Star-Counter auf dem Karrieregipfel
Max Emanuel Cencics musikalische Heimat ist die Barockoper: das goldene Zeitalter der hohen Stimmen. Früh verdiente er als Wunderkind das Geld für seine aus Zagreb geflohene Familie. Mit einer langen, sagenumwobenen Karriere als Countertenor hat er damals nicht gerechnet.
Auf den Coverfotos seiner CDs posiert Max Emanuel Cencic gern in extravaganten Outfits – auf dieser hier, mit dem Titel "Rokoko", zum Beispiel in quietschgelbem Hemd und mit Elvis-Tolle.
Zum Interview ist er im grauen Kapuzenpulli gekommen. Bis zum letzten Moment tippt er auf seinem Smartphone herum, aber im Gespräch ist er ganz bei Sache – egal, ob es um Musik geht oder um seine Wahlheimat Paris. Was ihn an dieser Stadt anzieht?
"Es ist diese unglaubliche Wucht an Kultur und an Internationalität, die man in dieser Stadt findet. Und vor allem ist es eine Stadt der Extreme. Sie haben dort ganz schreckliche Viertel und ganz tolle Viertel. Und es gibt 200 Theater und es gibt fünf Opernhäuser und unzählige Kinos, von Alternativkinos bis Hollywood-Popcorn, es gibt alles einfach. Und dieser unglaubliche Kulturmix an Menschen, die da sind, aus dem Nahen Osten bis Amerikaner, Australier, Spanier, Südamerika, es gibt alles, und das ist sehr inspirierend, finde ich."
Kein Wunder, denn Max Emanuel Cencic verkörpert selbst einen Mix der Kulturen: Er ist in Zagreb geboren, kam als Neunjähriger nach Wien, zu den Sängerknaben, studierte später in den USA.
"Und ich habe sehr lange gebraucht, um meine Heimat zu finden, weil wie ich aus Jugoslawien weggegangen bin, bin ich zurückgekommen in einen Staat, der nicht mehr existiert, und damit habe ich auch meine Heimat verloren. Und zwar ist Zagreb noch immer eine meiner Heimatstädte, aber das ist nicht mehr das, was es einmal war. Und irgendwie war ich immer auf der Suche nach meiner Heimat, und die habe ich dann in Paris gefunden."
Max Emanuel Cencics musikalische Heimat ist natürlich die Barockoper. Das goldene Zeitalter der hohen Stimmen ‑ ob sie nun einem Kastraten oder einer Sängerin gehörten, spielte seinerzeit für Komponisten und Publikum keine große Rolle ‑ das Zeitalter der funkelnden Koloraturen und der verwickelten mythologischen Geschichten. Eine musikalische Welt, die auf den ersten Blick ziemlich artifiziell erscheint, fern des heutigen Lebens. Ganz falsch, findet Max Emanuel Cencic.
Eine harte Zeit als Wunderkind
"In jeder Oper, vor allem in den Barockopern, ist ja das Thema oft Spiritualität, die Frage von unterschiedlichen Zuständen in der Gesellschaft, von den Beziehungen der Menschen, über Liebe, Hass, Tod, Vergeltung, das alles sind spirituelle Zustände, und die sind ein Teil unseres Schicksals. Zum Beispiel 'Siroe' von Hasse: Also, es ist eine Geschichte, in der es wirklich um den Machtkampf zwischen Licht und Dunkel geht. Ein altes System und ein neues System, eine alte Generation und eine neue Generation. Über die Verwicklung, dass der Vater dem Sohn nicht glaubt und der Sohn quasi ein Opfer eines Vaters wird, der völlig umnachtet ist durch dunkle Gedanken und eine negative Einstellung zu seinem eigenen Sohn. Und das sind Schicksale, die wir noch heute erleben, das ist ein Evergreen. Wer kann schon sagen, dass er eine perfekte Beziehung zu seinen Eltern hat."
