Farhad Khosrokhavar: "Radikalisierung"
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
Mit einem Vorwort von Claus Leggewie
CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2016
223 Seiten, 22 Euro
Kampf gegen die eigene ungeliebte Gesellschaft
Der französische Soziologe Farhad Khosrokhavar sucht nach den Beweggründen junger Menschen, sich radikalen Dschihadisten anzuschließen. Zugleich gibt er einen Überblick über die Geschichte radikaler Bewegungen und analysiert das Kampffeld des Internets.
So sachlich-knapp wie der Buchtitel "Radikalisierung" kommt der gesamte Text daher. Auf 220 Seiten beschreibt der 1948 in Teheran geborene französisch-iranische Soziologe Farhad Khosrokhavar, was junge Männer und Frauen dazu bringt, in den bewaffneten Kampf im Namen Allahs zu ziehen.
Mehrfach hebt Khosrokhavar hervor, dass es eine winzige Minderheit ist, die sich radikalisiert; mit Blick auf die Biografien junger Franzosen, die zu Terroristen wurden, unterscheidet Farhad Khosrokhavar zwischen zwei Gruppen: Die einen entstammen der Mittelschicht, sind "auf der Suche nach wahren Erlebnissen" und lassen sich vom "Reiz des Fremden" verlocken, in Syrien als "Gefährten der Glaubenskrieger Männlichkeit und Verlässlichkeit" zu beweisen.
Tiefsitzendes Gefühl des Ausgeschlossenseins
Die anderen kommen aus den Gettos trister Vorstädte. "Hausgemachte Terroristen": junge Erwachsene, psychisch labil, erleben sie ihre Gegenwart als einzigen Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit, ihnen gemeinsam ist das tiefsitzende Gefühl des Ausgeschlossenseins und ein grundlegender Hass auf die Gesellschaft.
Früh straffällig geworden, setzt die erste Radikalisierung schon im Gefängnis ein. Später kommt der Einfluss islamistischer Rekruteure hinzu, Prediger und Gurus, die Lektüre dschihadistischer Schriften im Internet.
Der radikale Islamismus verspricht die Umkehrung der Rollen: Wer bisher immer nur schuldig gesprochen und verurteilt wurde, wird künftig als "Glaubenskrieger" selber die Gesellschaft verurteilen können, wird töten und Angst verbreiten, im Bekenntnis zum Dschihadismus werden Hass und ohnmächtige Wut zu "heiligem Zorn".
Eine Initiationsreise in ein Land des Nahen oder Mittleren Ostens schafft zuletzt die nötige Distanz zum Geburtsland: Als "Fremde" kehren sie zurück, bereit zum Kampf gegen die eigene ungeliebte Gesellschaft, bereit auch zum Märtyrertod, der ihnen den Status des "absoluten Helden" verheißt und die Aufnahme in den Kreis der wahren muslimischen Gemeinschaft.
Geschichte der Radikalisierung
Diese Wege in die Radikalisierung rückt Farhad Khosrokhavar in größere, auch historische Zusammenhänge: Er erzählt die Geschichte der Radikalisierung von den Assassinen im 11. Jahrhundert über den anarchistischen Terror im 19. und frühen 20. Jahrhundert und dem linksextremen Terror der 1970er- und 1980er-Jahre bis zur schiitischen und sunnitischen Radikalisierung und dem Aufkommen der Terrornetzwerke Al Qaida und "Islamischer Staat".
Detailliert beschreibt Farhad Khosrokhavar die für den Dschihadismus wichtige Rolle der Medien als Instrument zur Verbreitung des Schreckens, analysiert das Kampffeld des Internets und die Rolle dschihadistischer Intellektueller. Weltweit vernetzt, rufen sie zum Kampf gegen jeden Laizismus auf. Da nach ihrer Auffassung "allein die Souveränität Allahs die treibende Kraft jeder legitimen Politik sein kann", ist für sie "jedes politische Denken, das vom Volk als Souverän ausgeht", unzulässig.
Farhad Khosrokhavar orientiert sich in seinem Buch an französischen Verhältnissen. Doch auch wer Frankreich nicht kennt, hat mit diesem Buch eine außerordentlich kenntnisreich geschriebene (und gut übersetzte) Darstellung von Radikalisierungsprozessen, die unabhängig von Ländergrenzen sehr ähnlich verlaufen.