Ein Engel der Zivilcourage
Vergangenes Jahr starb die 22-jährige Studentin Tuğçe Albayrak an den Folgen einer Prügelattacke - womöglich weil sie zwei Mädchen schützen wollte. Bis heute hält die Trauer an. Am Freitag beginnt der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter. Tuğçe selbst ist längst zu einem Sinnbild für Zivilcourage geworden.
Die letzte Ruhestätte von Tuğçe Albayrak ist schön. Das Grab liegt gleich neben einer weiß gestrichenen Friedhofskapelle mit spitzem Giebel. Im Hintergrund erhebt sich der Vogelsberg, ein erloschener Vulkan. Ein Baum direkt über Tuğçes Grab spendet Schatten.
"Sie hat den richtigen Platz gekriegt. Sie liegt sehr schön",
sagt Renate, eine Frau um die 60, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Renate hat mich an Tuğçes Grab in Bad Soden-Salmünster geführt. Die kleine hessische Stadt liegt 70 Kilometer nordöstlich von Frankfurt am Main. Tuğçe Albayrak ist hier begraben, weil sie die ersten Jahre ihres Lebens in der Kleinstadt verbracht hat. Das Grab ist mit Blumen bedeckt. Tuğçe ist nicht die erste besonders couragierte Frau, die an dieser Stelle begraben liegt, erzählt Renate:
"Und das vorhergehende Grab, das war eine Schwester. Die hat einen ganzen Zug vom Sudetenland nach Salmünster geholt. Und die lag hier beerdigt. Die war auch ein Engel, die hat viele Leute gerettet. Und die Tuğçe kommt dann ausgerechnet hier hin."
Ein wenig wie ein Engel
Tuğçe sei ein wenig wie ein Engel – das höre ich oft, wenn ich mit Menschen aus ihrem Umfeld über die Verstorbene rede. So war es schon im November 2014, als Tuğçe noch im Koma lag. So ist es heute noch, kurz vor Beginn des Prozesses gegen Sanel M. Der Achtzehnjährige ist vor der Jugendkammer des Landgerichts Darmstadt angeklagt, Tuğçe Albayrak so verletzt zu haben, dass sie an den Folgen starb.
"So, wie die Sache auch ausgehen wird, Tuğçe ist und bleibt für mich ein Symbol für Zivilcourage. Sie ist ein Engel für mich, in meinen Augen",
sagt auch Ismail Tipi. Er ist hessischer CDU-Landtagsabgeordneter mit türkischen Wurzeln. Ismail Tipi kümmert sich seit Monaten um Tuğçes Familie. Er lebt nicht weit von Offenbach entfernt, der Stadt, in der Tugce Albayrak starb. Niedergeschlagen und tödlich verletzt auf dem Parkplatz eines McDonald's-Restaurants. Weil sie zwei dreizehnjährigen Mädchen zur Hilfe eilte, die im Toilettentrakt des Restaurants von einer Gruppe junger Männer belästigt wurden.
Der Ort, an dem Tuğçes starb, ist an den Wochenenden ein Treffpunkt für junge Leute aus dem Rhein-Main-Gebiet. Hier machen sie Pause auf dem Weg in die Diskotheken in Frankfurt am Main oder Offenbach. Oder nach durchtanzter Nacht auf dem Nachhauseweg. Auch Tuğçe und ihre Freundinnen wollten sich stärken, vor der 70 Kilometer langen Fahrt in ihre Heimatorte im osthessischen Kinzigtal. Für Tuğçe wurde dieser Zwischenstopp jedoch zum Verhängnis.
Macit Karaahmetoglu ist schwäbischer SPD-Politiker und Rechtsanwalt. Er vertritt Tuğçes Familie beim Prozess gegen den mutmaßlichen Täter, der am Freitag beginnt.
Karaahmetoglu: "Ich glaube, was als Engel formuliert wird, muss man nicht theologisch verstehen. So habe ich es jedenfalls nie verstanden. Es geht um ein Menschenbild. Es geht um einen Menschen, der für sich Gefahren in Kauf genommen hat, um anderen zu helfen. Und so muss man das verstehen, den Begriff Engel."
