Familienpolitik

Es begann mit 25 DM pro Kind

Kinderkleidung an einer Wäscheleine
In diesem Haus wohnen auch Kinder: Der Staat zahlt dafür Bares. © dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Stefan Sell im Gespräch mit Katrin Heise |
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell erinnert daran, dass das 1964 erstmals gezahlte Kindergeld zunächst von den Arbeitgebern bezahlt wurde. Die heutige "Infantilisierung der Armut" könne es nicht verhindern.
Katrin Heise: In den Jahren vor 1964, also vor dem Bundeskindergeldgesetz, hatte man auch schon eine soziale Verpflichtung gegenüber kinderreichen Familien gespürt und ab dem dritten Kind 25 Mark pro Monat gezahlt, und zwar aus Arbeitgeberbeiträgen. Ab '64 kam dann die grundsätzliche Änderung, Kindergeld wird aus Steuermitteln aufgebracht, und zwar ab dem zweiten Kind. Heute gibt es ab dem ersten Kind 184 Euro im Monat, und ab Kind Nummer drei noch etwas mehr.
Kurz vor der Sendung sprach ich mit dem Sozialwissenschaftler Stefan Sell über das Kindergeld. Herr Sell, was war eigentlich '64 der Grund, das Kindergeld als Staatsleistung aus Steuermitteln zu zahlen? Demografisch hatte man ja eigentlich keinen Grund dazu, Kinder gab es so viel wie nie!
Stefan Sell: Ja, um das nachvollziehen zu können, müssen wir vielleicht noch einen Schritt weiter zurück auf der Zeitschiene. Denn das erste Kindergeld – in Anführungszeichen – gab es bereits in der Zeit des Nationalsozialismus. Damals hieß das "Kinderbeihilfe", die nur "arische" Familien bekamen, das wurde 1935 eingeführt, war zunächst eine einmalige Beihilfe und ab 1936 dann eine monatliche Kinderbeihilfe. Das bekam man ab dem fünften Kind, und 1938 bereits ab dem dritten. Und warum hat man das damals in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft eingeführt: Schon damals gab es zwei Begründungsstränge. Zum einen war es eine sozialpolitische Dimension, man wollte diese Familien, die stark belastet waren, ein Stück weit unterstützen finanziell, aber das war immer eingebettet natürlich in die Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten, die Kinderreichtum fördern wollten.
Heise: Und jetzt springen wir mal 30 Jahre weiter, nämlich in die 60er-Jahre, wo ja diese "arische" Begründung, diese Art von Förderungswillen natürlich überhaupt keine Rolle mehr spielte. Was hatte man da als Argumente?
Sell: Na ja, als Argumente wieder offiziell sozusagen als die quasi amtliche Linie eine sozialpolitische Begründung, eben die Unterstützung von kinderreichen Familien. Vielleicht, um das zu verstehen, wie sich das auch gewandelt hat, muss man sich klar machen: Das Kindergeld wurde ja 1954 in Deutschland eingeführt, damals allerdings noch ganz anders. Sie hatten es bereits erwähnt, man bekam damals diese 25 DM für das dritte und jedes weitere Kind, und das wurde durch Arbeitgeberbeiträge finanziert.
"Am Anfang stand Lohnpolitik"
Jetzt fragt sich der ein oder andere vielleicht, warum durch Arbeitgeberbeiträge? Weil man damals eine ausdrücklich lohnpolitische Philosophie hatte. Denn der Lohn sollte damals, so war das ganz explizit, ja eine Familie versorgen können, und man hat gesagt: Der alleinverdienende Mann, der zum Beispiel drei oder mehr Kinder zu versorgen hat neben seiner Ehefrau, der verdient dann relativ gesehen so wenig, dass der Staat einen Grund hat, ihn zu unterstützen. Aber weil es ja sozusagen ein Lohnzusatz war, hat man damals – eigentlich konsequent, wie ich finde – gesagt, dann muss man das über Arbeitgeberbeiträge finanzieren. Aber das wurde dann schon relativ schnell wieder umgewandelt und ab 1964 haben wir eben diese Familienkassen, wo über Bundesmittel dann diese entsprechenden Beiträge also aus Steuermitteln finanziert werden. Also, am Anfang stand Lohnpolitik.
