirnschmalz in die Anpassung von Rahmen und Komponenten an die neuartigen Erfordernisse eines Elektrofahrrads.
"Als das Thema "Elektromobilität" ein größeres wurde, haben wir ganz schnell darüber nachgedacht, was wir tun müssen, um überhaupt den Sicherheitsansprüchen auch gerecht zu werden. Das heißt, eine heutige Rahmenentwicklung für ein E-Bike ist eine völlig andere als beim normalen Fahrrad. Dort werden auch völlig andere Komponenten verbaut. Und insofern ist das Rad bei uns von der ersten Minute ab komplett mit neu entwickelt worden und wird bei uns total separat betrachtet.“
3,8 Millionen Fahrräder und E-Bikes wurden 2013 in Deutschland verkauft. Eine stolze Zahl, verglichen auch mit der Autoindustrie. Denn im selben Zeitraum wurden nur 3 Millionen Autos neu zugelassen. Mobilität hat heute ein anderes Gesicht als noch vor zehn Jahren. Vor allem in Großstädten mit mehr als einer halben Million Einwohnern setzt heute jeder Dritte ausschließlich aufs Fahrrad - private Autos werden abgeschafft, gelegentlich leiht man an der Car Sharing Station einen Pkw aus.
Die amtierende Bundesregierung hat sich die Förderung der Elektromobilität auf ihre Fahnen geschrieben. Bis 2020 soll eine Million Elektroautos auf unseren Straßen unterwegs sein. Daraus wird wohl nichts werden. Ganze 8.522 Elektro-Pkw wurden im vergangenen Jahr neu zugelassen. Eine Million Elektro-Autos? Kein Thema ist die Millionen-Schwelle bei den E-Bikes, davon sind jetzt schon 1,6 Millionen unterwegs.
Derby-Cycle Geschäftsführer Thomas Raith kann sich da mit Genugtuung zurücklehnen.
„Ich glaube, dass wir als Fahrradindustrie es geschafft haben, ein sehr einfach zu nutzendes und preis-/leistungsmäßig sehr attraktives Fahrzeug auf die Beine zu stellen, das in seiner Praxistauglichkeit sehr einfach zu nutzen ist. Während die Autoindustrie in punkto Reichweite, in punkto Lademöglichkeit, Ladestationen, in punkto Anschaffungspreis, noch nicht den Endkunden wirklich erreicht hat. Was beim E-Bike in der Tat der Fall ist.“
Das Fahrrad hat sich durchgesetzt - komme es nun aus den großen Fabriken oder aus kleinen, handwerklich arbeitenden Manufakturen. Und die Kunden sind bereit, für ein Fahrrad immer tiefer in die Tasche zu greifen. Kostete das Rad im Schnitt vor fünf Jahren noch 446 Euro, liegt der Durchschnittspreis heute bei 520 Euro. Dennoch: Mit ihren 50.000 Beschäftigten und rund vier Milliarden Euro Umsatz nimmt sich die Fahrradindustrie gegenüber der mächtigen Autoindustrie recht bescheiden aus.
Nicht allen Firmen gelingt es, vom Boom zu profitieren
Jedes zweite in Deutschland verkaufte, fertig montierte Fahrrad übrigens wird importiert. Wichtigstes Herkunftsland mit mehr als einer halben Million Rädern ist Kambodscha, gefolgt von Taiwan, dem Sitz von Weltmarktführer Giant, sowie Polen und Litauen. Im sagenhaften Fahrrad-Imperium Volksrepublik China werden trotz Auto-Booms jährlich immer noch 86 Millionen Räder hergestellt, das sind 58 Prozent der Weltproduktion. Dennoch landet China mit einem Anteil von bloß vier Prozent in der deutschen Importstatistik auf einem der hinteren Plätze. Der Grund: Zweiräder aus dem Reich der Mitte werden durch einen Anti-Dumping-Zoll vom europäischen Markt gezielt ferngehalten, berichtet ZIV-Geschäftsführer Siegfried Neuberger:
"Es ist so, dass die Europäische Kommission in einem Rhythmus von fünf Jahren immer diese Anti-Dumping-Regeln überprüft und immer wieder feststellt, dass Fahrräder, die in China produziert werden, mit Exportzuschüssen versehen werden von der chinesischen Regierung, um diese Fahrräder attraktiv zu machen. Und das führt dann dazu, dass die Europäische Kommission sagt: ‚Das ist kein fairer Wettbewerb‘ und im Falle von Kompletträdern einen Anti-Dumping-Zoll von 48,5 Prozent verhängt hat."
Die Volksrepublik ist derzeit das einzige Land, das der Bannstrahl des Anti-Dumping-Zolls, der chinesische Fahrräder teurer macht, trifft. Natürlich wird diese Marktschranke oft ausgehebelt. Etwa dadurch, dass chinesische Räder über unverdächtige Drittländer in die EU gelangen. Oder Fahrradfabriken mit chinesischem Kapital in Ländern wie Vietnam produzieren.