Max Emanuel Cencic ist von seinen Eltern – der Vater Dirigent, die Mutter Opernsängerin ‑ in eine Wunderkind-Karriere gedrängt worden. Als er 15 war, verdiente er als Sopranist das Geld für seine Mutter und seine Schwester, die vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien geflohen waren, mit 19, so hat er mal in einem Interview erzählt, hatte er mehr als 2000 Auftritte hinter sich. Eine harte Zeit, über die er heute nicht allzu gerne spricht.
Ein Dokument jener Jahre ist gerade kürzlich auf CD erschienen: Mitschnitte von Konzerten, in denen Cencic als 16-, 17-Jähriger romantisches Repertoire gesungen hat – Lieder von Schubert, Schumann, Richard Strauss, aber auch die Kanzone des Oscar aus Verdis "Maskenball".
"Das ist so ein bisschen wie Kunstpferdchen und Trampolin-Repertoire, so hupf, hupf, mach mal ein bisschen Verdi und Strauss und Ave Maria von Schubert, das war einfach so. Das sind so kleine Zirkusnummern halt. Ich war ja noch jung und ich wusste nicht, wie lange ich noch singen würde, ich dachte immer mit 16 oder 17, morgen werde ich mutieren, oder ich werde nicht mehr weitersingen, also: Ich hatte nicht die Idee, dass ich als Countertenor weitersingen würde. Erst als ich 18 oder 19 war, dachte ich, na ja, jetzt wird es ein bisschen spät zu mutieren, ich denke wohl, das wird dabei bleiben. Und dann war klar auch, dass das Barockrepertoire das einzige Repertoire ist, das ich machen kann, oder eben Zeitgenössisches, weil im klassischen Bereich gibt es ja nichts Ernstzunehmendes für einen Counter, was man machen kann."
Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion
Dafür bietet ihm die Barockoper viele Möglichkeiten: Rund 60 Mal im Jahr steht Max Emanuel Cencic auf der Bühne, außerdem leitet er seine eigene Produktionsfirma, die komplette Inszenierungen auf die Beine stellt – er wollte sein eigener Herr sein, unabhängig vom manchmal ziemlich starren Klassik-Betrieb. Und neuerdings inszeniert er auch selbst: In Händels selten gespielter Oper "Arminio" war er dieses Jahr Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion, die Premiere bei den Karlsruher Händelfestspielen rief große Begeisterung hervor.
"Seine Helden und -innen können beim Singen wandern, gefesselt werden, Schnaps aus der Pulle picheln und sogar recht unterhaltsamen Sex haben. Aber nichts ist hier billiger Effekt", schrieb die Zeitung "Die Welt", und die "Neue Musikzeitung" war gleichermaßen angetan von seiner Personenregie wie von seinen sängerischen Fähigkeiten:
"Da sind großer Atem mit Flexibilität gepaart, wunderbares Timbre mit Gestaltungspotenzial. Durchweg und rundum souverän ist Cencic der Mittelpunkt."
"Ich finde es toll, dass ich in dem Moment die Position wechsle und mit meinen Kollegen zusammenarbeiten kann und vor allem diese Personenführung, die psychologische Entwicklung von Personen innerhalb des Spiels entwickeln kann. Es lässt mich wirklich Zeit und Raum vergessen. Ich hab am Anfang ein bisschen Angst gehabt, weil ich dachte: Oh Gott, so fünf, sechs Stunden muss ich da sitzen, jeden Tag, sechs Wochen lang proben, das ist tough, und vielleicht werde ich deprimiert sein. Aber überhaupt nicht, diese fünf, sechs Stunden vergehen so schnell, dass man am Schluss eigentlich gar nichts mehr bemerkt, weil man voll drin ist in der Geschichte."
In einer Geschichte, die 300 Jahre alt ist - und trotzdem auch heute noch aktuell:
"Die Geschichten sind sehr gegenwärtig, sie sind sehr machtvoll, kraftvoll und sie haben eine Aussage. Nur man muss sich damit beschäftigen und das auch verstehen. Und natürlich, dieser spannungsgeladenen Sachen sind psychologisch, sie sind spirituell, sie geben Antworten und stellen Fragen - und das ist eben das Spannende daran."