Familienhörbücher

"Zukunftsgeschenke" für Hinterbliebene

08:02 Minuten
Zwei Frauen sitzen sich beim Interview mit Mikrofon und Kopfhörer gegenüber.
Das Projekt Familienhörbücher bietet Palliativpatientinnen und -patienten die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte für ihre Hinterbliebenen aufzunehmen. © Joachim Rieger
Von Mirjam Stöckel |
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Eine tödliche Krebsdiagnose lässt die Zeit knapp werden, die einem bleibt, um den eigenen Kindern aus seinem Leben zu erzählen. Das Projekt Familienhörbücher ermöglicht es Eltern, ihre Lebensgeschichte für die heranwachsenden Kinder aufzuzeichnen.
„Ich heiße Veronika Karls, bin zweimal verheiratet, habe sechs Kinder und bin vor fünf Jahren an Brustkrebs erkrankt und habe fünf Jahre Zeit sozusagen, mich mit dieser Lebenskrise irgendwie zurechtzufinden.“
Veronika Karls aus dem thüringischen Bad Berka – am Tag unseres Gesprächs trotz ihrer schweren Erkrankung voll Energie – weiß: Verglichen mit ihren fünf erwachsenen Söhnen bleibt ihr mit ihrer Jüngsten wenig Zeit „Frida kennt mich nur elf Jahre“, sagt sie, „und selbst bei einer guten Prognose wird sie mich nie mehr so lange haben wie mein ältestes Kind.“
Vor ein paar Wochen hat sie deshalb ihre Stimme und ihre Geschichte in einem Familienhörbuch gesichert: Zweieinhalb Tage lang intensive Gespräche mit einer speziell geschulten Audio-Biografin – über die Kindheit und Jugend in der DDR, den ersten Kuss, den Beruf als Kamerafrau und später als Ergotherapeutin, über die gemeinsame Zeit mit den vielen Kindern und darüber, was ihr wichtig war und ist im Leben.
„Ich habe auch viel gelacht, ich habe auch viel geweint dabei, aber es war einmalig“, erzählt Veronika Karls. „Ich habe diese Ahnung immer schon gehabt, aber das ist fast dokumentiert worden: Ich habe wirklich ein gutes Leben gehabt.“

Die Lebensgeschichte in fünf Stunden Hörbuch

Diese Rückschau helfe ihr, mit der Erkrankung jetzt umzugehen, sagt Veronika Karls. Die Gespräche für das Hörbuch seien „in dieser ganzen Krankheitsannahme, Verarbeitung – ich will jetzt nicht sagen: die beste Therapie. Aber es war eine unglaubliche Therapie, auf jeden Fall.“
Acht Kapitel sind es letztlich geworden, über fünf Stunden Hörbuch. Klar, auch für ihre großen Söhne – aber besonders für Frida. „Meiner jüngsten Tochter etwas hinterlassen zu können, wo wir vielleicht nicht mehr die Zeit haben, das alles zu erzählen und zu erinnern – das fand ich schön, dass das möglich war“, sagt Veronika Karls.

Dokumentierte Liebesgeschichten

Die Geschichte und die Stimme sterbenskranker Eltern zu sichern für deren Töchter und Söhne: Möglich macht das die Projektinitiatorin Judith Grümmer mit ihrem Team in Köln. Finanziert werden die Familienhörbücher über Spenden. Sie sollten, sagt Grümmer, den Kindern keinesfalls eine Last aufbürden – darauf achteten die Interviewer in den Gesprächen, bei den Formulierungen der Eltern sehr aufmerksam.
Im Gegenteil: Die Hörbücher seien Zukunftsgeschenke, die die Kinder hinaustragen ins Leben, sagt Judith Grümmer. „Wenn mich Leute fragen: ‚Oh Gott, so ein trauriges Thema, und immer dieser Tod!‘ Dann sage ich immer: Es geht eigentlich gar nicht so um den Tod. Es geht um die Liebe. Wir dokumentieren Liebesgeschichten.“