Die deutsche Fahrradindustrie kann auf staatliche Export-Subventionen nicht hoffen. Sie ist - nach Italien - Europas zweitgrößter Produzent und verkaufte 2013 fast 1,3 Millionen Vehikel ins Ausland, ganz überwiegend in EU-Länder. Größter Abnehmer ist das Fahrradparadies Niederlande. Der schwache Euro begünstigt derzeit zudem Exporte in Staaten außerhalb der Eurozone.
Mit einer stabilen Nachfrage und wachsendem Anteil der teureren, umsatzsteigernden E-Bikes könnte die Branche eigentlich zufrieden sein. Aber nicht allen Firmen gelingt es, nachhaltig vom Fahrrad-Boom zu profitieren. Die Mifa Bike GmbH im sachsen-anhaltinischen Sangerhausen ist so ein Beispiel. Nach der Wende hatte die Treuhand den volkseigenen Betrieb „Mitteldeutsche Fahrradwerke“ übernommen. Doch die Mifa-Modelle galten auf dem internationalen Markt in technischer, qualitativer und optischer Hinsicht als nicht konkurrenzfähig. Die Folge war 1995 der Konkurs. Nach Besitzerwechseln kam die Mifa wieder auf die Beine und wurde mit einer Jahresproduktion von 700.000 Fahrrädern zeitweise Europas größte Fahrradfabrik, gestutzt allerdings auf ein reines Montagewerk ohne eigene Produktionsanteile. 2011 stieg der Hannoveraner Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer bei Mifa ein, im Jahr darauf erhöhte er seine Beteiligung auf 33 Prozent. Doch 2013 schrieb das Unternehmen bereits Verluste von 13 Millionen Euro. Ende 2014 drohte erneut die Zahlungsunfähigkeit, nachdem eine Beteiligung des indischen Fahrrad-Giganten Hero gescheitert war. Im Dezember 2014 verhinderte der Einstieg des Autozubehörherstellers Heinrich von Nathusius den Zusammenbruch des Traditionswerkes mit 600 Beschäftigten. Branchenkenner Michael Bollschweiler sieht in der Beinahe-Pleite von Mifa neben Management-Fehlern vor allem strukturelle Ursachen:
"Wie sieht es eigentlich mit dem Konzept für die Mifa langfristig aus? Und diese Frage stellt sich nicht heute mit neuem Eigner, sondern die hat sich eigentlich vor Jahren auch schon gestellt, weil die Mifa anders als andere große Hersteller, vornehmlich in dem Bereich unterwegs war, den man branchenintern salopp ‚Grüne Wiese‘ nennt. Also den Bereich Baumarkt, Lebensmittelmarkt etc. Das ist ein Segment, das seit Jahren Anteile verliert. Und die meisten Fahrradfirmen, die in den letzten fünf oder zehn Jahren aus unserem Bild verschwunden sind, die die so genannte ‚Grüne Wiese‘ und nicht den Fachhandel beliefert haben.“
Entgegen dem Trend in anderen Branchen ist der Anteil des Fachhandels am Vertrieb in Deutschland von 52 Prozent anno 2004 auf heute 70 Prozent gestiegen. Mifa liefert nach wie vor an Großkunden wie Aldi und Metro. Für Daimler-Benz stellt man Smart-Fahrräder her. Ein kleiner Teil des Vertriebs wird heute mit dem Argument des "unschlagbaren Preis-/Leistungsverhältnisses" übers Internet und zwei Outlet-Stores abgewickelt. Wer ein Problem mit seinem Rad hat, kann eine Hotline anrufen. In einer beratungsintensiven Branche ist der Verkauf ab Werk eine riskante Strategie und soll unter dem neuen Eigentümer ebenso korrigiert werden wie die ungenügende Berücksichtigung des E-Bikes.
Derby Cycle, Union Cycle, Mifa - die deutsche Fahrradindustrie ist abhängig von global agierenden Zulieferern meist aus dem asiatischen Raum. Das fängt schon beim Rahmen an, dem Herzstück jedes Fahrrads. Rahmen sind meist aus Aluminium, auch aus Karbon. Große Produzenten wie Derby Cycle bestücken ihre E-Bikes immerhin mit selbst entwickelten, in Deutschland hergestellten Motoren. Andere Hersteller sind angewiesen auf die Großen der Elektrobranche wie Bosch, der seine Fahrradmotoren in Ungarn herstellen lässt.
