Fantasy als Religion

Heldenreise zur Erlösung

Malcolm Storry (l) als Zauberer Gandalf und James Loye als Hobbit Frodo Beutlin, der Ringträger, in "Herr der Ringe"
Malcolm Storry (l) als Zauberer Gandalf und James Loye als Hobbit Frodo Beutlin, der Ringträger, in "Herr der Ringe" © UPPA / Photoshot / Andy Bradshaw
Von Kirsten Dietrich |
Fantasy ist ein Genre, das die elementaren Fragen des Lebens stellt - ebenso wie viele Religionen. Die Helden der Fantasy-Geschichten begeben sich auf eine Reise, geraten in Lebensgefahr, werden geläutert und finden am Ende ihre ganz eigenen Antworten.
Harry Potter: Waisenjunge, Schüler eines magischen Internats für Zauberei, Heilsbringer – und Star einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Fantasy-Serien der Welt. Sieben Bücher, acht Filme, hunderte Millionen Leserinnen und Zuschauer. Und eine Frage: Warum um Himmels Willen sind so viele Menschen dazu bereit, in fantastische Welten einzutauchen, in denen Werwölfe und Zentauren angehende Zauberer unterrichten oder ein sprechender Löwe ein magisches Reich erlöst, das man durch die Rückseite eines Wandschranks erreicht?
Matthias Hurst: "In der Fantasy sehen wir einen Akt der Kreativität, der Schöpfung. Tolkien sagt auch: fantasy is a human right, das ist quasi ein Menschenrecht, dass wir Fantasie und Imagination benutzen, weil wir selbst geschaffen wurden und weil wir eine kreative Spezies sind.2
Und deswegen ist Fantasy mitnichten nur etwas für Kinder, sondern viel mehr: ein Befindlichkeitsanzeiger des kollektiven Unbewussten, könnte man salopp sagen. Oder mit dem Literatur- und Filmwissenschaftler Matthias Hurst:
"All das, was uns fehlt in der realen Welt, oder von dem wir glauben, dass es uns fehlt, das muss ja nicht immer so sein, all das, Spiritualität, Emotionalität, der Glaube an Dinge, die größer, höher, schöner, bedeutender sind als der pure Schein, Industrialisierung, Oberfläche, Wirtschaft, Geld, Kapitalismus, all das erschaffen wir uns dann in unseren Fantasiewelten. Natürlich hat Fantasy auch deshalb so einen Boom erlebt, weil die Menschen zunehmend unzufriedener werden mit der Realität, in der wir leben."
Der Riese setzte sich wieder auf das Sofa, das unter seinem Gewicht einknickte. "Du weißt nicht, was du bist?", sagte er schließlich. "Harry, du bist ein Zauberer."
In der Hütte herrschte mit einem Mal Stille. Nur das Meer und das Pfeifen des Winds waren noch zu hören.
"Ich bin ein was?"
"Ein Zauberer, natürlich", sagte Hagrid. "Und ein verdammt guter noch dazu, würd ich sagen, sobald du mal 'n bisschen Übung hast."
Hurst: "Intuitiv wissen wir alle, was Fantasy ist, tatsächlich aber ist der Begriff doch sehr vage, aber wir haben heute einen Gebrauch des Fantasybegriffs, der hauptsächlich Geschichten meint, die in fantastischen zauberhaften Welten spielen. Fantasy ist alles, was nicht unserer eigenen empirischen Wirklichkeit entspricht.
Fantasy hat Zauberer. Fantasy kann auch Elfen haben, ätherische, aber trotzdem mächtige Wesen – oder auch nur muskelbepackte Krieger mit wenig Kleidung und großen Schwertern: die Geschichten um "Conan den Barbaren" zählen zu den ältesten Beispielen der sogenannten heroischen Fantasy. Immer aber gilt: Fantasy zeichnet eine andere Welt, eine Alternative zum Jetzt. Matthias Hurst:
"Im Zeitalter der Aufklärung, wo der Mensch die Vernunft entdeckt, da schafft sich der Mensch in der Literatur eine Gattung, die ihm das gibt, was in der Welt verloren geglaubt ist. Die Welt ist entzaubert. Das beginnt in der Moderne, und in die entzauberte Welt bringen wir dann wieder den Zauber, die Magie zurück."
Reiseführer durch die Welt der Fantasy
Das bedeutet nicht nur: Magier und Einhörner als selbstverständliche Figuren. Die Verzauberung reicht tiefer. Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen – anlehnend daran könnte man sagen: Fantasy steht auf den Schultern mythischer Erzählungen, die tief ins Gedächtnis der Menschheit hineinragen.
"Im ersten Stadium der mythischen Fahrt, der Berufung, hat die Bestimmung den Helden erreicht und seinen spirituellen Schwerpunkt aus dem Umkreis seiner Gruppe in eine unbekannte Zone verlegt. Immer aber hausen in ihr seltsam fluide und vielgestaltige Wesen, drohen unvorstellbare Qualen, warten übermenschliche Taten und überirdische Freuden."
Mythen, Märchen, Sagen von Göttern und Menschen – sie alle überliefern letztlich über die Jahrtausende eine sich immer wiederholende Struktur. Der amerikanische Religionsforscher Joseph Campbell hat diesen Gedanken kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal formuliert. Er entwickelte den sogenannten Monomythos der Heldenreise: ein faszinierender Durchgang durch die Mythen der Kulturen, unter dem ordnenden Prinzip von Tiefenpsychologie und Archetypen. Campbells Forschungen sind der Reiseführer durch die Welt der Fantasy.
"Wenn ich den ganz klassischen Ruf nehme, wo der Bote des Königs in Dorf kommt und den Prinzen ruft, die Tochter des Königs ist entführt worden, und du musst sie befreien. Das wär der klassische Ruf. Und er geht los, auf seinem Weg kommen dann die Prüfungen bis zum ultimativen Kampf mit dem Drachen. Das wär der ganz klassische Plot einer Heldenreise, Geschichten, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte entstanden sind."
Der Gestaltherapeut Torsten Zilcher arbeitet mit mythischen Bildern.
"Übersetzt heißt das jetzt, dass wenn ein Mensch sich aufmacht auf seine innere Heldenreise und wir begreifen das ganze psychologisch-therapeutisch, dann wird er auf diesem Weg in Kontakt kommen mit dem, was man klassisch unter verdrängten Gefühlen versteht. Und sich damit zu konfrontieren, ist per se eine Prüfung."
Das Konzept des Mythenforschers Joseph Campbell lässt sich in vielem kritisieren: er mischt unterschiedslos Erzählungen aller Art, aller Zeiten und aller Kulturen zusammen. Er ist in seiner klassisch tiefenpsychologischen Ausrichtung hemmungslos blind für weibliche Lebensrealität. Und doch ist diese mythologische Gesamtschau ein brauchbares Werkzeug, für Erzähler wie für Therapeuten. Der Gestalttherapeut Torsten Zilcher lässt die Theorie konkret werden, in einer Verbindung von Therapie und Ritual. Zilcher geht mit Menschen auf Heldenreise.