Dass die Tochter hier sterben musste, quält die Eltern sehr
Der Ort, an dem Tuğçe starb, ist kein schöner Ort für Engel. Im Gegenteil. Es ist ein trostloser Halt an einer Autobahnauffahrt. Niemandsland. Ein paar Gewerbehöfe und Bürohäuser. Im Hintergrund Baukräne und Bagger, die an den letzten Gemüsefeldern zwischen Offenbach und Frankfurt am Main knabbern. Der Schmerz darüber, dass ihre Tochter hier sterben musste, quäle die Eltern noch sehr, berichtet ihr Anwalt Macit Karaahmetoglu.
"Den Eltern und den Brüdern geht es schlecht. Ich habe immer wieder gedacht, es muss doch irgendwann die Zeit kommen, wo es vor allem der Mutter irgendwann dann mal besser geht. Sie schließt sich quasi ein, geht kaum raus. Und als ich neulich wieder bei ihr war, da war schönes Wetter und da war sie wieder niedergeschlagen. Den Tränen nahe. Und hat mir erzählt, dass Tuğçes immer, wenn schönes Wetter war, immer gleich raus wollte, rausgegangen ist. Das schöne Wetter genossen hat, mit ihren Freunden ins Café gegangen ist. Und dass solche Dinge sie eben an ihre Tochter erinnern und dass ihre Tochter nicht mehr da ist, nicht mehr lebt."
Das Wetter war auch in Offenbach schön in den letzten Tagen. Doch die wärmende Frühlingssonne kann das Hässliche des Ortes nicht überstrahlen, an dem Tuğçe die tödlichen Schläge bekam. Orte der Erinnerung. Auf der einen Seite der McDonald's-Parkplatz und seine triste Kulisse, auf der anderen der Platz, an dem Tuğçe begraben liegt. Der eine Ort schäbig und trostlos, der andere voll Ruhe und Würde. Auch der hessische Landtagsabgeordnete Ismail Tipi hat Tuğçes Grab schon besucht.
"Ich denke, nicht nur Muslime, sondern jeder Mensch, der sich mit diesem Thema befasst hat, hat, glaube ich, diesen Fall von Tuğçe noch in Erinnerung. Und ich gehe auch mal dort hin und gucke mir mal an, wen trifft man dort. Und man trifft auch Monate danach noch viele Menschen, die dort hinkommen und sich ihrem stillen Gebet anschließen und einfach Blumen oder Rosen niederlegen. Das ist etwas, was einem rührend in Erinnerung bleibt. Das ist wirklich ein großer Schmerz, den heute noch viele Menschen in sich tragen."
"Ich hätte das nicht gemacht. Ich hätte Angst gehabt um mich"
Was Ismail Tipi sagt, bestätigt meine Friedhofsführerin Renate. Als ich mit ihr an Tuğçe Grab stehe, tritt eine zweite Frau hinzu. Sie ist noch deutlich älter als Renate. Auch sie will anonym bleiben. Doch dann spricht sie voller Bewunderung über den Mut, den die 22 Jahre alte Lehramtsstudentin Tuğçe Albayrak im November letzten Jahres gezeigt hat. Den Mut, in dem Schnellrestaurant in Offenbach die beiden Mädchen vor den Übergriffen von Männern zu schützen. Den Mut, den Tuğçe Albayrak mit dem Leben bezahlen musste.
"Ich bin ja alt, ich werde ja Achtzig jetzt. Ich hätte das nicht gemacht, auch als ich jung war, glaube ich. Ich hätte Angst gehabt um mich. Aber die hatte ja Courage, irgendwie. Für mich ist das ein Vorbild. Ich habe mich gefreut, wie es hieß, sie ist in Bad Soden-Salmünster."
Renate: "Mein Weg ist immer hier rum, ich gehe immer hier vorbei. Ich habe sie jetzt auch wieder fotografiert, das Grab. Weil sich das ja verändert hat. Das war ja ein Hügel. Und der ganze Hügel war bedeckt mit lauter Blumen."