Tatsächlich ist die Abhängigkeit der Hersteller von Zulieferern aus Übersee auch ein logistisches und betriebswirtschaftliches Problem. Nicht zuletzt wegen des raschen Modellwechsels, der eine zuverlässige, lückenlose Nachschubkette erfordert. Dazu Siegfried Neuberger vom Zweirad-Industrie-Verband ZIV, der 80 Unternehmen vertritt:
"Bei einer Produktion in Asien hat man eben sehr lange Vorlaufzeiten - von der Bestellung eines Produktes über die Montage bis hin zum Transport. Es ist ungefähr ein halbes Jahr von Bestellung bis Lieferung. Man hat einfach nicht die Flexibilität, die man haben müsste, um schneller auf Marktbedürfnisse reagieren zu können. Es handelt sich also hier zum Großteil um die Probleme, die mit der Distanz zusammenhängen."
"Von daher wäre es zu begrüßen, mehr und mehr Lieferanten dazu zu bewegen, auch die Produktion in Europa oder in Deutschland wieder aufzunehmen und Lösungen zu schaffen, wie man diese auch kostenneutral bewerkstelligen kann“, heißt es bei Derby Cycle. Alternative Bezugsquellen sind bei vielen Komponenten für Standard-Fahrräder auf dem europäischen Markt durchaus vorhanden. Zur Ausrüstung sportiver Fahrräder beispielsweise mit anspruchsvollen Schaltungen dagegen sind Hersteller wie Shimano aus Japan derzeit kaum zu ersetzen.
Kleine Manufakturen bauen Räder nach Maß
Fahrradherstellung heißt nicht zwingend Massenproduktion. Entgegen dem Branchentrend behaupten sich noch einzelne Unternehmen, die jeden einzelnen Rahmen nach dem persönlichen Aufmaß des künftigen Fahrers aus Stahl schmieden. Zum Beispiel die kleine Manufaktur Patria aus Bielefeld. Wer die Internet-Seite anklickt, stößt zunächst auf Piktogramme unterschiedlicher Körperhaltungen, die Menschen auf einem Fahrrad einnehmen: königlich aufrecht, leicht gebeugt oder schon fast liegend mit gestrecktem Oberkörper.
Je nachdem, für welche Sitzposition sich der Kunde entscheidet, werden bei Patria die Rohre zugeschnitten, verschweißt, verlötet, mit Muffen verbunden.
"Unsere wesentliche Leistung ist natürlich der Rahmen und das ergonomische Anpassen und die Lackierung. Montieren tun wir Komponenten, die wir kaufen."
Jochen Kleinebenne ist Inhaber und Geschäftsführer von Patria. Sein Großvater hatte das Familienunternehmen 1950 gegründet.
Seine Firma spiele durchaus eine Sonderrolle in der Branche, meint Jochen Kleinebenne. Hier arbeiten 20 Beschäftigte auf traditionell handwerklicher Grundlage am „Fahrrad von A bis Z“. Handarbeit also, selbst Druckluftschrauber sind verpönt.
Der Schwerpunkt liegt auf der Rahmenproduktion.
"Wir können die Qualität von Anbeginn kontrollieren, wir geben 15 Jähre Garantie. Stahl und Stahl zu verarbeiten mit Muffen ist das haltbarste Verfahren überhaupt. Man denkt immer, Stahl wäre schwer. Das ist nicht so. Einer unserer Rahmen wiegt zwischen 2 und 2,8 Kilo, schon ein richtiges Reiserad, was schwer belastbar ist."
Wer ein Patria-Rad fahren will, muss allerdings Geduld mitbringen. Er kann das Objekt der Begierde nicht beim ersten Händlerbesuch gleich mitnehmen. Erst wird der Kaufinteressent ausgemessen, dann das Rad produziert, dann ausgeliefert. Einen Druck zum ständigen Modellwechsel spürt Jochen Kleinebenne nicht.
"Sie finden Modelle, die schon seit fast 20 Jahre im Programm sind. Die leben, also die werden immer weiter entwickelt und weiter verbessert. Und die Farben ändern wir auch nicht ständig. Also keine "Kollektion", wie in der Mode. Das würde dem Produkt auch nicht gerecht."
Manche Radbegeisterte wünschen sich sogar noch mehr Individualität.
"Es ist ein Krautscheid-Rahmen, und Krautscheid ist eine Bochumer Rahmenschmiede, nur Einzelstücke, das ist sozusagen wie ein Maßanzug. Es wurde für jemanden, also jetzt nicht für mich, nach dessen Maßen angefertigt. Diesen Rahmen gibt es also nur ein einziges Mal in genau diesen Abmessungen, und da habe ich mich absolut in dieses Fahrrad verliebt."
