Jami Attenberg: "Die Middlesteins"
Übersetzt von Barbara Christ
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2015
261 Seiten, 21,95 Euro
Die 150-Kilo-Mama
Edi ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und hat sich im Laufe der Jahrzehnte durch ihre Esssucht zu einem Fleischberg entwickelt - mit fatalen Folgen für ihre Gesundheit und ihre Familie. Darum geht es in "Die Middlesteins", einem virtuosen Familienroman von Jami Attenberg.
Romane über Familien, über ihre durch die Generationen geschleppten Neurosen, ihre Dramen, und dysfunktionalen Eigenheiten, gibt es einige; diesseits wie jenseits des Atlantiks. In der amerikanischen Gegenwartsliteratur darf Jonathan Franzen als Übervater des Erzählens aus dem familiären Innenraum gelten. Er hält sich an die Regel, den Familien- als drei-Generationen-Roman zu konstruieren. Seine 1971 geborene Kollegin Jami Attenberg weicht von dieser Regel in ihrem Roman über "Die Middlesteins" keineswegs ab. Aber das Problem, an dem die jüdische, in Chicago beheimatete Familie Middlestein laboriert und leidet, ist dennoch eine Sensation - eine echte literarische Neuigkeit!
Wer in jüngerer Zeit eine Reise in die Vereinigten Staaten unternahm, die von Michelle Obama nachdrücklich bekämpften Ernährungsgewohnheiten der amerikanischen Mittel- und Unterschicht erlebte und die schockierende Vielzahl schwer übergewichtiger Bewohner der Neuen Welt zur Kenntnis nahm, muss sich wundern, warum vor Jami Attenburg noch niemand auf die Idee kam, die Esssucht zum Thema eines Romans zu machen. Denn eben das ist Edi, die Ehefrau von Richard, Mutter von Robin und Benny und dessen Kindern: esssüchtig. Edi hat sich im Laufe von Jahrzehnten zu einem Fleischberg heran gefressen. Sie wiegt 150 Kilogramm, sie leidet an Diabetes und vielfachen anderen Krankheiten. Und da Edi nicht gewillt ist, das maßlose Schlingen einzustellen, sieht die Familie Middlestein hilflos zu, wie sich ihr weibliches Oberhaupt langsam, aber sicher in den Tod futtert.
Virtuos, pointiert, unterhaltsam
Mit traumwandlerischer Sicherheit steuert Jami Attenberg ihren Roman als Tragikomödie durch wechselnde Perspektiven der Erzählung. Jedes Familienmitglied kommt zum Zug und zu seinem Recht. Der 60-jährige Richard Middlestein, Apotheker von Beruf, der Edi nach 30 Ehejahren von heute auf morgen verlässt, weil er das Leben im Gefängnis der Kalorienzufuhr so wenig erträgt wie den Anblick seiner unförmigen Gattin. Die mürrische Tochter Robin, die so familiengeschädigt ist, dass sie kaum Nähe erträgt. Der Sohn Benny, der von seiner Mutter gewohnt ist, sich weiblicher Autorität zu unterwerfen und dies bei seiner Ehefrau Rachelle wiederholt. Und die Schwiegertochter Rachelle selbst, in deren Küche das nicht weniger fanatische Gegenprogramm zu dem der Schwiegermutter herrscht. Rachelle ist Ökogläubige, serviert zum Frühstück Tofu und zum Abendessen fettfrei gedünstetes Gemüse, bis ihre Kinder dramatisch rebellieren.
Virtuos, aber an keiner Stelle literarisch überambitioniert, entwirft Jami Attenberg aus zeitlich wechselnden Episoden die Geschichte der Middlesteins über mehrere Jahrzehnte hinweg. Von Edis Kindheit, die mit ihrer heillosen Überfütterung im Babystadium begann, bis zur Bar Mizwa ihrer Enkel, wo sämtliche Middlesteins und ihre Freunde aufeinandertreffen und sich die Romanhandlung in einem Schlussfiasko entlädt. Dieser Roman ist ein Glücksfall: Literarisch gelungen, pointiert und unterhaltsam und nicht zuletzt thematisch hochaktuell. Wer ihn liest, betrachtet die Popcorn-Eimer, die in Kinos angeboten werden, noch etwas skeptischer als zuvor. Eine adipöse Protagonistin hat der gegenwärtigen Literatur dringend gefehlt.