Renate hat mal in der Schule gearbeitet, die mehrere Kinder der Familie Albayrak besuchten
Renate:"Die haben ja früher in Salmünster gewohnt. Ich war in der Schule, in der Verwaltung. Und da habe ich die Brüder gekannt und sie auch. Es hat uns allen leidgetan, sie konnte gut Klavier spielen."
Reporter: "Wo haben Sie sie gehört, in der Schule?"
Renate: "In der Schule. Ja."
Eine kluge, taffe Frau
Tuğçe Albayrak spielt bei ihrem Abi-Ball vor ein paar Jahren auf der Schulbühne ein Klavierstück. Mit einem Handy hat dies jemand damals etwas verschwommen aufgenommen und ins Internet gestellt. Tuğçe trägt bei ihrem Auftritt ein rotes Ballkleid. Rot ist auch die dominierende Farbe des gestreiften Hemdes, das Tuğçe auf dem Foto trägt, das mit zwei großen goldenen Herzen am Baum hinter ihrem Grab lehnt. Das Foto ist nicht so oft gedruckt worden wie das, auf dem Tuğçe eine Strickmütze tief in die Stirn gezogen hat und frech in die Kamera schaut. Macit Karaahmetoglu, der Anwalt ihrer Familie:
"Sie war ja eine kluge, taffe Frau, die Lehrerin sein wollte und sollte. Nicht nur an diesem Abend, wo sie diesen kleinen Mädchen geholfen hat, sondern auch vorher sich für andere Menschen immer eingesetzt hat. Das sind Dinge, die alle zusammen die Menschen unglaublich berührt haben und ihr Schicksal die Menschen unglaublich berührt hat. Und ich sehe das auch, dass da auf jeden Fall etwas davon bleiben wird. Und dass sich auch viele Gedanken machen, ich hoffe und glaube auch sehr viele junge Menschen, die einen gewissen Hang zur Gewalt haben, hoffentlich aus dieser Sache etwa gelernt haben."
"Da gehört schon sehr viel Mut und Tapferkeit dazu"
Eine Moschee im Gewerbegebiet am Rande des hessischen Örtchens Wächtersbach. Das islamische Gotteshaus liegt nur ein paar Kilometer vom Friedhof entfernt, auf dem Tuğçe begraben ist. Deshalb fand hier am 3. Dezember 2014 die große Beerdigungsfeier statt, bevor die Tote überführt wurde. Hakan Akbulut ist der Vorsitzende des Türkisch Islamischen Kulturvereins in Wächtersbach, der die Moschee betreibt. Auch für ihn ist Tuğçe längst ein gesellschaftliches Vorbild:
"Weil, sie hat Mut beweisen und gezeigt. Sie war tapfer und hat sich gegen einen Mann gestellt beziehungsweise mehrere und hat gesagt: Das könnt ihr nicht machen. Da gehört schon sehr viel Mut und Tapferkeit dazu."
Die Moschee des Vereins liegt direkt neben der Bahnlinie Fulda- Frankfurt am Main. Tuğçes Vater hat sie häufiger besucht, erzählt Hakan Akbulut. Vor allem früher. Heute lebt die Familie Albayrak etwas weiter Richtung Frankfurt in der schmucken Kleinstadt Gelnhausen. Auch Tuğçe selbst lebte bis zu ihrem Tod dort. Das Kinzigtal, in dem sie geboren wurde und in dem sie jetzt begraben liegt, ist für die Familie Albayrak seit vielen Jahrzehnten Heimat. Deshalb suchte Tuğçes Vater die Moschee in Wächtersbach für die Trauerfeier aus. Deshalb ist auch Tuğçes Grab in der Nähe – und nicht in der Türkei.
