Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Luchterhand Verlag, München 2014
560 Seiten, 21,90 Euro
Simone und ihre Angst vor Schnee
Mit kraftvoller Sprache geht Ulrike Draesner den Spuren nach, die das Grauen des Zweiten Weltkriegs in den Seelen einer aus Schlesien geflüchteten Familie hinterlassen hat. Dieser kluge Roman bleibt spannend bis zum Schluss.
Familienromane haben nach wie vor Konjunktur. Groß angelegte Panoramen, die über mehrere Generationen hinweg Privates und Historisches miteinander verknüpfen. Auch Ulrike Draesner zeichnet in ihrem neuen Roman eine Familiengeschichte über mehr als siebzig Jahre nach. Doch von der braven Tröstlichkeit, der altbackenen Konventionalität, die dem Genre oft anhaftet, findet sich in den "Sieben Sprüngen vom Rand der Welt" keine Spur.
Denn die vielfach preisgekrönte Autorin hat schon immer mehrdimensional, komplex und welthaltig erzählt, indem sie die plane Handlung geschickt mit avancierten Theorien unterfütterte, aus der Gentechnik oder Hirnforschung etwa, egal ob es um Liebe, Beziehungen oder unerfüllte Träume ging. So auch in ihrer Geschichte um Flucht und Vertreibung, die davon handelt, dass sich neben Augenfarben, Talenten und Gewohnheiten unabweisbar auch Gefühle vererben. Ängste und Scham.
Im Zentrum stehen Simone und Eustachius Grolmann. Beide sind angesehene Verhaltensforscher, 82 der Vater, knapp über 50 die Tochter. Obwohl längst emeritiert lässt den Neurologen, der viele Affenschädel aufgebohrt hat, der Ehrgeiz, dem Gehirn der Primaten auf den Grund zu kommen, nicht los.
Ebenso gefangen ist er in seinen Erinnerungen - an den Breslauer Wald, durch den das Kriegskind mit seiner Mutter und dem behinderten Bruder im Januar 1945 unter Bombenhagel flüchtete. Kommt aus dieser Zeit Simones Abneigung gegen den Winter, ihre Angst vor Schnee? Eigentlich ist die Naturwissenschaftlerin, der die afrikanischen Steppen vertrauter sind als die bayerische Heimat, durch nichts zu erschrecken.
Traumaforschung mit literarischen Mitteln
Ulrike Draesner schreibt mit kühler Präzision, sie wirft uns hinein in die Verletzungen des Krieges, in das Grauen der Flucht, in die verstörenden Feindseligkeiten einer Dorfgemeinschaft der 1950er-Jahre, und sie stellt kluge Fragen. Penibel hat sie für ihren Vielstimmenroman recherchiert. Indem sie den Figuren kapitelweise das Wort erteilt, konturiert sie ihr Personal, stattet es mit je eigenem Tonfall aus.
Neben dem Vater-Tochter-Paar, neben der halbwüchsigen Enkelin, sind das die Großeltern: Lilly, die in der neuen Heimat Bayern nie Wurzeln geschlagen hat, der immer "die falschen Wörter aus dem Mund fallen". Oder Hannes, der sein behindertes Kind mit List dem Zugriff der Nazis entzogen hatte, als Frontsoldat die sowjetische Gefangenschaft überstand, als er in Sicherheit war, sich umzubringen versuchte - und danach von der "irren Schönheit" des Lebens im Krieg sprach.
Und da ist der polnische Psychologe Boris Nienalt, der betagte deutsche Patienten mit Angstsymptomen in deren verlorener Heimat nahe Wroclaw behandelt. Ähnlich Simone, in die er sich Hals über Kopf verliebt, träumt auch er die Bilder, die nicht seine eigenen sind. Wie seine aus Lemberg ins ehemals deutsche Breslau vertriebene Mutter versetzt ihn die Enge geschlossener Räume in latente Panik.
Kraftvoll in der Beschreibung von Seelenlandschaften, mit feiner Ironie, originell in den Sprachbildern, halten Stimmen- und Zeitenwechsel die Lesespannung bis zum Schluss - trotz mancher Längen. Denn so kunstvoll wie Ulrike Draesner das neue Wissen um den Ursprung von Traumata in deutsche und polnische Geschichten knüpft, wie sie verschiedene Lebenswahrheiten übereinander legt, das ist packend und klug. Und eine neue Seite am Familienroman.