Heise: Und dann sagten Sie, soziale Argumente. Also, die vielen Kinder brauchen eben Unterstützung. Die Werteorientierung, wann kam die denn dazu, also Familie als Wert unterstreichen?
Sell: Also, es gibt da sozusagen zwei Antworten auf diese Frage. Ich könnte jetzt formal antworten und sagen, sozusagen diese explizite Werteorientierung, was Kinder und Kinderzahl angeht, die ist eigentlich interessanterweise erst wieder neueren Datums. Im Zuge der Diskussion, die wir durch den Abfall der Geburtenrate seit Beginn der 70er-Jahre hatten, hat sich ja irgendwann diese ganze Demografiediskussion ein Stück weit verselbstständigt und spätestens seit den 90er-Jahren werden sogenannte familienpolitische Leistungen immer auch unter dem entweder offen oder versteckt mitlaufenden Begründungsstrang, damit könne man also die Kinderzahl erhöhen, fördern. Das wäre die offizielle Antwort.
Stefan Sell
Stefan Sell© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Inoffiziell schwang das natürlich immer mit bei der Frage, unterstütze ich Familien, um damit auch die Kinderzahl anzuregen. Das war aber wie gesagt in den 60er-Jahren noch nicht so das Problem, da hatten wir die geburtenstarken Jahrgänge. Sondern wir haben eigentlich dann einen Zwischenschritt. Und dieser Zwischenschritt ist die Tatsache, dass wir in den 70er-Jahren dann eine klare Ausrichtung hatten, wo es darum ging, dass das Bundesverfassungsgericht auch durch verschiedene Urteile – das Wichtigste war dann 1990, wo man dort in Karlsruhe sagte, das Existenzminimum darf nicht besteuert werden –, wir bekamen auf einmal eine finanzpolitische, eine steuerpolitische Dimension in dieses Thema hinein. Und das vermischt sich. Also, es sind immer mehrere mitlaufende Linien.
Heise: Die Art der Förderung der Familien, Herr Sell, ist ja ein heiß debattiertes Feld bis heute immer wieder. Deutschland hat sich entschieden, die Familien vor allem direkt zu fördern, ihnen das Geld also quasi in die Hand zu geben und sich nicht weiter einzumischen, das stand jedenfalls ganz häufig so über allem. Andere Länder stecken das Geld eher beispielsweise in Tagesstätten, in die Bildung und so weiter. Beschreiben Sie doch mal den Debattenverlauf, wie war die Argumentation für Deutschland?
Sell: Ja, die Argumentation für Deutschland, und das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig für die Zuhörer, weil das immer vermischt wird: Sie lesen oder hören oft, wir geben soundso viel Hundert Milliarden aus für Familienförderung, und dann denken die Leute, damit werden die Familien gefördert. Und in diesen Beträgen sind zum Beispiel die fast 40 Milliarden Euro, die wir derzeit für Kindergeld ausgeben drin, die werden da reingeschmissen als Familienförderung. Nur muss man aber wissen: Zwei Drittel dieses Kindergeldes von fast 40 Milliarden sind keine Förderung der Familien, sondern sie gehen zurück auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990, wo die Verfassungsrichter gesagt haben, jeder Bürger darf mit seinem Existenzminimum nicht besteuert werden.
Und wenn der Staat das trotzdem tut – und zu den Bürgern gehören ja auch die Kinder bei einer Familie –, dann muss er wenigstens sozusagen hinterher das, was er zu viel der Familie weggenommen hat, in Form von Kindergeld – und früher und jetzt wieder Kinderfreibeträge in der Einkommenssteuer – wieder zurückgeben. Und deswegen müssen wir wissen, dass zwei Drittel des Kindergeldes bei den Familien sozusagen nur die Rückerstattung zu viel verlangter Steuern sind. Höchstens ein Drittel bei denen, die gar keine Steuern zahlen, könnte man als Familienförderung bezeichnen.
"Man fördert bestimmte Kinder besser"
Heise: Dann ist die Familienförderung, direkt geschehen, eigentlich gar nicht so hoch in Deutschland?