Der Zuglärm hat im Dezember 2014 niemanden der gut 1000 Trauergäste gestört, die auf dem Gelände der Moschee Abschied von Tuğçe Albayrak nahmen. Kamerateams aus aller Welt beobachteten die Zeremonie. Vom Gelände der Moschee aus wurde der Leichnam ins nur wenige Kilometer entfernte Bad Soden-Salmünster geleitet. Zum Friedhof. Für Hakan Akbulut war dieser Tag erst einmal eine ungeheure logistische Aufgabe.
"Innerhalb von zwei, maximal drei Tagen mussten wir mit der Stadt Wächtersbach, Polizei, Feuerwehr an einem Strang ziehen. Ich möchte mich bei jedem bedanken, der uns an diesem Tag unterstützt und geholfen hat, diesen traurigen Tag so gut wie möglich über die Bühne zu bringen. Dafür möchte ich mich noch einmal persönlich bei allen bedanken."
Die Anklage lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge
Fast fünf Monate sind vergangen seit der Beerdigung. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter wurde in dieser Zeit vorbereitet. Die Obduktion von Tuğçe Leiche ergab: Durch den Aufprall auf den McDonald's-Parkplatz erlitt die Studentin ein Schädel-Hirn-Trauma und Brüche des Schädelknochens. Die Anklage gegen den 18 Jahre alten Sanel M. lautet nun: Körperverletzung mit Todesfolge. Die Verteidigung wird im Prozess versuchen zu zeigen, dass Tuğçe doch kein Engel war. Das sie Sanel M. etwa beleidigt haben könnte, bevor er zuschlug.
"Nach der Beerdigung ist es so üblich, dass man sich nach 40 Tagen wieder zusammensetzt. Und man betet für die Verstorbenen, für die Verstorbene in dem Fall. Koran und so weiter. Die Familie gibt ein Essen aus, damit alle wieder zusammen sind. Der Tag war auch ziemlich voll hier."
Aus Sicht des Islams sei es aber wichtig, nicht zulange um die Toten zu trauern – auch nicht um eine besondere Tote wie Tuğçe.
"Nach unserer Religion darf man nicht zu tief und zu lange dem Verstorbenen hinterher weinen oder trauern. Weil der Verstorbene höchstwahrscheinlich an einem besseren Ort ist."
"Tuğçe war der Auffassung, dass man die Welt verändern kann"
Tuğçe selbst träumte davon, die Erde zu einem besseren Ort zu machen. Angefangen mit der Schule. Sie studierte auf Lehramt an der Uni Gießen. Sie scheute sich auch nicht, die Politik der Regierung Erdogan in der Türkei öffentlich zu kritisieren. Ihr Mitstudent Ali Khan traf Tuğçe manchmal in den Pausen in der Unimensa oder in der Cafeteria. Das erzählte er im vergangenen November in einem Interview, als Tuğçe noch im Koma lag.
"So wie ich Tuğçe seit einem Jahr kenne, wir haben immer viel zu tun mit Referaten. Sie war immer lebensfroh, immer optimistisch und war immer der Auffassung, dass man die Welt verändern kann."
Mehrere hundert Gießener Studenten organisierten im November 2014 spontan auf dem Unigelände eine Mahnwache gegen Gewalt – für Tuğçe . Dabei waren damals auch viele Studierende, die Tuğçe gar nicht persönlich kannten. Ihr Mut hatte ihnen imponiert:
"Wenn ich dort wäre, müsste ich vielleicht fünfmal überlegen, ob ich dort eingreifen würde oder nicht. Doch sie hatte den Mut."
"Ich kenne Tuğçe nicht. Ich bin nicht die Kusine, nicht die Schwester. Doch gestern ist es ihr passiert, heute kann es mir passieren, morgen kann es jemand anderem passieren. Und dafür bin ich hier."
Reporter: "Sie sind ihr dankbar?"
"Ja. Weil sie Zivilcourage gezeigt hat, weil sie sich eingesetzt hat, obwohl sie das nicht musste."