Der Rückblick gibt Kraft

Was bewirken die Hörbücher in den Familien? Forscher der Uniklinik Bonn haben dazu 54 schwerstkranke Mütter und Väter befragt – und die Studie zeigt: Der teils mehrtägige Rückblick auf das eigene Leben angesichts des absehbaren Todes strengt an, emotional wie körperlich.
Und dennoch: Alle Befragten sagten, er habe sich gelohnt. Denn sie könnten – so wie Veronika Karls – aus ihrer Lebensgeschichte Kraft schöpfen. Und sie hätten das Gefühl, das Familienhörbuch mache es ihren Kindern vielleicht leichter, den Verlust zu überstehen.
Anruf bei Kerstin Lammer. Die Professorin gilt als eine der führenden Trauer-Expertinnen hierzulande, hat lange an der Evangelischen Hochschule Freiburg geforscht und kann die Familienhörbücher aus einer externen Perspektive einordnen.
„Das ist evident, dass das ein sehr gutes Projekt ist“, sagt sie. Und zwar, weil ein solches Hörbuch den Erkrankten helfen könne, wesentliche Aufgaben der Trauerarbeit besser zu bewältigen: den nahenden Tod zu begreifen und anzuerkennen, die Lebensgeschichte zu rekonstruieren, Bilanz zu ziehen und den Liebsten ein Vermächtnis zu hinterlassen. All das sei wichtig, um in Frieden Abschied nehmen zu können.

Ein Erinnerungsschatz für die Kinder

Obwohl es dazu noch keine Studie gibt, ist sich Kerstin Lammer sicher: Auch den Kindern hilft es, wenn der Vater oder die Mutter ein Hörbuch für sie aufnimmt. Denn:
„Das kann ja nur bedeuten, er oder sie hat sich um mich gesorgt, hat für mich gesorgt, wollte mir etwas hinterlassen. Er oder sie hat da ganz viel Liebe und Sorge und Fürsorge reingepackt. Das hat ja schon mal an sich einen Wert. Dazu kommt natürlich der Inhalt dessen, was er oder sie, Mutter oder Vater, mir hinterlassen hat: einen Schatz von Erinnerungen, den ich ja sonst nicht hätte.“
Die 16-jährige Pauline aus Stuttgart besitzt einen solchen Erinnerungsschatz bereits seit sechs Jahren. Damals starb ihre Mutter an Gebärmutterhalskrebs. Ihr Familienhörbuch ist das erste, das jemals aufgezeichnet wurde, und heute tragen Pauline und ihr Vater es immer bei sich. Gespeichert auf ihren Handys.

Hilfe fürs Weiterleben ohne Mama

Es tue gut, sagt Pauline, das Hörbuch ihrer Mama anzuhören – koste aber jedes Mal auch Überwindung. „Weil es ist eigentlich ein totales Gefühlschaos und hängt immer davon ab, wie ihre Stimme in dem Moment ist: Wenn sie weint, weine ich jedes Mal auch. Wenn sie lacht, muss ich jedes Mal schmunzeln. Und wenn es Dinge sind, mit denen ich mich identifizieren kann, fühle ich mir ihr nah. Es ist jedes Mal diese Nähe, aber auch Traurigkeit – und trotzdem Freude darüber, dass ich die Möglichkeit habe, diese Erinnerungen wachzurufen.“
Ihr helfe das Hörbuch, besser zurechtzukommen mit dem Tod ihrer Mutter, erzählt Pauline, und in ihrem eigenen Leben: „Das Realisieren, dass ich meine Mama nie wiederhaben werde, ist mir nur durch das Familienhörbuch gelungen. Weil: Als ich das einmal komplett durchgehört habe, erst da habe ich wirklich verstanden. Davor hat das meine Psyche gar nicht verarbeitet. Das hat überhaupt nicht funktioniert.“

Die Stimme, das Lachen und das Weinen – sie bleiben

Heute, sagt Pauline, stoße sie im Hörbuch immer wieder auf Ähnlichkeiten mit ihrer Mama: ähnliche Erfahrungen in der Schule, ähnliche Verhaltensweisen und ähnliche Gefühle in bestimmten Situationen. Das sei schön. Eigentlich müsste jede Familie, in der ein Elternteil stirbt, so ein Hörbuch aufnehmen dürfen, findet Pauline – am besten durch Krankenkassen finanziert. Denn:

„Ich stelle es mir viel schlimmer ohne Hörbuch vor. Dann hätte ich sie komplett verloren und nie wiedergehabt. So habe ich immer noch ein Stück von ihr, ein Stück von ihrer Geschichte. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihr Weinen: Ich habe das alles noch.“

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