"Fantasy ist die kleine Schwester der großen Mythen. Auf moderne Weise sind diese letztlich diese Motive aufgegriffen und erfüllen letztlich da genauso ihren Zweck."
Eine Heldenreise in die Fantasy also: Harry Potter zum Beispiel ist auf diesem Weg – sobald ihn der Halbriese Hagrid als Bote von den ganz und gar unzauberhaften Pflegeeltern in die magische Welt holt. Eine Welt voller Verlockungen, aber auch mit großen Gefahren: allen voran der böse Lord Voldemort – von dem fast alle Zauberer so zittern, dass sie ihn nur Du-weißt-schon-wer nennen.
"Hagrid zog plötzlich ein sehr schmutziges, gepunktetes Taschentuch hervor und schnäuzte sich laut wie ein Nebelhorn die Nase.
'Hast du dich nie gefragt, wie du diese Narbe auf der Stirn bekommen hast? Das war kein gewöhnlicher Schnitt. Das kriegst du, wenn ein mächtiger, böser Fluch dich berührt – hat sogar bei deiner Mum und deinem Dad geklappt – aber nicht bei dir, und darum bist du berühmt, Harry. Keiner hat es überlebt, wenn Du-weißt-schon-wer einmal beschlossen hat, jemanden zu töten, keiner außer dir.'
In Harrys Kopf spielte sich etwas sehr Schmerzhaftes ab. Als Hagrid mit der Geschichte ans Ende kam, sah er noch einmal den blendend hellen, grünen Blitz vor sich, deutlicher als jemals zuvor – und er erinnerte sich zum ersten Mal im Leben an etwas anderes – an ein höhnisches, kaltes, grausames Lachen."
Es geht um die Rettung der Welt
Das ist die ganze Geschichte mit Voldemort, wo er gerufen ist, sich soweit zu entwickeln, um irgendwann so weit zu sein, dieser Bedrohung gegenüberzustehen. Und letztlich damit die Welt zu retten. Das ist so ein ganz großer Ruf.
"In der Wirklichkeit oft und in Mythen und Märchen nicht selten kommt es vor, dass der Ruf auf taube Ohren stößt und die Antwort ausbleibt. Wer betroffen ward und nicht hören will, vergräbt sich in Langeweile, Geschäftigkeit und sogenannte Kultur, und seine Fähigkeit zu irgend bedeutsamen und fruchtbaren Leistungen verkümmert."
Der junge Zauberlehrling Harry Potter (Daniel Radcliffe) und seine Mitschülerin Hermione Granger (Emma Watson) stehen in dem neuen Kinofilm "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" einer unheimlichen Bedrohung gegenüber (Szenenfoto).
Daniel Radcliffe und Emma Watson in einer Verfilmung von "Harry Potter"© picture alliance / dpa-Film Warner
Das ist für Mythenforscher Joseph Campbell der nächste Schritt der Heldenreise: Zum Helden gehört, dass er nicht zum Helden werden will. So wie der Hobbit Bilbo Beutlin, erfunden vom Autor John R. R. Tolkien: Hobbits sind zwergenklein, haben große, haarige Füße – und sind überhaupt nicht begeistert von der Idee, mit 13 Zwergen und dem Zauberer Gandalf auf Drachenjagd gehen zu sollen.
"'Wenn Ihr eine Pfeife bei Euch habt, dann setzt Euch her und bedient Euch! Nichts drängt zur Eile, wir haben noch den ganzen Tag vor uns!' Bilbo setzte sich auf die Bank vor der Tür, kreuzte die Beine und blies einen wundervollen grauen Ring in die Luft, der heil und ohne auseinanderzuwehen über den Berg schwebte.
'Sehr schön", sagte Gandalf. 'Aber ich habe heute morgen keine Zeit, Ringe zu blasen. Ich suche jemanden für ein Abenteuer, das bestanden sein will, und es ist außerordentlich schwierig, jemanden dafür zu finden.'
'Das kann ich mir denken. In dieser Gegend! Wir sind ruhige Leute hier und suchen keine Abenteuer! Ein ärgerlicher, störender, unbehaglicher Zeitvertreib. So etwas verspätet nur die Mahlzeiten. Ich kann nicht verstehen, was jemand daran findet', sagte Bilbo, schob seine Daumen hinter die Hosenträger und blies einen noch dickeren Ring in die Luft."
Das Motiv kennt man auch aus der Bibel: der Prophet verweigert die Berufung mit dem Hinweis, er sei für diese Aufgabe gewiss nicht geeignet. Mose lehnt den Ruf Gottes ab: Er sei noch nie beredt gewesen, wie solle er das Volk Israel führen? Doch egal ob Mose oder Hobbit Bilbo: Wer reif für den Ruf zur Heldenreise ist, entgeht ihr nicht. Literaturwissenschaftler Matthias Hurst:
"Für manche Forscher sind Bibelfilme oder die Bibel an sich Fantasy. Das sind magische Geschichten. Biblische Mythologie. Für andere Menschen hat das nichts mit Magie zu tun, ist grad das Gegenteil von Magie. Die Sache mit Harry Potter: Als Harry Potter so beliebt wurden vor allem bei jungen Lesern, da gab es besorgte Eltern und Wissenschaftler, die sagten, das ist gefährlich, das widerspricht unserem christlichen Weltbild, weil hier Magier, Hexen und Hexer vorgestellt werden als sympathische Wesen – da wurde ein Gegensatz konstruiert zwischen Magie einerseits und dem richtigen Glauben andererseits."
Vor allem natürlich unter eifernden Frommen, die Harry Potter und Co. verbannen wollen, ohne je eine Seite gelesen zu haben. Eine heile Welt des Glaubens bildet die Fantasy nicht ab, sagt auch der Literaturwissenschaftler Matthias Hurst. Mit dem neusten Fantasyroman in der Hand auf die Kanzel steigen – so einfach ist es nicht.
"Fantasy ist vor allem auch in den moderneren Ausprägung manchmal auch sehr religionskritisch, vor allem, wenn es um institutionalisierte Religion geht – als Beispiel fällt mir da Philipp Pullman ein und die Kontroverse um seine Trilogie 'His Dark Materials', in der er mit dem Magisterium eine Institution vorstellt, die sehr stark an die katholische Kirche erinnert und die Menschen manipuliert, Menschenversuche anstellt. Da es zum Teil empörte Reaktionen von Kirchenleuten, dass das eine antireligiöse, antikirchliche Geschichte sei."
Den eigenen Platz finden - außerhalb der Religion
"Ruta Skadi stand auf. Ihre weißen Arme leuchteten im Licht des Feuers, und ihre Augen blitzten so hell, dass sogar die am weitesten entfernteste Hexe ihr Mienenspiel sehen konnte.
