Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie
Aufbau Verlag
361 Seiten, 22,99 Euro
Biografien zwischen Diktatur und Demokratie
Mit bisher unbekanntem Material versucht Uwe-Karsten Heye ein Gesamtbild der Familie Benjamin zu zeichnen: anhand der bewegten Lebenswege der Geschwister Walter, Dora und Georg, und dessen Ehefrau Hilde. Das Buch ist dort stark, wo es sich nur den Benjamins widmet. Die Reflexionen des Autors dagegen stören.
"Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene."
Liest man das Buch "Die Benjamins – eine deutsche Familie" von Uwe Karsten Heye, sind diese Sätze aus der Feder des deutschen Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin nicht nur mehr geschichtsphilosophisch zu verstehen. Sie klingen fast prophetisch schicksalhaft und scheinen untrennbar mit den Lebenswegen der Benjamins verbunden, der Geschwister Walter, Dora und Georg, und dessen Ehefrau Hilde Benjamin, geborene Lange.
Briefe und Tagebuchnotizen aus Hilde Benjamins Nachlass
Anhand bisher unbekannten Materials (Briefe, Tagebuchnotizen und andere Aufzeichnungen) aus dem Nachlass Hilde Benjamins, das deren Schwiegertochter Ursula Benjamin Heye anvertraut hat, versucht der Autor ein Gesamtbild der prominenten Familie zu zeichnen.
Zunächst also Walter, Georg und Dora, Kinder wohlhabender, gebildeter, jüdischer Eltern. Sie wachsen in einem assimilierten Milieu auf. Der erste Weltkrieg ist der Bruch mit der Welt, wie sie war, der durch eine ganze Generation geht. Dieser Bruch erfasst auch die Geschwister. Im Chaos der Weimarer Republik erwacht ihr politisches Bewusstsein. Sie schwärmen von einer Gesellschaft ohne Unterdrückung und für den Kommunismus. Besonders Georg, der Mitglied der KPD ist. Als Kinderarzt engagiert er sich für die sozial Schwachen. Ebenso seine Schwester Dora, sie ist Sozialforscherin.
Flucht, Exil und Verhaftung
Walter findet durch die lettische Schauspielerin Asja Lacis zum Marxismus.Er reist nach Moskau, arbeitet für die "Zeitschrift für Sozialforschung". Da ist er schon vor den Nazis nach Paris geflüchtet. 1940 nimmt er sich in Frankreich das Leben.
Dora, auch sie war aus Deutschland geflohen, stirbt 1946 im Schweizer Exil.
Hilde lernt Georg Benjamin in den 1920ern kennen. Hilde Benjamin, schon 1927 hat sie eine eigene Anwaltskanzlei in Berlin, ist, wie ihr Mann in der KPD. Am ausführlichsten widmet sich Heye ihr, die später als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR (von 1949-1953) und bis 1976 Justizministerin -berühmt und berüchtigt- wurde.
1933 wird ihr Mann als Jude und Kommunist in Schutzhaft genommen, kommt ins KZ Sonnenburg. Hilde Benjamin erhält Berufsverbot. Die Angst um den Sohn Mischa, der nach den Nürnberger Gesetzen 'Halbjude' ist, die Angst um den geliebten Mann, der ihr nicht nur politisch ein Vorbild ist, sondern wesensverwandt, bestimmen sie. Georg kommt noch einmal frei. 1936 die erneute Verhaftung. Dann Zuchthaus Brandenburg, von dort ins KZ Mauthausen, wo er stirbt.
1933 wird ihr Mann als Jude und Kommunist in Schutzhaft genommen, kommt ins KZ Sonnenburg. Hilde Benjamin erhält Berufsverbot. Die Angst um den Sohn Mischa, der nach den Nürnberger Gesetzen 'Halbjude' ist, die Angst um den geliebten Mann, der ihr nicht nur politisch ein Vorbild ist, sondern wesensverwandt, bestimmen sie. Georg kommt noch einmal frei. 1936 die erneute Verhaftung. Dann Zuchthaus Brandenburg, von dort ins KZ Mauthausen, wo er stirbt.
Hilde Benjamin nimmt ihren Mädchennamen Lange an, um den Sohn zu schützen. Beide überleben.
"Rote Hilde" aus liberalem Elternhaus
Als "rote Hilde vom Wedding" war sie schon in den 20er Jahren bekannt, die Bezeichnung war keine Erfindung der Adenauerschen BRD, wie Heye suggeriert. Den Begriff 'Unrechtsstaat' für die DDR setzt Heye stets in Gänsefüßchen, er lobt das von Hilde Benjamin mitgestaltete DDR-Familienrecht, das im Westen seinesgleichen gesucht hätte und...
"...nach der Wiedervereinigung im Westen beerdigt wurde".
Und kommentiert:
"Der Blick auf den Kern der DDR-Bildungspolitik – wenn man die ideologisch begründete Semantik rund um die 'Arbeiter- und Bauernfakultäten' mal weglässt – könnte durchaus anregend sein."
Mal weglassen?!
In der frühen DDR saß Hilde Benjamin Naziverbrechern gegenüber vor Gericht, verurteilte dann gnadenlos so genannte Feinde des SED-Regimes. Sie fällte Todesurteile.
Oft kommen die Reflexionen des Autors mildernd daher, hinterlassen einen merkwürdigen Beigeschmack: Hilde Benjamin...
"...wusste natürlich, dass ihre Prozesse und deren propagandistische Wirkung auch die Funktion hatten, einer Bevölkerung klarzumachen, dass es für jeden Einzelnen vorteilhaft war, den SED-Staat zu unterstützen."
Es war durchaus "vorteilhaft" – schnell geriet man ins Visier der Staatssicherheit und nicht selten ins Gefängnis. Liest man Protokolle von Prozessen, in denen Hilde Benjamin den Vorsitz hatte, erinnert ihr Duktus an den Nazirichter Roland Freisler, dessen Unterschrift unter dem Diktat ihres Berufsverbots von 1933 stand.
Störende seitenlange Reflexionen
Gut beraten wäre der Autor gewesen, die Biografie nicht als Mittel zum Zweck eigener Reflexionen zu benutzen. Die seitenlangen Ausschweifungen über seine politischen Ansichten wirken störend, ja: aufdringlich, und haben in einer Biografie nichts zu suchen. Denn immer dann, wenn Heye sich ausschließlich den Benjamins widmet, in die Zeit eintaucht, aus Briefen und Aufzeichnungen schöpft, ist das Buch stark.
Manchmal jedoch versteigt sich Heye, zum Beispiel wenn er auf den Spuren Georgs das KZ Mauthausen besucht.
"An diesem Tag ist man plötzlich eingereiht und wird zu einer der Elendsgestalten, die halb verhungert vor mehr als siebzig Jahren aus den Eisenbahnwaggons am Bahnhof von Mauthausen kletterten..."
Die Vergangenheit erklärt vielleicht das Handeln, auch das einer Hilde Benjamin. Eine Relativierung ihres Handelns und der SED-Diktatur, wie die Biografie sie nahelegt, verbietet sich.
Die Linie verläuft nicht zwischen schlimm und schlimmer, sondern zwischen Diktatur und Demokratie, wie der Historiker Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kürzlich sagte. Hilde Benjamin hat nach 1945 keine demokratischen, sondern diktatorische Konsequenzen gezogen.
Wie hatte Walter Benjamin geschrieben?
"Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe."