Abschied von der "Blutsbande"
In der Antike stand Blutsverwandtschaft nicht im Zentrum. Erst Juden und Christen pochten auf die Bedeutung der gemeinsamen "Blutlinie". Heute jedoch gehe es vor allem um soziale Bindungen, sagt Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun.
Liane von Billerbeck: Mutter, Vater, Kind, dazu die nächsten Verwandten, das war sie, die Familie bei uns, gefühlt, seit Jahrhunderten. Und heute: Zwei Frauen mit Kindern oder zwei Männer samt Kindern oder ohne, alleinerziehende Mütter und Väter, die Kinder aus früheren Beziehungen erziehen, deren leibliche Eltern andere sind. Familie ist heute weit mehr als das, was man immer so ein wenig martialisch Blutsbande nennt. Haben wir uns von dieser Vorstellung, was Familie ist, längst verabschiedet? Das wollen wir wissen von der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun deren Buch genau unter diesem Titel erschienen ist: "Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte".
Ihr Buch stellt die Blutsverwandtschaft als eine Besonderheit moderner westlicher Gesellschaften heraus. Wo liegen die Wurzeln unserer Vorstellungen von Familie?
Christina von Braun: Für die Griechen und Römer und auch für die hebräische Bibel, also das biblische Judentum, war das Blut nicht zentral. Das taucht dann erst auf, als die jüdische Religion zur Matrilinearität übergeht, das heißt also, zu einer Mutterlinie. Jüdisch ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat. Das ist also eindeutig eine Bluts- oder leibliche Verwandtschaft, die da proklamiert wird.
Und das Christentum wird dann eine eigene Art von Blutsmetaphorik entwickeln, die dann eben auch auf die Verwandtschaftsverhältnisse übergeht und die dann sehr stark sozial prägend sein wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im dritten, vierten Jahrhundert wurde die Göttlichkeit Jesu, der Mensch gewordene Gott in die christliche Theologie eingeschrieben.
Das blaue Blut des Adels
Jesus Christus hatte also zwei Naturen, und von diesen zwei Naturen, der menschlichen und der unsterblichen Natur Christi wird dann das Königtum abgeleitet. Der König hat sowohl einen unsterblichen Körper, der sozusagen das Reich repräsentiert, und einen sterblichen Körper, der mit ihm alle anderen menschlichen Eigenschaften hat. Und diese Metaphorik wird dann zu einem Teil der ganzen Blutsmetaphorik, denn der König vererbt sein sakrales Blut, sein göttliches, unsterbliches Blut an seine Nachfolger. Und allmählich wird das übergehen in die Definition des Adels.
Das besondere, oft blau genannte Blut des Adels wird davon abgeleitet, von diesem sakralen Königtum und verschafft dann Privilegien und anderen sozialen Status. Das ist eine Metaphorik, die ganz stark eingewirkt hat in die westliche christliche Kultur und Gesellschaft und die bis heute noch unsere Vorstellung von der Blutsverwandtschaft prägt.
von Billerbeck: Interessant ist ja, dass die Blutsverwandtschaft bei uns und in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch als die in Anführungsstrichen natürliche gilt, und andere Modelle als kulturell bedingt. Sie vertreten nun die These, dass Natur und Kultur heute nicht mehr zu unterscheiden sind. Oder waren sie das noch nie?
von Braun: Die Natur war immer schon sehr beeinflusst von der Kultur, wie ich am Beispiel der Blutsverwandtschaft dargestellt habe. Aber mit der Moderne tauchen ja die ganzen Techniken auf, die es erlauben, Leben im Labor zu reproduzieren, und die uns durch die Genetik dann noch verstärkt die ganzen modernen Arten von biologischer Herstellung oder Fabrikation ermöglicht haben.