'Schwestern', begann sie, 'lasst mich euch sagen, was hier vorgeht und gegen wen wir kämpfen müssen. Denn dass ein Krieg kommen wird, ist sicher. Ich weiß nicht, wer auf unserer Seite stehen wird, aber ich weiß, gegen wen wir kämpfen müssen: gegen das Magisterium, die Kirche. Sie hat ihre ganze Geschichte hindurch versucht, jede natürliche Regung zu unterdrücken und unter Kontrolle zu bringen. Und was sie nicht unter Kontrolle bringen kann, schneidet sie heraus. Sie kontrolliert, vernichtet, zerstört jedes schöne Gefühl.'"
Der individuelle Held oder die individuelle Heldin muss ihre eigene Religiosität finden, ihren eigenen Platz finden, und dieser Platz liegt sehr häufig meistens außerhalb der organisierten Religion. Damit reagiert Fantasy tatsächlich auch auf die Veränderung unseres Weltbildes, unseres gesellschaftlichen Verständnisses, erfüllt sicher auch wieder diesen Kompensations- und Trosteffekt.
Harry Potter steht nur einmal in der ganzen Saga vor einer Kirche – in ihr feiern die normalen, nichtmagischen Menschen friedlich Weihnachten, während Harry mitten im Krieg zwischen Gut und Böse in der Zauberwelt steht. Statt Trost symbolisiert die Kirche Entfremdung. Überhaupt haben Priester egal welches ausgedachten Kultes in der Fantasy einen schlechten Ruf – Tempel sind meist Brutstätten von Verschlagenheit oder Korruption, oder auch als Hort von Reichtum beliebtes Ziel von Überfällen. Ganz ohne spirituellen Mentor muss der Held trotzdem nicht sein – das steht ganz im Einklang mit dem Schema der mythischen Heldenreise von Joseph Campbell.
"Wer sich der Berufung nicht verschlossen hat, begegnet auf seiner Fahrt zuerst einer schützenden Figur, oft einem kleinen alten Weiblein oder alten Mann, die ihn mit Amuletten gegen die Kräfte der Drachen, die er zu bestehen haben wird, versieht. Was diese Figuren darstellen, ist die wohlwollende, schützende Macht der Vorsehung."
Kim nickte lebhaft. 'Aber wie soll ich dich nennen?'
'Nenne mich, wie du willst', antwortete der Alte. 'Arcana vielleicht. Ich glaube, dieser Name würde dir gefallen.'
Der weise alte Mann – Mentor, Vorbild, Beschützer. Ohne ihn wird der Held nicht zum Helden. So wie im Buch "Märchenmond" der Junge Kim, eigentlich Science Fiction-Fan.
"Arcana? Kim überlegte. 'Du bist nicht Commander Arcana', sagte er bestimmt. Der Alte schmunzelte. 'Doch, Kim, das bin ich. Ich bin Commander Arcana, aber auch Gandalf, Merlin und der Mann im Mond, wenn du es so willst. Man hat mir viele Namen gegeben, und mir ist jeder recht.' Als er die Ratlosigkeit in Kims Gesicht sah, schüttelte er leicht den Kopf und fügte hinzu: 'Wenn du möchtest, nenne mich Themistokles. So hat mich deine Schwester immer genannt.'"
Tradition an weisen Mentoren
Nur wenige verweisen so direkt wie Märchenmond-Autor Wolfgang Hohlbein auf die Tradition, in der der weise alte Mentor des Helden steht. Die Liste der Name ließe sich fast beliebig verlängern: Schuldirektor Albus Dumbledore aus Harry Potter, Obi Wan Kenobi aus dem Weltraumepos Star Wars – der weise Mentor setzt den Helden auf die Spur zur Begegnung mit dem Schicksal. Und er gibt eine grundlegende Orientierung in der fantastischen Anderswelt: Was ist gut, was ist böse?
"Ob der Grund für den Erfolg von Fantasy die krasse Trennung gut-böse ist, weiß ich nicht, aber einer der Hauptgründe, warum Menschen sowas lesen. Und übrigens auch schreiben", ...

... sagt Wolfgang Hohlbein. Er muss es wissen, immerhin ist er derjenige Autor, der in Deutschland am erfolgreichsten über Fantastisches schreibt, mit über 40 Millionen verkauften Büchern. Die Welt der Fantasy ist meist klar geordnet: es gibt Gute, sie sind hell, schön und edel – und es gibt Böse: dunkel, schwarz oder rot. Sie haben schlechte Zähne und nichts auf der Agenda als zu zerstören. Epen wie der "Herr der Ringe" tun sich schwer mit Grautönen. Und dennoch: ganz so einfach macht es sich die Fantasy mit Gut und Böse doch nicht.
"Das ist ganz interessant, dass in vielen dieser Fantasyepen die Bösen eigentlich gefallene Gute sind."
Die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl hat sich viel mit religiösen Motiven in der Fantasy beschäftigt.
"Wir haben hier weniger das Konzept wirklich eines starren Dualismus, wo es das Licht und die Finsternis gibt, sondern eher das eigentlich sehr christliche Konzept des gefallenen Engels, also eines sehr Guten, der dann ein sehr Böser wird. Das ist eher das Konzept, das wir von der christlichen Satansfigur kennen."
Genau die Figur also, die Wolfgang Hohlbein als Autor interessant findet.
"Die Bösen nicht, aber vielleicht die Querdenker. Die dann als Böse abgestempelt, weil sie nicht mit dem Strom schwimmen und sagen: Das gefällt mir alles nicht so, da wird man ja ganz schnell in eine Ecke geschubst."
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J.K. Rowling, Schöpferin von Harry Potter. © Wall to Wall Media Ltd
Und wenn Hohlbein das Gegenüber von Gut und Böse hinterfragt, dann macht er das, wie meist in der Fantasy, auf doppeltem Weg: mit Psychologie – und mit dem Schwert.
"Seine Klinge drehte sich in einer unnachahmlichen Kreiselbewegung um die des Schwarzen Lords, prellte diesem das Schwert aus der Hand und schlug mit unbarmherziger Wucht gegen dessen Helm. Der Schwarze Lord verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sein Helm löste sich und rollte scheppernd davon.
Kim schrie entsetzt auf, als er das Gesicht des Schwarzen Lords sah.
Es war sein eigenes!
Der Schwarze Lord war niemand anders als er selbst!"
Hohlbein: "Für mich ist das das Kernthema, mein bzw. unser – ich hab das mit meiner Frau geschrieben – allererstes Buch hat das zum Thema, die Balance zwischen Gut und Böse. Und meine Lebensmaxime ist, dass es weder das absolut Gute noch das absolut Böse gibt, jeder hat beides in sich, und es ist unsere Verantwortung, und zwar jeder für sich alleine, die Wahl zu treffen."