Wenn am Freitag in Darmstadt der Prozess beginnt, werden wohl wieder viele Studierende aus Gießen dabei sein. Auch wenn sie keinen Einlass in den Gerichtssaal bekommen werden, weil die Plätze arg begrenzt sind. Auch der Leiter der Moscheegemeinde in Tuğçes Heimat im Kinzigtal geht davon aus, dass der Prozess wieder vieles schmerzhaft in Erinnerung rufen wird:
"Vergessen ist es auf keinen Fall, aber die Wunden, die heilen mit der Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden, sagen wir es mal so rum. Aber vergessen nicht. Vergessen kann man es auch nicht. Irgendwann, wenn es auch in den Nachrichten einen anderen Menschen trifft, aber mit dem gleichen Problem, mit der gleichen Zivilcourage, dann denkt man auch gleich wieder an die Tuğçe oder an die Familie."
Ein Elternhaus, wo Menschlichkeit und Nächstenliebe großgeschrieben werden
Schon in den Tagen, als Tuğçe im Koma lag, kümmerte sich Ismail Tipi intensiv um die Familie Albayrak. Bis heute spricht der Landtagsabgeordnete alle zwei, drei Tage mit den Eltern. Auch jetzt, wenige Tage vor dem Prozess gegen den mutmaßlichen Totschläger ihrer Tochter:
"Die haben diese ganze Sache mit einer großen Besonnenheit aufgenommen. Normalerweise würde man erwarten, dass ein Vater oder eine Mutter, die ein Kind verlieren, demjenigen alles Schlimmste wünscht, was man sich vorstellen kann. Aber ich habe eigentlich bei dieser Familie noch kein einziges Wort gehört, was sie eigentlich dem jungen Mann gewünscht haben. Oder geschimpft haben mit Schimpfwörtern oder so. Und deswegen bewundere ich diese Familie auch, und ich bin auch sehr dankbar, dass sie diese Besonnenheit gezeigt haben. Aber das zeigt wiederum, was dieses Mädchen getan hat: Sie kommt aus einem Elternhaus, wo die Menschlichkeit und Nächstenliebe sehr groß geschrieben ist."
Der wohl wichtigste Moment für Tuğçes Angehörige, ihre Trauer zu bewältigen, war der Abend des 28. Novembers 2014. Das glaubt Ismail Tipi, der damals bei den Eltern war. Es war Tuğçes Geburtstag und wurde gleichzeitig ihr Todestag. Wieder mit Tugces Musikstück im Hintergrund.
An ihrem 23. Geburtstag schalteten die Ärzte die lebenserhaltenden Geräte ab
Es war bitterkalt, Freunde von Tuğçe Albayrak hatten einen Flügel auf die Wiese vor dem Offenbacher Klinikum geschoben, in dem Tuğçe im irreversiblen Koma lag. Tuğçes Lied erklang. Der 28. November 2014 war ihr 23. Geburtstag. Die Eltern hatten entschieden, an diesem Tag die lebenserhaltenden Geräte abschalten zu lassen. Tuğçes Körper wurde zur Organentnahme freigegeben, wie die junge Frau es selbst wollte. Gemeinsam mit Tausenden draußen vor der Klinik nahm die Familie von Tuğçe Abschied. Ismael Tipi war im Krankenzimmer dabei:
"Also so ein Bild wie an diesem Abend, an dem Tuğçe ihren Geburtstag gefeiert hat und überhaupt diesen großen Abschied genommen hat und an diesem Abend wurden auch so gegen 21 Uhr die Organe entnommen. Aber das was sich da auf dem Hof des Krankenhauses abgespielt hat ist ein Bild, das man ein Leben lang mitträgt. Das sind Erinnerungen, die man nie vergisst. Tausende Kerzen, Luftballons, eine Melodie, die Tuğçe selbst gerne auf dem Klavier gespielt hat. Ihre Lieblingsmelodie und ein Bild, dass sich in meinem Herzen, in mein Gehirn reingekratzt hat war, wie Vater und Mutter und die zwei Brüder sich an dieses Fenster hangen und mit einer Miene, mit einer Trauer, dieses Bild, das sich da in diesem Hof bot, angesehen haben."
