Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau sowie am Basler Philosophicum. Er gab jüngst im Suhrkamp-Verlag den Sammelband "Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte" sowie für die Insel-Bücherei "Die schönsten deutschen Aphorismen" heraus.
Eindeutige Antworten gibt es oft nicht
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Faktenchecks gelten als probates Mittel, um gegen Fake News und Verschwörungstheorien vorzugehen. Doch ihre Aussagekraft ist oft begrenzt, warnt Philip Kovce. Weil die Wirklichkeit oft viel zu komplex für ein schlichtes Label "wahr" oder "falsch" ist.
Zugegeben: Auf den ersten Blick bestechen Faktenchecks durch Nüchternheit und Sachlichkeit. Während es im Eifer des diskursiven Gefechts oftmals drunter und drüber geht, sollen sie dafür sorgen, dass die Spreu der Unwahrheit vom Weizen der Wahrheit getrennt wird. Doch so gut das auch klingt und so gern wir immerfort informiert und aufgeklärt sind, so fahrlässig ist es, Faktenchecks voreilig für den Goldstandard journalistischen Qualitätsmanagements und das Nonplusultra demokratischer Willensbildung zu halten.
Gerade aus informierter, aufgeklärter Perspektive gilt es zu betonen, dass Tatsachenbehauptungen in der Regel alles andere als nackte Wahrheiten oder blanke Lügen darstellen, die sich mal eben kurz vor dem nächsten Redaktionsschluss checken lassen. Richter und Forscher brauchen für Wahrheitsfindung und Urteilsbildung oftmals Jahre, weil die Wirklichkeit selten schwarzweiß ist. Und genau deshalb ist anstelle simplen Faktencheckings vornehmlich eine differenziertere Wahrnehmung gefordert.
Ein Beispiel: Wenn in einer Talkshow mal wieder behauptet wird, dass wir noch nie so viel wie heute gearbeitet hätten, dann scheint das zunächst ein klarer Fall für flinke Faktenchecker zu sein. Die schwarzweiße Faktenchecker-Frage lautet: Arbeiten wir heute mehr als früher – ja oder nein? Die Antwort der bunten Wirklichkeit lautet: Es kommt darauf an.
Faktenchecks sind weniger klar, als sie vorgeben
Zieht man Zahlen des Statistischen Bundesamtes zurate, so geht daraus hervor, dass 2019 im Jahresdurchschnitt rund 45 Millionen Menschen bundesweit erwerbstätig waren. In der Tat so viele wie nie zuvor in Deutschland. Dem entspricht eine Erwerbsquote von rund 60 Prozent der Gesamtbevölkerung – ebenfalls ein historischer Spitzenwert.
Betrachtet man dagegen die Arbeitsstunden pro Jahr, die jeder Erwerbstätige leistet, so ist festzustellen, dass 1970 jeder Erwerbstätige am Jahresende durchschnittlich noch rund 2000 Arbeitsstunden auf dem Buckel hatte. 1991 waren es rund 400 Stunden weniger und 2019 kamen nur rund 1400 Arbeitsstunden zusammen – so wenige wie nie zuvor in Deutschland.
Fazit: Zwar arbeiten tendenziell immer mehr Menschen in Deutschland, aber sie arbeiten immer weniger. Womit freilich noch kein Wort darüber verloren wurde, warum das so ist und wie es ansonsten um die bunte Arbeitswirklichkeit hierzulande bestellt ist, geschweige denn, wie es darum bestellt sein sollte.
Wer sich derlei Bewertungs- und Gestaltungsfragen stellt, dem helfen Zahlen, Daten, Fakten allein nicht weiter. Kritischer Journalismus und demokratische Politik leben davon, nicht nur informiert zu sein über den Stand der Dinge, sondern auch inspiriert zu sein, um mit neuen Fragen und Antworten neue Fakten zu schaffen. Das ist seit jeher die – wenn man so will – postfaktische Bedingung der Möglichkeit von Kritik und Politik, ja von Freiheit.
Es droht eine Unkultur pseudoinformierter Besserwisserei
Kurzum: Faktenchecks sind für die Zukunft nicht zuständig. Doch auch ihr Blick in die Vergangenheit ist trügerisch: Sie suggerieren eine Klarheit, die es nicht gibt, und eine Objektivität, die subjektiv gefärbt ist – von der Vorauswahl der zu prüfenden Fakten bis hin zur Vorauswahl der dafür zu würdigenden Quellen.
Außerdem macht es einen gravierenden Unterschied, ob jemand bei einer etwaigen Falschaussage stark übertreibt, dreist lügt, sich freudianisch verspricht oder versehentlich irrt. Wem es nicht um die halbe, sondern um die ganze Wahrheit zu tun ist, der darf auch diese bunte psychologische Wirklichkeit nicht leugnen.
Wenn wir die Grenzen des Faktencheckings nicht bedenken, dann besteht die Gefahr, dass es keine informierte, aufgeklärte Streitkultur, sondern stattdessen eine Unkultur pseudoinformierter, möchtegernaufgeklärter Besserwisserei befördert. Das wäre tragisch, geht es doch nicht zuletzt darum, Fakten gegenüber Fake News zu verteidigen, ohne mit falschen Versprechungen der Faktenchecks zugleich neue Fake News zu fabrizieren.