"Der gewöhnliche Sterbliche ist nicht nur zufrieden, sondern geradezu stolz, dass er innerhalb der etablierten Grenzen bleibt. Und doch bedarf es nur der Überschreitung dieser Grenzen, um das Individuum, sei es lebend oder tot, in einen Bereich neuartiger Erfahrungen gelangen zu lassen."
Ganz hinten im Schrank...
Die magische Welt hat viele Schwellen – man muss sie nur zu finden wissen. Geradezu zum Klassiker geworden ist der Zugang in die magische Welt von Narnia, die der britische Autor C.S. Lewis erdacht hat. Sie liegt – als psychologisches Bild für den Beginn einer Heldenreise durchaus passend – ganz hinten im Schrank.
"Lucy fürchtete sich ein wenig, doch gleichzeitig war sie ganz kribbelig vor Neugier und Aufregung. Sie schaute sich über die Schulter um und dort, zwischen den dunklen Baumstämmen, sah sie immer noch die offene Tür des Kleiderschranks und sogar einen Schimmer von dem leeren Zimmer, aus dem sie gekommen war."
"Ich brauch das ab und an mal, einfach abzutauchen aus der jetzigen - aus Problemen, die man vielleicht im Alltag hat, in eine andere Welt zu gehen, ich seh es nicht als Flucht, weil die wirkliche Welt so furchtbar ist, sondern einfach als eine Art andere Welt, eine Parallelwelt."
In der Alltagswelt hat Martha einen Verwaltungsjob – aber seit Kindertagen überschreitet sie immer wieder die Schwelle in andere Welten, seit sie griechische Sagen und nordische Mythen entdeckte.
Natalie: "Für mich ist Fantasy etwas, das so anders ist als die Welt, in der wir leben, aber auch eine etwas poetische Art - mit Sprachen, mit Völkern, mit verschiedensten Riten und Liedern, das ist so unglaublich detailliert, dass es schon eine Welt für sich ist."
Heimerl: "Es ist ja nicht so, dass alle, die heute Fantasy lesen oder im Film sehen, dass die wirklich in so einer Welt leben möchten für immer. Aber sich zeitweilig in so eine Welt hineinzubegeben, das hat schon was, auch weil es eine Welt ist, in der man seines Glückes Schmied ist. In der man handeln kann, selbst was bewirken kann, nicht Eindruck hat, von anonymen Institutionen gesteuert zu werden, wie das heute viele Menschen empfinden."
Aus dem Eintauchen in diese ganz anderen Welten schöpft das Fantasy-Genre einen Großteil seiner Anziehungskraft, davon ist die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl überzeugt. Sie erforscht an der Universität Graz unter anderem die Wirkkräfte moderner Mythen in Film und Literatur.
"Was Fantasy auszeichnet, ist, dass Magie, diese Verzauberung, ganz selbstverständlicher Teil dieser Welt ist. Das machts ja auch so interessant für uns heute in der Moderne oder Postmoderne, dass das eine Welt ist, in der Magie oder Transzendenz, wie die Religionswissenschaft sagen würde, einfach da ist, ganz selbstverständlich alles umgibt, und nicht erst in Göttern oder in Kirchen oder in Tempeln beschworen werden muss."
Die Fantasy-Welt ist kein Ort politischer Debatten
Dabei ist die Fantasy-Welt übersichtlich - meist passt sie auf eine detailliert gezeichnete Karte im Einband eines Buches. Und so schillernd sie auch scheinen mag – es ist eine eher schlichte Welt, mit ans Mittelalter angelehnten feudalistischen Strukturen. Loyalität ist wichtiger als politische Debatten.
Ausnahmen bestätigen dabei die Regel: der amerikanische Autor George R. R. Martin ist einer der wenigen, der in seinem Epos "Lied von Eis und Feuer" die politische Intrige in den Vordergrund stellt. Unter dem Titel "Game of Thrones" werden die Bücher gerade mit riesigem Erfolg weltweit als Fernseh-Serie gesendet.
"Ich denke, das macht schon die Faszination der Fantasy aus, dass sie die Welt vereinfacht, dass sie auch sagt, es gibt das Gute und es gibt Möglichkeit, da zu bleiben, nach mehreren Versuchungen und Prüfungen."
"Für die Religion gilt das gleiche: Das ist die Suche nach Antworten, die will sich nicht damit abfinden, dass die Welt irgendwann endet", ...
.. sagt der Schriftsteller Wolfgang Hohlbein.
"Das Paradies wird ja nicht beschrieben, da heißt ja nicht: da gibt's die und die Landschaft, da sitzt du auf einer Wolke und isst Manna und schreist Hosianna, das ist vielleicht der Unterschied, dass die Phantastik sich die Mühe macht und sich Parallelwelten ausdenkt und beschreibt."
"Die Vorstellung, dass die Überquerung der magischen Schwelle in eine Sphäre der Wiedergeburt führt, findet in der ganzen Welt ihre Darstellung im Bild des Walfischbauches. Anstatt die Mächte der Schwelle zu besiegen oder niederzuschlagen, wird der Held ins Unbekannte geschlungen, wie tot , nach innen, um neu geboren zu werden."
"Um wirklich auf Heldenreise gehen zu können, ist es notwendig, einen gewissen Abstand zur Welt zu haben, in der ich lebe. Das ist es, was Campbell meint, dass ich in dieser Zeit für die Außenwelt nicht erreichbar bin", ...
...erklärt der Gestalttherapeut Torsten Zilcher.
"Das bedeutet mehr, als das Handy auszustellen im Sinne von dass ich bewusst entscheide, ich geh da jetzt hin und es geht nur um mich. Das findet man in vielen Ritualen von verschiedenen Kulturen wieder, ich hatte mal das große Glück, eine Visionssuche nach Lakota-Art mitmachen zu können, da ist es auch so, dass man über so eine Schwelle geht und dann als vakan gilt – das bedeutet: man ist heilig auf eine Art und Weise und niemand schaut einen mehr an. Sondern man ist in ner anderen Welt, in ner eigenen Welt und geht den Weg, den man zu gehen hat."
Wer sich im Land der Fantasy aufmacht zu den wirklichen Herausforderungen, den heroischen Taten, begibt sich dabei erstaunlich oft unter die Oberfläche im wahrsten Sinne. Immer wieder führt es die Helden in Tunnel, Höhlen, Bergwerke. Dahinter steht symbolische Bedeutung: Fantasy erzählt von Heldentaten, aber vor allem, erstaunlich für die angeblich so hedonistische Gegenwart, vom: Tod.
Ringen um den rechten Umgang mit dem Tod
Zum Beispiel in den Geschichten von Harry Potter. Auf den ersten Blick erzählen die Romane von der magischen Erziehung des Zauberschülers Harry. Doch unter den mal amüsanten, mal furchterregenden Begegnungen mit magischen Kreaturen und bösen Zauberern liegt die eine durchgehende Erzählung des Romanzyklus: die vom Ringen um den rechten Umgang mit dem Tod. Sie bringt Harry bis an die Schwelle des Todes selber - ironischerweise in einem abgelegenen Raum im Zaubereiministerium gelegen.