Ein intensiver Eindruck, der die Eltern letztlich sehr tröstete, da ist sich Ismail Tipi sicher.
"Ich glaube, gerade diese Bilder und diese Anteilnahme von rund 3000 Menschen an diesem eiskalten Abend war, glaube ich, ein Gefühl für die Familie, die ihren Schmerz teilen konnte. So in dem Sinne 'Geteiltes Leid ist halbes Leid'. Und wissen Sie, wenn Sie solche Erinnerungen mit sich tragen, das ist unvergesslich."
Vergessen ist Tuğçe auch an der Stelle nicht, an der sie tödlich angegriffen wurde. Vor dem Eingang des Schnellrestaurants gibt es auf einer Verkehrsinsel eine kleine Gedenkstätte. Ein etwa fünfzig Zentimeter hoher Holztisch bietet Platz für Blumen oder Kinderzeichnungen, die an Tuğçe erinnern. Die Blätter sind mit Kieselsteinen beschwert, damit sie nicht wegwehen. Niemand, der mit dem Auto die viel befahrene Straße am Offenbacher Verkehrsknoten Kaiserlei entlang fährt, kann diese kleine Gedenkstätte übersehen. Auch der Abgeordnete Ismail Tipi kommt oft hier vorbei, wenn er in seinen Wahlkreis fährt
"Das heißt, da kommen eigentlich Menschen fast täglich vorbei und zünden eine Kerze an für Tuğçe. Oder legen Rosen. Das ist eigentlich schon etwas, was einem so ein bisschen Gänsehaut bereitet."
Enttäuscht über die Reaktion von McDonald's
Ismail Tipi ist jedoch bis heute nicht zufrieden damit, wie McDonald's auf das Gewaltereignis auf dem Restaurant-Parkplatz im November 2014 reagiert hat. Dass sich der Konzern offenbar nicht um die kleine, improvisierte Gedenkstätte vor dem Schnellrestaurant kümmert, gefällt ihm nicht:
Das ist keine Pflicht, aber das wäre eine schöne Geste zu zeigen, dass die Anteilnahme sehr groß ist. Und das ist ja gleich vor ihrer Haustür, da könnte man vielleicht ein bisschen ein Auge werfen. Und das würde dem Restaurant vielleicht auch dienen, damit die Menschen auch sehen: Die trauern auch, das tut ihnen auch leid, dass es so weit gekommen ist. Eine nette Geste, die könnte man schon zeigen.
Vor dem Mikrophon will sich ein Sprecher des Konzerns zum "Fall Tuğçe" nicht äußern. Es gehe auch darum, die Mitarbeiter des Unternehmens zu schützen, bekomme ich am Telefon zu hören. Sie würden bis heute bedroht und beschimpft. Schriftlich wird mir mitgeteilt, dass es keine juristischen Vorwürfe gegen McDonald's gäbe. Dazu Macit Karaahmetoglu, der Anwalt der Familie Albayrak:
"Nun, eine moralische Verantwortung hat McDonald's auf jeden Fall. Die Frage, die wir uns alle stellen ist, wie es sein kann, dass zwei kleine Kinder und vierzehn Jahren nachts mehr als eine Stunde im WC-Bereich verharren und auch in Not geraten, belästigt werden und niemand, der dort verantwortlich ist, das Hausrecht hat, irgendwie reagiert. Es ist ja anscheinend nicht unüblich, dass es da zu Rangeleien kommt. Da muss man sich schon fragen, ob Verkehrssicherungspflichten von McDonald's da beachtet worden sind."
Tuğçe Albayrak macht das nicht wieder lebendig, das ist allen Beteiligten bewusst. Der Familie und ihren politischen und juristischen Unterstützern geht es darum, die Erinnerung an die mutige Frau wachzuhalten.