Sell: So ist das. Und das ist ganz, ganz wichtig. Weil, mit diesen Zahlen, die man immer hier zu hören bekommt – wir geben am meisten Geld aus für direkte Zahlung an die Familien, die 220 Milliarden, die dann da immer kolportiert werden –, da müssen Sie schon mal einen ordentlichen Batzen wegnehmen, weil sozusagen das hier einfach nur die Rückgabe von vorher versteuertem Einkommen ist, was nicht hätte versteuert werden dürfen. Und jetzt sind wir bei dem Problem: Natürlich geben die Deutschen sehr viel für Einkommensleistung aus in Form zum Beispiel von Kindergeld, aber ja nicht für alle, sondern wir haben zwei Probleme: Wir haben das Problem bei diesen Einkommensersatzleistungen, man fördert nicht alle Kinder gleich, sondern man fördert bestimmte Kinder besser – fördert in Anführungszeichen –, nämlich die Kinder verheirateter Familien werden sozusagen dann besser gestellt und Kinder von Familien mit höheren Einkommen.
Denn dadurch, dass man statt dem Kindergeld die Kinderfreibeträge wieder eingeführt hat – das war dann im Jahr 1983, hat man die Kinderfreibeträge im Steuerrecht wieder eingeführt –, bekommen, lassen Sie es mich so deutlich sagen, die Kinder von Familien, die hohes Einkommen haben, mehr über die Steuer zurück als zum Beispiel so ein kleiner Arbeitnehmer, der so wenig verdient, dass er gar keine Steuern zahlt und nur Kindergeld bekommt.
Heise: Gleichzeitig haben wir noch zwei andere Probleme: Wir haben steigende Kinderarmut und wir haben sinkende oder auf jeden Fall stagnierende Geburtenraten. Die Wirksamkeit des Kindergelds scheint ja nicht sehr groß zu sein
Sell: Ja! Aber hier kommen wir wieder auf Ihre Ausgangsfrage: Es wird ja auch in der heutigen Diskussion immer wieder ein Entweder-Oder gerne aufgemacht. Entweder Zahlungen, monetäre Transferleistungen an die Familien, oder Infrastruktur in Form zum Beispiel von Kindertageseinrichtungen. Wie so oft im Leben liegt die Wahrheit in der Mitte. Das bedeutet also, wir brauchen eigentlich – das wissen wir aus der Forschung – einen vernünftigen Mix zwischen materieller Sicherung der Familien und einer ermöglichenden Infrastruktur. Denn Kindertagesstätten zum Beispiel oder Ganztagsschulen ermöglichen ja nur – aber das ist sehr wichtig – dann Erwerbstätigkeit zum Beispiel von beiden Eltern. Und hier haben wir bisher ein klares Ungleichgewicht gehabt.
Wobei ich daran erinnern möchte, dass wir natürlich in den letzten Jahren hier schon Fortschritte gemacht haben, wenn Sie an den Kita-Ausbau denken, an den Ausbau der Ganztagsschulen, das hätte alles viel schneller und mehr und besser passieren können, aber man beginnt jetzt umzusteuern. Nichtsdestotrotz haben Sie den Finger auf die Wunde gelegt, wenn Sie sagen – und das muss man sich mal klarmachen –, dass wir heute, wenn wir von Armut reden, von einer Infantilisierung der Armut reden, das heißt, am stärksten betroffen sind die Kinder von tatsächlicher Einkommensarmut in Deutschland.
Das war noch in den 60er-Jahren anders. Damals war nur jedes 75. Kind von Sozialhilfe betroffen, während wir heute, schauen Sie nach Berlin beispielsweise: Fast jedes dritte Kind wächst in einem sogenannten Hartz-IV-Haushalt auf. Und warum das so ist: Das ist aber weniger ein Versagen des Kindergeldes, sondern die Tatsache, dass die Veränderung in unserer Wirtschaft auf den Arbeitsmärkten sich jetzt hier brutal niederschlagen. Denn tatsächlich, auch auf viel niedrigerem Niveau, aber konnten Sie in den 60er- und 70er-Jahren mit den Arbeitseinkommen, die Sie dort erwirtschaftet haben damals, konnten Sie leben oberhalb der damaligen Armutsgrenze, und Sie konnten auch teilweise gut Ihre Familie versorgen. Und das ist heute leider in vielen Fällen nicht mehr der Fall.
Heise: 50 Jahre Familienpolitik unter anderem durchs Kindergeld. Wir schauten darauf zurück, zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Herr Sell, ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Sell: Danke, Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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