"In der Mitte des Raumes erhob sich ein steinernes Podium, über das sich ein Steinbogen spannte, so uralt, rissig und bröcklig, dass Harry sich wunderte, dass er überhaupt noch stand. An keiner Stelle von einer Mauer gestützt, war der Bogen von einem zerschlissenen schwarzen Vorhang oder Schleier behängt, der trotz der völligen Stille der kühlen Luft ringsum ganz leicht flatterte, als ob er gerade berührt worden wäre."
Der britische Schauspieler Christopher Lee verkörperte in dem 2001 veröffentlichten Fantasy-Kinoabenteuer "Der Herr der Ringe - Die Gefährten" den finsteren Zauberer Saruman (Szenenfoto).
Der britische Schauspieler Christopher Lee verkörperte in dem 2001 veröffentlichten Fantasy-Kinofilm "Der Herr der Ringe - Die Gefährten" den finsteren Zauberer Saruman.© picture alliance / dpa / Enterpress NLC
Hinter dem Schleier – die Toten, die verlockend wispern. Nur wenig später wird Harrys geliebter Pate Sirius, einer seiner Ersatzväter, durch diesen Schleier fallen, im Kampf mit einer Anhängerin der Bösen, die sich selber sinnigerweise Deatheaters, Todesser, nennen. Diese Begegnung mit dem Tod markiert den Wendepunkt in Harrys Geschichte: Von nun an versteht er den Kampf gegen das todbringende Böse als seinen persönlichen Auftrag. Vorher war er geborgen in einer anderen Vorstellung vom Tod: der Tod als einfacher Schritt in eine neue, aber nicht grundlegend andere Welt. Schuldirektor Dumbledore, die andere prägende Vaterfigur, vermittelt Harry dieses Verständnis gleich im ersten Band der Serie: Der Tod, sagt er da, ist für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer.

Zilcher: "Wie C.G. Jung mal gesagt hat: Wenn wir in der Welt alles entwickelt haben und alle Reisen gegangen sind, eine letzte große Reise wird übrig bleiben, und das ist das größte Abenteuer, es ist die Reise nach innen."
Natalie: "Ich finde, dass in diesen Fantasygeschichten es geht viel um Tod, aber da stellt man doch fest, dass es nicht immer das böseste ist."
Showdown in einem Wartesaal zwischen Leben und Tod
Auch in anderen ihrer geliebten Fantasiegeschichten begegnet der Studentin Natalie der Tod – und sein Gegenbild, die Unsterblichkeit. Nach Unsterblichkeit zu streben aus Angst vor dem Tod – in den Harry-Potter-Büchern ist das die Motivation für den dunklen Lord Voldemort. Dieser Wunsch zerstört die Seele, macht Autorin Joanne K. Rowling unmissverständlich klar. Den Tod muss man nicht fürchten, nicht einmal beim letzten Showdown in einem merkwürdigen Wartesaal zwischen Leben und Tod.
"'Aber Sie sind tot', sagte Harry.
'Oh ja', erwiderte Dumbledore nüchtern.
'Dann... bin ich auch tot?'
'Ah', sagte Dumbledore und lächelte noch breiter. 'Das ist die Frage, nicht wahr? Im Großen und Ganzen, mein lieber Junge, glaube ich das nicht.'
'Aber...' Harry hob unwillkürlich die Hand zu seiner Blitznarbe. Sie war anscheinend nicht da. 'Aber ich hätte sterben müssen – ich habe mich nicht verteidigt! Ich wollte mich von ihm töten lassen!'
'Und das', sagte Dumbledore, 'wird, denke ich, das alles Entscheidende gewesen sein.'"
"Nachdem der Held einmal die Schwelle überquert hat, bewegt er sich in einem Traumland, wo er eine Reihe von Prüfungen zu durchstehen hat. Schritt um Schritt werden die Widerstände gebrochen."
"Das merk ich bei vielen Geschichten, dass die Helden etwas tun aus innerer Überzeugung. Nicht weil denen vom König, von der Königin, vom Lehnfürsten irgendein Auftrag erteilt wurde und man sagt ihm: Geh mal hin und schlag mal den Drachen tot, der Held geht schon aus eigenem Antrieb. Er weiß, dass das getan werden müsste, und er weiß, dass mit seiner Tat Leute gerettet werden und er macht es einfach."
Natalie studiert Ethik und Russisch und ist begeisterte Fantasyleserin. Was manche Kritiker als hohen Ton oder Pathos verspotten, ist genau das, was sie fasziniert: In diesen Geschichten geht es wirklich um etwas. Das deckt sich mit den Untersuchungen der Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl.
"Das sind ja eigentlich sehr konservative Welten, mit Werten wie Treue, Freundschaft, Opferbereitschaft bis eben zum Tod hin, das sind sehr christliche Werte."
Bei allen Werten sind es aber auch im Kern gewalterfüllte Welten, selbst wenn sie wie das zauberhafte Land Narnia von einem überzeugten Christen gestaltet werden: Narnia ist eine Erfindung des Autors C.S. Lewis und seit mehr als 50 Jahren ein Klassiker der englischsprachigen Kinderliteratur. Die Geschwister Peter, Susan, Edward und Lucy erleben Abenteuer und treffen fantastische Kreaturen, gekrönt von einem sprechenden Löwen. Und doch ist das bitterernst: In Narnia geht es um alles. Die Welt erzittert vor der bösen Weißen Hexe. In Narnia bringt der Weihnachtsmann – Waffen.
"'Peter, Adamssohn', sagte der Weihnachtsmann.
'Hier, Sir', sagte Peter.
'Dies sind deine Geschenke', kam die Antwort, 'und es sind Werkzeuge, keine Spielzeuge. Vielleicht ist die Zeit schon nah, da du sie brauchen wirst. Verwende sie gut.'
Mit diesen Worten überreichte er Peter einen Schild und ein Schwert. Still und feierlich nahm Peter diese Geschenke entgegen, denn er fühlte, dass es Geschenke von großer Bedeutung waren."
Heimerl: "Es gibt eine klare Aufgabe, und die ist dann auch irgendwann zu Ende, und sie ist gut zu Ende. Dieses: es geht immer im gleichen Trott weiter, und wenn man das eine gelöst, kommt gleich das nächste Problem, das ist was, was in Fantasy nicht gibt. Die hat klar Anfang, Handlung, Ende. Das fasziniert nach wie vor oder mehr denn je sehr viele. Jugendliche und Erwachsene. Diese Vereinfachung der komplizierten Wirklichkeit."
Jede Heldenreise läuft auf den einen Punkt zu
Die Aufgabe des Helden ist es, seine Seele über alle Schrecken hinaus weit zu machen, damit er reif wird für das Wissen, wie die zermürbenden und unverständlichen Tragödien dieses großen und gleichgültigen Kosmos in der Majestät des Seins ihre völlige Begründung haben. Er überwindet das Leben und seinen "blinden Fleck" und erhebt sich für einen Augenblick zur Schau des Urgrunds.
