Opfer, Täter und die ewige Wiederkehr des Gleichen
Fast alle Politiker sagen, man müsse die Ängste der "besorgten Bürger" ernst nehmen. Doch die lassen auf Demonstrationen ihrer Aggressivität oft freien Lauf und viele der laut pöbelnden Flüchtlings-Hasser sehen sich als hilfloses Opfer. Der Philosoph Florian Goldberg findet das gefährlich.
Der so genannte Islamische Staat ist eine scheußliche Sache. So scheußlich, dass mittlerweile gern mal vergessen wird, dass mit dem so genannten Dritten Reich vor nicht allzu langer Zeit eine vergleichbare Scheußlichkeit auf deutschem Boden existierte! Mit anderen Worten können unsere Groß- und Urgroßeltern mit ihren Gaskammern als das gelten, was heute die islamistischen Milchbärte mit ihren Bombengürteln sind. Erst nach der – bitte sehr! – selbst verschuldeten Zerstörung ihres Landes erwachten unsere Vorfahren aus ihrem finsteren Wahn und gelobten, es fortan besser zu machen.
Seither war die Mehrheit der Deutschen bestrebt, am Aufbau einer offenen und friedlichen Gesellschaft mitzuwirken. Über alle Parteigrenzen hinweg. Na ja, fast alle. So entstand eine Art zivilisatorischer Konsens, auf den man sich in Deutschland im Großen und Ganzen verlassen konnte.
Damit scheint es nun vorbei, und ich rede nicht nur von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte oder dem grölenden Mob vor Flüchtlingsbussen. Ich rede von Politikern aus der angeblich bürgerlichen Mitte, die immer ungenierter mit xenophoben und illiberalen Parolen Ressentiments schüren.
Ich rede von Hasskommentaren im Internet, die jeden herabwürdigen, der irgendwie für Humanität und Toleranz eintritt. Ich rede von so genannten besorgten Bürgern, die sich gewissermaßen um die Wette bedroht fühlen von Flüchtlingen, Muslimen, Schwulen, Lesben, "Gutmenschen" – you name it! Ein Anglizismus, Verzeihung. Davon natürlich auch!
Opfer haben per se Angst – oder benutzen sie
Schon erstaunlich, was Menschen dieser Tage so alles absondern, wenn man ihnen ein Mikrofon vor die Nase hält. Der gemeinsame Nenner ist offenbar das unbestimmte Gefühl irgendwie Opfer von irgendetwas zu sein: Opfer der Überfremdung, Opfer von "denen da oben", Opfer des Wirtschaftssystems, Opfer von Gender-Mainstreaming, Opfer der Eurokratie. Die Opfer-Kreativität scheint so grenzenlos wie es Europa leider schon nicht mehr ist.
Als Opfer hat man per definitionem Angst vor dem, als dessen Opfer man sich empfindet. Also setzt man sich zur Wehr. Und ehe man sich's versieht, wird man zum Täter, was wiederum damit gerechtfertigt wird, dass man ja eigentlich das Opfer ist. Bei unseren werten Vorfahren war das nicht anders. Die glaubten sich – das wissen Sie natürlich – als Opfer des Versailler Vertrages und des Weltjudentums mit all den verheerenden Folgen, von denen wir schon sprachen.
Feststecken in der Vergangenheit
Vermutlich gibt es überhaupt keinen Täter, der seine Tat nicht mit irgendeiner Form tief empfundenen Opferseins zu rechtfertigen wüsste. Schuld sind immer die anderen, die es aus stets reichlich vorhandenen Gründen verdient oder zumindest bewirkt haben.
Der Opfer-Täter im Sinne der hier vorgestellten psychologischen Figur steckt also in einer Art Vergangenheitsschleife fest. Er ist reaktiv. Immer geht seinem Tun und Erleiden eine Ursache vorweg, die er außerhalb seiner selbst verortet. Er ist, sofern zum Täter geworden, höchstens schuld, aber niemals verantwortlich!
Schuld und Verantwortung sind zweierlei
Schuld und Verantwortung, behaupte ich, wohnen in verschiedenen Dimensionen, die einander nicht berühren. Der Schuldige kann, äußerlich zerknirscht, sein Urteil ertragen, um mit seinem verwerflichen Tun erneut zu beginnen, sobald er die Schuld abgegolten glaubt. Der Verantwortliche hingegen ist bereit, die Konsequenzen seiner Tat vollständig zu erleben, um daraus zu lernen und ab sofort neu zu handeln. Der oder die Verantwortliche verlässt die reaktive Opfer/Täter-Figur und wird zum aktiven Gestalter einer Zukunft, die zu erreichen sich lohnt. Er, beziehungsweise sie weiß, dass Ohnmacht eine bequeme Illusion ist, da jedes Tun oder Unterlassen Konsequenzen zeitigt.
Wenn ich mir meine Überlegungen hier betrachte, dann hoffe ich, dass die Mehrheit der Deutschen sich in Bezug auf die deutsche Vergangenheit nicht als schuldig, sondern als verantwortlich betrachtet.
Falls nicht, schlage ich vor, schon mal einen Fonds einzurichten, aus dem nach der nächsten von uns angezettelten Katastrophe die dann erforderlichen Mahnmale – zum Beispiel für die ermordeten Flüchtlinge Europas – finanziert werden können, ohne auf laufende Mittel zurückgreifen zu müssen. Vor denen können dann unsere Nachkommen zerknirscht herumstehen und der Welt versichern, dass wir das so nicht gewollt hatten.