Benjamin Percy: Roter Mond
Aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl
Penhaligon Verlag, München 2014,
640 Seiten, 19,99 Euro.
Zwei für den Rest der Welt
In Percys Fantasy-Debüt kämpft eine Minderheit von Lykanern, die ohne Pillen zum Werwolf mutieren, mit Terroranschlägen gegen die Mehrheit. Patrick und die Lykanerin Claire müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.
In Fantasy-Romanen ist die Welt meist übersichtlich: Junge Helden, neuerdings auch starke junge Heldinnen kämpfen gegen das Böse und retten die Welt. Der US-amerikanische Autor Benjamin Percy verzichtet in seinem zweiten Roman und ersten Fantasy-Werk "Roter Mond" auf dieses Muster und wagt sich stattdessen auf erfrischend andere Weise an den altbekannten Werwolfmythos heran.
"Roter Mond" erzählt von einem Bürgerkrieg in den USA. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind mit einer Krankheit infiziert, die sie zu Werwölfen macht. Mit Zwangsmedikamentation werden diese Lykaner in Schach gehalten. Auf dem Arbeitsmarkt haben sie schlechte Chancen, rechte Politiker hetzen gegen sie. Untergrundkämpfer begehren dagegen auf und überziehen die USA mit Terroranschlägen. Der Teenager Patrick überlebt als einziger Passagier einen solchen Anschlag auf ein Flugzeug, seine Altersgenossin Claire, eine Lykanerin, muss untertauchen. Sie wird von der Geheimpolizei gejagt, weil ihre Eltern der für das Attentat verantwortlichen Organisation angehören sollen. Patrick und Claire, Percys keineswegs heroische, sondern geradezu gewöhnliche Jugendliche, wissen nichts voneinander. Aber bald kreuzen sich ihre Wege, und sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.
Fiktion mit realistischen Zügen
Für sein Fantasy-Amerika schreibt Benjamin Percy entscheidende Begebenheiten der jüngsten amerikanischen Geschichte kurzerhand um, Realität und Fiktion liegen bei ihm aber dennoch nicht weit auseinander: Der Terror der Lykaner erinnert an die Ereignisse vom und nach dem 11. September, die rechten Politiker könnten der Tea-Party-Bewegung angehören, und die Werwölfe wirken wie die schwarze Bevölkerung während der Rassentrennung.
Ebenso lassen sich in den Lykanern aber auch die unter Generalverdacht gestellten Muslime nach den Anschlägen des 11. September erkennen oder die wie Aussätzige behandelten Aidskranken der 80er-Jahre. Die Werwölfe sind für Benjamin Percy ein willkommenes Motiv, um konsequent zu Ende zu erzählen, wie staatliche Unterdrückung von Minderheiten enden kann: in der Katastrophe.
Keine klare Grenze zwischen Gut und Böse
Der Dozent für kreatives Schreiben beherrscht sein Handwerk, "Roter Mond" ist ein ungeheuer spannendes Fantasy-Debüt und fügt sich nahtlos ein in die Reihe hervorragender All-Age-Fantasy-Werke aus den USA. Kein Wunder, dass bereits eine TV-Serie für den Sender Fox in Planung ist. Anders aber als seine Kolleginnen Suzanne Collins ("Die Tribute von Panem") oder Veronica Roth ("Die Bestimmung") zieht Percy keine klare Linie zwischen den Guten und den Bösen.
Er versetzt sich in alle Akteure des Bürgerkrieges hinein und stellt sowohl linke als auch rechte politische Glaubenssätze fast schon provokativ in Frage. Seine Teenager-Helden handeln nicht immer instinktiv richtig. Sie machen Fehler, ihnen fehlt der Masterplan zur Rettung der Menschheit. Mühsam erkämpfen sie sich erst einen eigenen Weg, der ihnen als der richtige erscheint. Darin – das legt dieses beachtliche Coming-of-Age-Drama am Ende nahe – liegt die vielleicht einzige Lösung zur Überwindung von Hass und Krieg.