Zilcher: "Wenn ich mich diesem innersten Abenteuer stelle, dann mag schon sein, dass auf dieser Reise irgendwann die höchste Prüfung ansteht, und diese höchste Prüfung ist die Begegnung mit meiner tiefsten existentiellsten Angst."
Jede Heldenreise läuft unweigerlich auf diesen Punkt zu, sagt der Gestalttherapeut Torsten Zilcher: das größte Opfer, die größte Furcht.
Größer, klarer und einprägsamer als der Großmeister der Fantasy kann man diese Schlüsselszene wohl kaum fassen: John R.R. Tolkien stellt seinen Held Frodo zum Ende seines Zyklus' vom "Herrn der Ringe" an die Schicksalsklüfte tief im Inneren des Schicksalsbergs. Hier soll Frodo den Ring des Bösen und damit das Böse selber in glühende Lava werfen.
"'Ich bin gekommen', sagte er. 'Aber jetzt will ich das nicht tun, weshalb ich gekommen bin. Ich will diese Tat nicht vollbringen. Der Ring gehört mir!'"
Frodo, der es dann tatsächlich schafft, diesen Ring bis zu den Schicksalsklüfte zu tragen, vermag es nicht, diesen Ring ins Feuer zu werfen und ihn dadurch tatsächlich zu vernichten. Erst durch das Eingreifen eines Wesens, das den Ring vorher 500 Jahre lang besessen hat, Gollum, der ihm dann dem Finger abbeißt mit dem Ring und dann vor Freude tanzend ins Feuer stürzt, erst dadurch wird das Böse überwunden.
Thomas Fornet-Ponse ist katholischer Theologe und hat sich intensiv mit dem Werk Tolkiens beschäftigt.
"Nicht durch die freie Tat Frodos, sondern gewissermaßen durch den – Tolkien bringt dann explizit die Vorsehung ins Spiel, er meint, letztlich war eben da eine andere Macht im Spiel. Nämlich der Autor der Geschichte, womit er sich nicht selber meinte. Sondern natürlich den einen Gott, der für sein eigenes Glaubensleben eine ungemein große Rolle spielte. Da haben wir tatsächlich dann eine Erlösung aus reiner Gnade."
"Da war Frodo, bleich und erschöpft, und dennoch wieder er selber; und in seinen Augen war jetzt Friede. Seine Bürde war von ihm genommen. 'Erinnerst du dich an Gandalfs Worte: Selbst Gollum mag noch eine Rolle zu spielen haben? Ohne ihn hätte ich den Ring nicht vernichten können. Die Fahrt wäre umsonst gewesen, selbst am bitteren Ende. So wollen wir ihm vergeben!'"
Frodo versagt und triumphiert gleichzeitig – ein gebrochener Held. Und genau dadurch kann man sich mit ihm identifizieren.
Natalie: "Frodo hatte es schwer, aber der hat am Ende es doch ja hinbekommen, die Welt gerettet. Wäre er nicht die ganze Sache mit der Ring-Frage eingegangen, wär es doch untergegangen."

Fornet-Ponse: "Da haben wir eine ganz klare Analogie, auch zu erlöserhaften Zügen. Man sieht, dass diese Welt eben in diesem Kampf zwischen guten Wesen und bösen Wesen verwickelt ist, dass das Böse eine ungemeine Macht hat, und insofern ist es da dann erstmal natürlich die Erlösung von diesem materiell auftretenden Bösen."
Der schwache, unwahrscheinliche Held als Erlöser? Für Fantasyleserin Natalie geht der religiöse Vergleich da zu weit.

"Er ist ein Held, ganz ohne Zweifel, Frodo hat Großes geleistet, aber Erlöser ist er nicht, denke ich mal. An seiner Stelle würde sich doch früher oder später jemand anderer finden, der das doch getan hätte. In meinem Verständnis ist ein Erlöser irgendjemand bestimmter, irgendeine bestimmte Person, die nur das jetzt machen kann. Nicht jemand an seiner Stelle, nur er ist dazu in der Lage, seine Welt irgendwie zu verändern."
Jesus Christus als Heros einer Heldenreise?
Opfer und Erlöserfiguren – von ihnen erzählt die Fantasy. Funktioniert das auch andersherum? Lässt sich die Erlöserfigur Jesus Christus auch als Heros einer Heldenreise verstehen? Gestalttherapeut Torsten Zilcher war lange Jahre auch als Diakon in der evangelischen Jugendarbeit tätig.

"Das Neue Testament ist für mich eine Heldenreise par excellence, sind alle Elemente glasklar vorhanden, die ganzen Schritte, die Jesus durchlebt, das ist eine klare Heldenreise. Es gab viele Prüfungen und eine letzte große Prüfung. Und er ist ans Kreuz gegangen und hat sich der letzten großen Prüfung gestellt."
Heimerl: "Ich finde schon, man kann durchaus von christologischen Motiven sprechen, gerade auch, was dieses Opfer, Selbstopfer betrifft, da sind christologische Züge drin, aber Fantasy als Paraphrase der christlichen Leidensgeschichte zu lesen, das geht für meinen Geschmack etwas zu weit."
Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl bleibt skeptisch. Man versteht die Erlösung in der Fantasy ja wirklich auch ohne übergreifende Heilsgeschichte, radikal individuell. Wie am Beispiel von Bastian Balthasar Bux, dem Helden von Michael Endes "Unendlicher Geschichte". Bastian ist ein pummeliger Schuljunge, bis er durch ein magisches Buch ins Land Phantásien gelangt. In Phantásien ist Bastian stark und mutig. Aber die wahre Prüfung erfolgt, als auch sein Innerstes stark und schön werden soll. Bastian ringt nun nicht mehr mit Drachen, sondern mit Selbstsucht, Eitelkeit und Versuchungen. Bis er schließlich unter großen Opfern ans Ziel seiner Reise gelangt: zum Wasser des Lebens.
 Der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien (undatierte Aufnahme). 
Der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien (undatierte Aufnahme). © picture alliance / dpa / epa afp
"Und während sie darauf zugingen, fiel mit jedem Schritt von Bastian eine der wunderbaren phantásischen Gaben nach der anderen ab. Aus dem schönen, starken und furchtlosen Helden wurde wieder der kleine, dicke und schüchterne Junge. Sogar seine Kleidung verschwand und löste sich vollends in Nichts auf. So stand er zuletzt nackt und bloß vor dem großen Goldrund, in dessen Mitte die Wasser des Lebens aufsprangen, hoch wie ein kristallener Baum."
"Mit jeder Schwelle, die es überschreitet, und mit jedem Drachen, den es sich unterwirft, wächst das Format der Gottheit. Auf der allerletzten Stufe zerbricht der Geist auch noch dessen Schranken und gelangt zu einem Wissen, das alle in Formen, Symbole oder Gottheiten gebannte Erfahrung transzendiert: Er wird des unermesslichen Abgrunds gewahr."