Bettina Hartz ist leidenschaftliche Radfahrerin. Schon von Kindesbeinen an. Von Beruf ist sie Schriftstellerin. Ihr jüngstes Buch heißt: "Auf dem Rad. Eine Frage der Haltung." Das ist eine Liebeserklärung ans Radfahren. Bettina Hartz besitzt zwei Fahrräder. Eines, ihr Alltagsrad, steht im Keller und soll hier nicht weiter interessieren. Das andere, ihr maßgeschneidertes Einzelstück, hat sie erst gestern durchs Treppenhaus in ihre Wohnung, Berliner Altbau, vierter Stock, hochgeschleppt. Ein Freund, sie nennt ihn nur "den Fahrrad-Affinen", hat ihr das gebrauchte Rad aufgemöbelt und nach allen Regeln der Kunst - kann man sagen: gestylt?
"Und dann habe ich mir sehr gewünscht, helle Mäntel zu haben, also keine dunklen, weil ich diese Fahrräder in den französischen Filmen so mag, und ich hatte auch als Kind so ‘n Fahrrad mit hellen Mänteln, ich finde das ganz besonders elegant."
Der Clou aber ist der schwarz umwickelte Lenker!
"Der ist bezogen mit dem Leder aus den alten Stiefeln der Freundin des Fahrrad-Affinen. Alles Handarbeit, selber zusammengenäht.“
Selbst Bambus dient als Rahmen-Material
Eine solch aufwändige Herstellung eines persönlichen Lieblingsfahrrads ist noch Ausnahme im Millionenheer der Fabrik-Zweiräder. Einerseits. Andererseits existiert gerade in der Fahrradbranche heute eine Vielzahl von Kleinstbetrieben, die Sonderwünsche einer immer anspruchsvoller werdenden Kundschaft erfüllen.
Zum Beispiel das "Faserwerk" von Tobias Meyer. Der Mittvierziger produziert in den Kellerräumen einer Bremer Villa Fahrräder mit Rahmen aus Bambus.
"Die ökologischen Aspekte sind sicherlich einzigartig im Rahmenbaubereich. Das ist halt ein nachwachsender Rohstoff. Das war aber gar nicht mal der Hauptaspekt, weshalb ich da so ‘n bisschen ‘nen Narren dran gefressen habe. Eigentlich sind es die Fahreigenschaften. Weil der organische Werkstoff gut zu dem organischen Menschen, der da drauf sitzt, passt. Man hat halt ‘n Fahrrad, das Stöße absorbiert, also vibrationsdämpfend wirkt. Bambus ist da recht unbeugsam. Also er gibt nach, aber er bricht nicht."
Tobias Meyer schneidet Bambusstäbe unterschiedlicher Dicke nach Maß zu und verklebt sie mit einem Muffenverband aus Flachsfasergewebe und Kunstharz. Sein erstes Bambusrad hatte der gelernte Drei-D-Designer mit Recycling-Komponenten von Rädern aus dem Fundamt ausgestattet.
"Sah damals noch sehr abenteuerlich aus, gerade von den Verbindungen her, fuhr sich aber extrem gut."
Dann konstruierte er ein pedalloses Laufrad für seine kleine Tochter - überhaupt das erste Bambusrad für Kinder. Inzwischen fertigt er bis zu zwei Bambusräder im Monat und kann daran denken, einen Mitarbeiter einzuarbeiten.
Billig sind Bambusräder nicht. Drei bis dreieinhalbtausend Euro kostet der Spaß. Aber eine aufgeschlossene, zahlungskräftige Klientel sei durchaus vorhanden, meint Tobias Meyer.
"Sind meist akademisch gebildete Menschen mit ´nem relativ ausgeprägten Umweltbewusstsein, die meist auch kein anderes Fortbewegungsmittel besitzen als ‘n Fahrrad. Die haben dann schon zwei, drei Fahrräder und sagen: ‚Andere Leute machen ne Weltreise, ich kauf mir jetzt ein schönes Fahrrad bei Ihnen. Da hab ich ein bisschen länger was von.‘"
Auch in der nun beginnenden Radler-Saison 2015 werden wieder Millionen Fahrräder verkauft werden. Der E-Bike-Anteil wird weiter wachsen, und weil E-Bikes ein Mehrfaches einen „normalen“ Rades kosten, die Umsätze in die Höhe schnellen lassen. Hat der E-Bike-Boom die Branche gerettet? Experte Bollschweiler schüttelt den Kopf.
„Das würde ich nicht so sagen. Ich bin ziemlich sicher, dass auch ohne das E-Bike das Fahrrad das Fahrrad weiter sich gut verkauft hätte. Und es gab und gibt genügend Innovation im Fahrradbereich, die nicht E-Bike bezogen sind. Ich bin schon der Meinung, dass, wenn das E-Bike nicht gekommen wäre, wir eben heute sehr stark über sehr moderne City- und Trekkingräder so sprechen würden. Und dass die sich auch verkaufen würden. Also um die Fahrradindustrie hätte ich mir auch ohne das E-Bike niemals Sorgen gemacht.“