Stiftung für Zivilcourage soll an Tuğçe erinnern
Tuğçe soll als Beispiel für Zivilcourage und selbstloses Engagement geehrt werden und damit ein Vorbild für andere sein. Das wollen ihre Eltern. Gemeinsam mit dem Anwalt und SPD-Poltiker Macit Karaahmetoglu bereiten sie gerade die Gründung einer Stiftung für Zivilcourage vor. Es wird darüber nachgedacht, dass diese Stiftung einen Preis ausloben könnte:
Dass wir einen Menschen jährlich auszeichnen, der oder die im Bereich Zivilcourage oder aber auch für andere Menschen überhaupt was Besonderes geleistet hat. Darüber hinaus geht es natürlich darum, die Menschen generell über Zivilcourage zu informieren, etwas für Gewaltprävention zu machen.
Auch wenn Macit Karaahmetoglu will, dass der mutmaßliche Täter im am Freitag in Darmstadt beginnenden Prozess eine empfindliche Strafe bekommt - er denkt gemeinsam mit Tuğçe Eltern längst über den Fall hinaus:
"Der mutmaßliche Täter hat ja auch Migrationshintergrund. Ich habe immer gesagt: Er ist ein Produkt unserer Gesellschaft. Wir sind auch für ihn verantwortlich. Und wir müssen uns als Gesellschaft überhaupt Gedanken machen, wie es dazu kommt, dass ein junger Mensch derart gewaltbereit wird."
Bis heute fließen viele Tränen an ihrem Grab
Der Prozess könnte helfen, diese zentrale Frage zu beantworten. Er ist zunächst auf zehn Verhandlungstage angesetzt.
"Die Leute kommen eigentlich immer her, jeden Tag."
"Ich bin jemand, der viel zum Friedhof geht. Das Grab meiner Eltern, meiner Geschwister besuchen. Es gibt immer Leute, die zum Grab von der Tuğçe gehen. Ich habe die Tuğçe selber nicht gekannt, aber ich kann mir vorstellen, wie schlimm es ist für die Eltern und für die Geschwister, eine Schwester zu verlieren. Ganz schlimm."
Da ist die kleine Frauengruppe, die sich regelmäßig auf dem Friedhof im Kinzigtal trifft. Und auch vom Verein der Moschee in Wächtersbach gehen viele Menschen regelmäßig zu Tuğçes Grab, weiß Hakan Akbulut.
Der Friedhof an sich, die Tote, die wird von vielen Leuten besucht. Vonseiten unserer Gemeinde auch. Es ist nur bei uns so üblich, dass man den Friedhof besucht, Freitags meistens. Man macht dort seine Gebete, man liest seinen Koran und dann entfernt man sich wieder.
Blumen und Kerzen auf das Grab zu stellen, sei nicht unbedingt muslimische Tradition, so Hakan Akbulut. Umso erstaunlicher ist es, wie viele Blumen und Kerzen auch nach Monaten noch Tuğçes Grab schmücken. Renate, die ich auf dem Friedhof traf und die mir alles gezeigt hat, wundert das nicht:
"Ich bin sehr viel hier am Friedhof und es kommen immer welche. Und auch viele junge Leute. Viele junge Männer mit Blumen. Und es gibt auch viele Tränen. Jetzt immer noch."
"Manchmal kommt schon die eine oder andere Träne, die man nicht halten kann."
Unabhängig vom Ausgang des Prozesses wird wohl für viele Menschen weiterhin das gelten, was Ismail Tipi empfunden hat, als er das letzte Mal an Tuğçes Grab war:
"Ich denke, dass Tuğçe als ein Friedensengel, als ein Engel der Zivilcourage –dass sie jetzt dort ihre Ruhestätte bekommen hat, ist, glaube ich, für viele Menschen ein beruhigendes Gefühl. Sie hat – in Anführungsstrichen – für eine gute Sache ihr Leben gegeben. Wäre es nicht so gewesen, wäre es bestimmt besser. Aber heute, da bin ich mir sicher, ist sie irgendwo im Paradies und fühlt sich dort wohl. Und ich hoffe auch, dass die Gerichtsverhandlung jetzt auch ruhig verläuft. Falls er schuldig ist, soll er seine gerechte Strafe bekommen, aber wir werden das jetzt alles in den nächsten Tagen und Wochen erleben."