"Aber dann sprang Bastian einfach in das kristallklare Wasser hinein, wälzte sich, prustete, spritzte und ließ sich den funkelnden Tropfenregen in den Mund laufen. Er trank und trank, bis sein Durst gestillt war. Und Freude erfüllte ihn von Kopf bis Fuß, Freude zu leben und Freude, er selbst zu sein. Denn jetzt wusste er wieder, wer er war und wohin er gehörte. Er war neu geboren. Und das schönste war, dass er jetzt genau der sein wollte, der er war."
Fantasy mag das Happy End
Das Ziel ist erreicht – der Held hat alle Hindernisse überwunden. Die Fantasy mag das Happy End. Aber es reicht tiefer als ein "...und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage". Die Heldenreise, sagt der Mythenforscher Joseph Campbell, führt zur Versöhnung von Archetypen, von widerstreitenden Anteilen in der menschlichen Seele genauso wie in Göttern. Kurz: zur Vergöttlichung, der Apotheose. John R. R. Tolkien, der prägende Autor der Fantasy hat dafür einen ganz eigenen Begriff gefunden: die Eukatastrophe.

"Eukatastrophe ist ein von Tolkien neu eingebrachter Begriff – man kann darüber streiten, ob der Begriff plausibel gebildet ist oder nicht, aber für Tolkien bildet er sich aus der Vorsilbe Eu, griechisch für gut, und katastrophe, eben diese katastrophische Wendung, plötzliche Wendung."
Für den Theologen Thomas Fornet-Ponse ist das Werk von John R.R. Tolkien mehr als Unterhaltung. Tolkien arbeitete als Professor für Linguistik in Oxford. Er liebte Mythen, vor allem nordische Sagen wie die Edda. Und er war gläubiger Katholik – keine Selbstverständlichkeit im traditionell anglikanischen Großbritannien. Beides zusammen – Christentum und die vorchristliche Sagenwelt – bilden das Fundament, auf dem Tolkien seine fantastische Welt von Mittelerde aufgebaut hat.
"Die Eukatastrophe ist eben die plötzliche gute Wendung, ein Beispiel in seinen Werken wäre zum Beispiel im Hobbit das Kommen der Adler, ohne die die Schlacht nicht gewonnen worden wäre."
Man muss Fantasy nicht gleich als neue Religion verstehen. Aber mit Tolkien kann der Höhepunkt der Heldenreise auf jeden Fall zum religiösen Moment werden – selbst wenn Glaubensfragen nicht ausdrücklich Thema sind.

"Wenn in einer gelungenen Fantasy eine Eukatastrophe erscheint und Menschen dadurch eben diese Freude oder auch einen Vorschein von Gnade erahnen können, ist das ein 'far-off gleam of evangelion', also ein ferner Widerhall des Evangeliums, und damit meint er letztlich eben auch die frohe Botschaft des Christentums. So dass nach Tolkien zumindest in einer gelungenen Fantasy, egal wie inhaltlich sie zu Christentum oder zur Religion steht, in einer gelungenen Fantasy, wenn sie gut geschrieben ist und diese Charakteristika, ist sie gewissermaßen durchaus auch ein Transportmittel von religiösen und metaphysischen Wahrheiten."
"Der Segen bemisst sich nach dem Format des Beters und nach dem Wunsch, der ihn zuoberst beherrscht. Dass der Held, wenn er die Gunst seines Gottes gewonnen hat, im allgemeinen statt vollendeter Erleuchtung sich ein längeres Leben, Gesundheit für sein Kind oder Waffen zur Tötung seines Nächsten ausbittet, scheint der Grund für jenes ironische Lachen der Götter zu sein."
Wie ein direkter Kommentar zum Konzept der Heldenreise von Joseph Campbell wirkt die Fabel, mit der Joanne K. Rowling ihre Erzählung über den Zauberlehrling Harry Potter beschließt: Drei Brüder, so heißt es, hatten dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Grummelnd gestand der Tod jedem von ihnen ein Geschenk zu, die titelgebenden "Heiligtümer des Todes". Der erste Bruder wünschte sich einen unbezwingbaren Zauberstab – und wurde prompt von einem Neider im Schlaf getötet. Der zweite Bruder wollte einen Stein, mit dem er eine geliebte Frau vom Tod zurückbringen konnte. Die Frau war aber so unglücklich in der Welt der Lebenden, dass der Bruder lieber den Freitod wählte, um in der Welt der Toten mit ihr zu leben. Nur der dritte, jüngste Bruder wählte klug: Er erbat sich einen Mantel, der unsichtbar macht.
"Obwohl der Tod viele Jahre lang nach dem dritten Bruder suchte, konnte er ihn niemals finden. Erst als der jüngste Bruder ein hohes Alter erreicht hatte, legte er schließlich den Umhang ab, der unsichtbar machte, und schenkte ihn seinem Sohn. Und dann hieß er den Tod als alten Freund willkommen und ging freudig mit ihm, und ebenbürtig verließen sie dieses Leben."
Die Lehre der mythischen Reise: Hoffnung
Was nimmt der kluge Held, die kluge Heldin von der mythischen Reise mit? Für die Studentin Natalie ist die wichtigste Gabe: Hoffnung.
"Diese fernen Welten sind einem doch näher als man denkt, weil man doch noch an Wunder glaubt, weil man noch diesen Funken von Kindheit in sich trägt und noch an diese Wunder vielleicht glauben möchte."
Der Gestalttherapeut Torsten Zilcher setzt auf seelisches Wachstum:
Zilcher: "Im Psychologischen nennt man das Expansion, das heißt, dass ein Teil meiner Psyche, meiner Persönlichkeit, den ich bisher nicht entwickelt hab, den ich bisher zurückgehalten habe, dass der dann wachsen darf und sich entfalten darf. Das wäre analog das psychologische Motiv zum religiösen Motiv der Auferstehung."
"Wenn der Held seine Aufgabe gelöst hat, bleibt ihm noch der Rückweg mit der Trophäe, die das Leben verwandeln soll. Oft aber hat er sich seiner Verantwortung entzogen."
"Fantasy hat viele verschiedene Funktionen, eine Funktion ist sicher Trost. Flucht auch, Eskapismus wirft man der Fantasy häufig vor, auch darüber schreibt Tolkien in Essay über fantastische. Er deutet es anders: es ist ja nicht die Flucht des Deserteurs aus Feigheit, sondern es ist die Flucht aus dem Gefängnis."
Der Literatur- und Filmwissenschaftler Matthias Hurst:
"Man kann einem Gefangenen nicht vorwerfen, dass er an Flucht denkt und die verwirklichen will. Natürlich wenn manche sich nur noch in der Fantasywelt bewegen, das kann ins Pathologische gehen. Aber das sind ja nicht die meisten Fälle. Die meisten klappen das Buch zu und sind dann wieder in dieser Welt zuhause."
