Widersprüche als Keim gesellschaftlicher Reife
Im Streit vergisst man oft, dass die eigenen Überzeugungen voller Widersprüche stecken. Zu diesen, seinen kleinen und großen Ungereimtheiten sollte jeder stehen. Denn wer sich seine Widersprüche eingesteht, wachse daran, so der Soziologe Nobert Copray.
Wohin man schaut, begegnet man Widersprüchen. Beispielsweise bei politischen Akteuren. Dinge werden versprochen, die dann nicht passieren. Wie etwa das konsequente Eintreten des Staates gegen rechtsextreme, rechtsradikale, rechtsfanatische Umtriebe.
Denn mit einem großen Stellenabbau bei der Polizei seit 1997 wurde ein Vakuum geschaffen, das sich nun als Staatsschwäche rächt - im Umgang mit Brandstiftung, Überfällen, Diebstählen in den Grenzregionen und mit Gefährdern, aber auch in einem geordneten und schnelleren Umgang mit Flüchtlingen.
Oder die vielfach beschworene Umweltorientierung der Klimapolitik Deutschlands: sie besteht faktisch darin, Fortschritte in der Umweltpolitik Europas auszubremsen. Stichwort: Abgasskandale der deutschen Autohersteller.
Man begegnet Widersprüchen in der Kultur: Bibliotheken werden geschlossen, aber angeblich sei es wichtig, dass die Lesekultur erhalten werde.
Widersprüche auch in der Wirtschaft: Viele Unternehmen beteuern, sich um Fairness gegenüber Mitarbeitern, Kunden und dem Staat zu kümmern. Wenn man genau hinschaut, sieht Vieles eher nach guter Werbung und Public Relation aus. Und hinter der Maske der Nachhaltigkeit wird kontrollierter Raubbau betrieben.
Widerspruchsfreie Identität war einmal
Diese Widersprüche sind auch die Widersprüche der Bürger. Alle wollen eine bessere Welt, aber keine eigenen Nachteile dadurch. Auf der regionalen, europäischen und globalen Ebene sind wir in Widersprüchen verheddert und werden selbst zu einem Bündel aus Anforderungen, die auch mit dem besten Willen nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Schon gar nicht in einer Person.
Widerspruchsfreie Identität – das war einmal. Heute leben wir eine paradoxe Identität. Das eigene Leben gestalten müssen und dabei neben sich stehen, das strapaziert, belastet Etliche so sehr, dass sie daran leiden, Burnout, Depression oder gar schizoide Verhaltensweisen entwickeln.
Doch es gibt kein Entrinnen. Denn unsere Widersprüche sind zahlreich wie Sand am Meer: Unser Land soll Flüchtlinge aufnehmen, aber nicht bei uns um die Ecke! Unser Land soll aus Atom und Kohle aussteigen, aber ohne Windmühlen und Stromleitungen in unserer Nähe! Wir wollen gesunde Lebensmittel, eine natur- und tierverträgliche Landwirtschaft, aber keine steigenden Kosten!
Widersprüche sind der Stoff für Neues
Die Liste ist lang. Bei jedem und jeder. Und kein Grund zur Resignation, wenn wir uns Klarheit verschaffen darüber, wie wir mit Widersprüchen klug umgehen zugunsten unserer persönlichen, sozialen und kulturellen Reife, umgehen mit der Zwickmühle von Moral, Ethik und freier Selbstbestimmung, umgehen mit dem Internet und unserem Anspruch an Kommunikation, umgehen mit dem Geist und Ungeist von Menschen und Organisationen.
Oftmals sieht man die Widersprüche bei den anderen, die eigenen sieht man nicht. Sich vor ihnen wegducken, sie leugnen, sie durch fundamentalistisches Denken und Handeln zum Verschwinden bringen: das verschenkt Entwicklungspotenzial. Es bringt mehr, sich Widersprüche einzugestehen, als Einladung zu verstehen, sie allein und miteinander durchzuarbeiten, um an ihnen zu wachsen.
Denn in jedem Widerspruch steckt der Keim für einen neuen Schritt menschlicher und gesellschaftlicher Reifung. Der Kompass stimmt, so er immer wieder geeicht wird, so wir immer wieder lernen, fair mit uns und anderen umzugehen.
Die Dialektik unserer Widersprüche ist der Stoff, aus dem Neues zu werden vermag. So wie das Universum ständig neue Sterne gebiert - und Leben.
Norbert Copray, geboren 1952, ist Philosoph, Diplomtheologe, Sozialwissenschaftler und Journalist. Gründer und Direktor der Fairness-Stiftung. Begleitet als Coach und Berater Führungskräfte, Teams und Organisationen. Herausgeber und Gesellschafter von "Publik-Forum". Autor zahlreicher Bücher - wie: "An Widersprüchen wachsen. Im Zwiespalt von Geld und Liebe, Moral und Ethik, Kommunikation und Internet, Geist und Ungeist".