Das ist der Punkt, wo dann sowohl die Naturwissenschaftler als auch die Geisteswissenschaftler angefangen haben, zu sagen, es ist Quatsch. Es ist unsinnig, zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden, weil inzwischen kann die Kultur selbst die Natur herstellen, und zwar nicht nur auf dem Acker, sondern eben auch tatsächlich in der menschlichen Fortpflanzung.
von Billerbeck: Welche Vaterschaft ist denn heute wichtiger, die biologische oder die soziale?
von Braun: Ich denke, das ist einer der ganz entscheidenden Punkte, über die heute debattiert wird, und wo man auch sagen kann, es ist der Punkt, an dem sich alles gewendet hat. Bis 1984 war trotz eines Stammbaums, der von Vater zu Sohn verlief und trotz aller Akten, die immer nur den Vater in den Vordergrund der biologischen Fortpflanzung und der Blutslinie stellten, die Vaterschaft nicht nachweisbar. Erst mit dem genetischen Fingerabdruck wurde sie nachweisbar, und das hat vollkommen alle Kategorien, die bisherigen Kategorien von Blutsverwandtschaft verändert.
Der Begriff von "Blutlinie" ist überflüssig geworden
Wir haben zwar einerseits jetzt durch die Genetik die Möglichkeit, viel längere Verwandtschaftslinien zurückzuziehen, über Tausende von Jahren, wenn man so will, dann aber sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits. Andererseits sind aber diese Art von Metaphern des Vaters, der einen über eine Blutslinie bestimmt, vollkommen unsinnig geworden. Und das ist genau der Grund, weshalb heute so viele neue Fragen gestellt werden und Verwandtschaft eben als etwas gedacht wird, das man nicht nur über diese Linien, diese Blutslinien, denken kann, sondern auch über andere Kategorien imaginieren muss.
von Billerbeck: Ich habe es ja schon am Anfang gesagt, es gibt Patchworkfamilien, homosexuelle Paare haben Kinder. Moderne Liebesbeziehungen enthalten ja viele Komponenten sozialer Verwandtschaft. Macht der Abschied von der Blutsverwandtschaft Beziehungen instabiler oder am Ende stabiler?
von Braun: Er macht es auf jeden Fall nicht instabiler, weil Blutsverwandtschaft – eine ganze Romanliteratur dreht sich ja immer wieder darum, dass die Blutsverwandtschaft eben prekär ist und man sich nicht darauf verlassen kann. Sie ist also nicht sicherer als die soziale Verwandtschaft, in der es um Gefühle, Verantwortungsgefühle, soziale Bindungen geht. Und ich vermute, dass wir auf ein Ritual und auf ein soziales Netzwerk zugehen, das sehr viel stärker diese sozialen Verwandtschaftsformen in den Vordergrund rücken wird und uns einfach zwingt, in anderen Kategorien von Bindung zu denken.
von Billerbeck: Heute ist die Gesellschaft gespalten. Auf der einen Seite gibt es die verbreitete Angst vor dem Verlust der traditionellen Familie, auf der anderen Seite werden derzeit Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten, Familienkonstellationen und Fortpflanzungsmöglichkeiten ganz neu definiert. Dazu haben wir eine starke Zuwanderung, es kommen also auch andere, stärkere Familienverbände zu uns. In welche Richtung wird sich eine zukünftige Gesellschaft entwickeln?
Soziale Bindungen und Nähe sind heute wichtiger
von Braun: Sie verlangen eine lange und große Prognose von mir, die ich so nicht geben kann. Aber was wir wohl sagen können, ist, dass sowohl durch Globalisierung als auch durch die neuen Fortpflanzungsarten wir tatsächlich auf viel liquidere oder flexiblere Arten von Identitäten zugehen und mit denen Leben lernen müssen. Und da gibt es dann natürlich auf der einen Seite die, die sagen, halten wir uns an das, was immer sicher war, nämlich die Blutsverwandtschaft, jetzt heißt sie Genetik.
Auf der anderen Seite gibt es die, die sagen, erstens ist die Genetik auch nicht so sicher, auch sie kann sich verändern und ist Einflüssen von außen ausgesetzt. Und zweitens, wer nur über eine Lebenszeit zu verfügen hat, der versucht dann eben auch, diese Lebenszeit mit Formen von Bindung herzustellen, die ihm eben auch in dieser Lebenszeit soziale Bindungen und Nähe zu anderen verschaffen.
von Billerbeck: Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun. Ihr Buch "Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte" ist im Aufbau-Verlag erschienen. Und wir haben über die Veränderungen unserer Vorstellungen, was Familie ist, gesprochen. Frau von Braun, ich danke Ihnen für das Gespräch!
von Braun: Ich danke Ihnen, Frau von Billerbeck!
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