Natalie: "Wenn ich tatsächlich die Woche über ganz gestresst bin oder zu wenig Schlaf bekomm oder einfach nur die Aufgaben über den Kopf wachsen, dann ist es für mich wirklich eine Fluchtmöglichkeit, mich in Ecke hinzusetzen, mit einer Tasse Tee, wo man dann sagt, ich bin nicht da, ich bin für niemand zu sprechen, ich lese jetzt."
"Der Bereich der Götter ist eine vergessene Dimension der Welt, wie wir sie kennen, und die Erforschung dieser Dimension, sei sie freiwillig oder unfreiwillig, ist die letzte, abschließende Aufgabe des Helden. Wie soll er die Laute der Finsternis, die die Sprache verschlagen, zurückübersetzen in die Sprache des Alltags?"
Es ist schwer, zum Abenteuer aus dem Haus zu gehen – es ist, und das unterschätzt man leicht, genauso schwer, wieder zurückzukommen. Es ist eine Stärke des Konzepts der Heldenreise, dass es diese Schwierigkeit mit bedenkt, sagt Torsten Zilcher.
"Das ist, was in vielen Heldenreisen und auch Fantasystories ausgearbeitet ist, dass der Held oder die Heldin, wenn sie zurückkommt von der Heldenreise, tatsächlich eine andere geworden ist."
Beim "Herrn der Ringe" zeigt sich ganz zum Ende: auch wenn Frodo und sein Freund und Diener Sam die Abenteuer gemeinsam bestanden haben – die Heldenreise hat sie ganz unterschiedlich berührt.
"Alles ging nun gut, und es bestand Hoffnung, dass es noch besser würde, und Sam war so beschäftigt und so voller Freude, wie sich selbst ein Hobbit nur wünschen konnte... Eines Abends kam Sam ins Arbeitsszimmer und fand, dass sein Herr sehr seltsam aussah. Er war sehr bleich, und seine Augen schienen Dinge in weiter Ferne zu sehen.
'Was ist los, Herr Frodo?', fragte Sam.
'Ich bin verwundet', antwortete er, 'verwundet, und es wird niemals richtig heilen.'"
Zilcher: "Es stehen Entscheidungen an, oder ich kreiere mich in irgendeiner Art und Weise anders oder suche neue berufliche Möglichkeiten, und das in Welt zu bringen ist nicht einfach, das erfordert ein bewusstes Weitergehen."
"Die Versöhnung des individuellen Bewusstseins mit dem Weltwillen wird erreicht durch eine Erkenntnis der wahren Beziehung der vergehenden zeitlichen Erscheinungen zu dem unvergänglichen Leben, das in allem lebt und stirbt."
Schon lange in der Seele geschlummert
Die Heldenreise kommt an ihr Ende. Dass Fantasy viele Strukturen, Motive und Themen mit spirituellen Welten teilt, ist deutlich. Ist es vielleicht gerade das, was diese Art der Literatur so beliebt macht? Was ihre Verheißungen und Wirkungen so zeitgemäß erscheinen lässt, obwohl die Geschichten eigentlich alles tun, um so unzeitgemäß wie möglich zu erscheinen? Die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl:
"Möglicherweise macht sie auch genau das so attraktiv, weil es für Anhänger der verschiedensten Religionen zugänglich ist und sich jede dort gut wiederfinden kann. Im weitesten Sinne hat Fantasy sicher die Funktion auch – nicht unbedingt von Religion, aber sicherlich gewisse Bedürfnisse nach Transzendenz, nach Spiritualität zu befrieden oder auch zu wecken."
Hurst: "Im Kern sprechen sie den Menschen an sich an und bewegen eine Seite im Inneren, etwas in unserer Seele, was da schon sehr lange schlummert."
Fantasy ist keine Religion, aber sie stellt eine Sprache für Existentielles bereit, für das, was unmittelbar angeht, für die großen Themen im Leben. Der Literaturwissenschaftler Matthias Hurst:
"Insofern sind Fantasygeschichten ganz wichtig, weil sie uns das bringen, was vielleicht in früheren Zeiten durch Religion und auch gesellschaftlich kollektiv organisierte Rituale den Menschen zur Verfügung stand und was eben heute nicht mehr so wirksam ist."
Vor allen Dingen aber, sagt Matthias Hurst, ist Fantasyliteratur eine Feier der menschlichen Schöpferkraft. Auch wenn die nicht mehr notwendig, wie noch zu Tolkiens Zeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, direkt auf den dahinter wirksamen göttlichen Schöpfer bezogen werden muss.
"Und wer braucht dann noch Gott, wenn wir unsere eigenen Welten erschaffen können? Spielerisch."
"'Aber ich habe keine außergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräfte', entfuhr es Harry unwillkürlich.
'Doch, die hast du', sagte Dumbledore bestimmt. 'Du kannst lieben. Und das ist nach all dem, was Dir zugestoßen ist, großartig und bemerkenswert.'
'Wenn also die Prophezeiung behauptet, ich würde Macht besitzen, die der dunkle Lord nicht kennt, heißt das einfach – Liebe?'. fragte Harry, ein wenig enttäuscht.
'Ja, einfach Liebe', sagte Dumbledore."
Literaturliste:
Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten

Suhrkamp Taschenbuch 424, 1986, Übersetzung: Karl Koehne
Michael Ende: Die unendliche Geschichte
Verlag K. Thienemann 1979
Lizenzausgabe Bertelsmann Club GmbH
Wolfgang und Heike Hohlbein: Märchenmond
Verlag Carl Ueberreuther 1983, 2006
C.S. Lewis: Der König von Narnia
Neuübersetzung von "The Lion, The Witch and the Wardrobe" zum Filmstart
Verlag Cal Ueberreuther 2005, Übersetzung: Wolfgang Hohlbein und Christian Rendel
Philipp Pullmann: Das magische Messer
Carlsen Verlag Sonderausgabe 2007
Übersetzung: Wolfram Ströle
Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Orden des Phönix
Carlsen Verlag 2003, Übersetzung: Klaus Fritz
Joanne K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
Carlsen Verlag 2007, Übersetzung: Klaus Fritz
Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Halbblutprinz
Carlsen Verlag 2005, Übersetzung: Klaus Fritz
Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen
Carlsen Verlag 1998, Übersetzung: Klaus Fritz
John R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe - Dritter Teil: Die Rückkehr des Königs
Hobbit Presse Klett-Cotta, kartonierte Sonderausgabe 1986,
Gedichtübertragung E.-M. von Freymann: S. 7, 9 Zeilen (Teasercollage)
Übersetzung: Margaret Carroux:
John R. R. Tolkien: Der kleine Hobbit
dtv 1974, Übersetzung: Walter Scherf
(Eine Wiederholung vom 2. 8. 2015)
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