Gestern in, heute out, morgen wieder in?
Die einstige Radfahrernation China hat ihre Liebe zum Auto entdeckt. Wer es sich leisten kann, steigt um. Doch inzwischen gibt es wieder eine kleine Avantgarde, für die Radfahren im Trend liegt - über das Comeback einer alten Liebe in China.
Schon allein der Ton der Klingel ist Musik in Herrn Qians Ohren. Diesen alten Klang, den höre man ja kaum noch, sagt der 60-jährige. Herr Qian ist Rentner, ohne Führerschein. Einer, der aus Gewohnheit, aber auch Leidenschaft mit dem Fahrrad fährt, einem alten Modell der legendären Shanghaier Marke Forever. Im heutigen Shanghai fühlt sich Herr Qian damit aber buchstäblich an den Rand gedrängt.
"Früher bedeckten Radfahrer die ganze Straße, wie Ameisen. Jetzt fahren überall Autos. Und die sind so viel stärker als wir. Gleichzeitig gibt es immer mehr Straßen, auf denen Radfahren nicht erlaubt ist. Überall stehen Warnschilder. Ich muss mein Fahrrad ständig über den Gehweg schieben."
Chinas junge Generation fährt gerne Auto
Es ist die Generation von Herrn Qian, die noch Fahrrad fährt in Chinas Städten. Die Jüngeren sind längst umgestiegen. Kerstin Geppert kennt die Zahlen. Die Deutsche promoviert an der Shanghaier Fudan-Universität. Sie hat Entwicklung des Radfahrens in China wissenschaftlich untersucht. Das Beispiel Peking:
"1986 lag der Radverkehrsanteil in Peking bei 63 Prozent. Damals gab es noch kaum Privatfahrzeuge in China, auch keine S-Bahn oder U-Bahn. Das hat sich in den darauffolgenden Jahren schlagartig geändert. 2012 waren es kaum noch 16 Prozent aller Wege, die mit dem Fahrrad zurückgelegt wurden."
Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig. Da sind die rapide gestiegenen Einkommen und der Siegeszug des Autos. Da ist die rasante Urbanisierung. Shanghais Bevölkerung etwa hat sich seit den Achtzigerjahren auf 25 Millionen Menschen verdoppelt. Neue Vorstädte, viele Kilometer weit draußen, sind entstanden. Das sind keine Fahrraddistanzen mehr. Neben dem Auto hat die U-Bahn den Verkehr übernommen. Und schließlich hält die Luftverschmutzung die Menschen vom Radfahren ab. Das Fahrrad ist eine Sache der Rentner und Armen geworden, die sich nicht einmal einen Elektroroller leisten können.
Sanftes, aber spürbares Revival
So sieht es aus. Und doch ist es nicht die ganze Geschichte. Das Fahrrad erlebt ein bislang noch sanftes, aber spürbares Revival.Gao Shusan hat vor einem Monat in Shanghai eine neue Fahrradmarke gegründet. Wakeup heißt sie. Gaos Ziel war, wieder ein klassisches Stadtfahrrad zu schaffen, einfach in der Form, schlicht, solide. Mit Schutzblech und Metall-Korb.
"Unsere Räder haben einfache Farben, die zu jeder Kleidung passen, vom Anzug bis zum T-Shirt. Sie sind schwarz, silber oder weiß, so wie ein Auto. Die Reifen sind etwas dicker als bei Fixed-Gear-Rädern, aber dünner als bei Mountainbikes. Eine gute Mischung aus Stabilität und Geschwindigkeit."
Gao Shusans Räder sind nicht billig. Ein Herrenrad etwa kostet umgerechnet 370 Euro. Doch er sieht sich als Trendsetter und glaubt fest an die Zukunft des Fahrrads in China.
"Viele Autofahrer werden verstehen, was gut das Radfahren für ihr Leben und für die Umwelt ist. Die werden wieder umsteigen. Denn China hat keine andere Wahl. Wir müssen den europäischen Weg des Fahrrads gehen, nicht den amerikanischen, der ganz aufs Auto setzt. China hat nicht die Landressourcen dafür."
Größte Radverleihsysteme der Welt
Noch ist das Auto ein Statussymbol. Doch in den großen Metropolen denken die ersten um. Lieber in der Nähe des Jobs wohnen und Rad fahren anstatt stundenlang im Auto oder in der vollen U-Bahn zu pendeln. Auch die Behörden ziehen angesichts des Dauerstaus nach. In Chinas Städten gibt es mittlerweile rund 100 Fahrradverleihsysteme, in Hangzhou und Wuhan sogar die größten der Welt. Das neue Interesse am Fahrrad schlägt sich selbst an der Börse nieder. Die Aktien des Traditionsherstellers Forever zum Beispiel haben ihren Wert seit dem vergangenen Sommer verdoppelt.
"Radfahren ist ein wichtiger Teil meines Lebens, sagt Herr Qian. Die zwei Räder und der Rahmen haben einen großen Teil meines Lebens getragen. Das kann man mir nicht nehmen."
Wer weiß, vielleicht ist Herr Qian mit seinem Rad bald schon nicht mehr so einsam auf der Straße.