Fast alles weg

Von Johannes Nichelmann |
Durch eine Kopfverletzung verliert der 18-jährige Max fast vollständig sein Gedächtnis. Nach dem Unfall muss er wie ein kleines Kind vieles neu erlernen und kennenlernen: seine Familie, seine Freunde und sich selbst.
Max, 19 Jahre, hat raspelkurze, schwarze Haare und trägt eine schwarze, eckige Brille. Er ist ein unauffälliger junger Mensch - lebt in der Nähe der bayerischen Stadt Aschaffenburg in einem Haus mit seiner Mutter und seiner Schwester.

"Und hier wohnen wir dann. Und hier stand ich dann auch das erste Mal, als wir gekommen sind, nach dem Krankenhaus und wusste nicht wohin. Ja und dann ging's dann auch hier gleich in mein Zimmer rein. Und hier wohne ich dann, seit den letzten zwo Jahren."

Eigentlich hat er hier fast seine ganze Kindheit verbracht. Vor einem Jahr aber, kurz nach seinem 18. Geburtstag, stürzt Max auf dem Marktplatz und fällt dabei auf den Kopf. Die Ärzte im Krankenhaus gehen damals von einer vorübergehenden Amnesie aus. Heute steht fest, dass Max' Erinnerungen vermutlich niemals ganz wiederkommen werden. Deshalb muss er wie ein kleines Kind vieles neu erlernen und kennenlernen. Wer sind seine Eltern? Wer seine Geschwister, Freunde, Bekannte? Wo liegen die Alpen, was macht ein Geschirrspüler und wie funktioniert das mit dem Plus und Minus.

"Saß hier an dem Schreibtisch, hab' viel gepaukt. Hab auch noch zwo, drei Sachen gehabt von früher ... Genau! Mathematik, 4. Klasse, Grundrechenarten - hab ich dann durchgerechnet."

Aus einer Schublade zieht Max ein Mathematikheft für Grundschüler heraus. Ein halbes Jahr lang saß er zu Hause und hat versucht alles neu zu lernen. Da er schon einen Schulabschluss hat, darf er nicht noch einmal in seine Schule gehen. Er schiebt das Heft zurück und geht wieder in den Flur, bleibt vor einigen gerahmten Fotos stehen.

"Wenn ich mich heut anschaue, sehe ich ja ganz ... Nicht ganz anders aus, aber anders. Und, ist ein kleiner Bub, den ich da auf den Bildern sehe. Ich. Keine Ahnung. Mir fehlt die Geschichte zu den Bildern. Jedes Bild ist ja nicht nur das Bild, sondern auch irgendwie 'ne Geschichte dahinter. Da oben der brave, kleine Kindergartenjunge, würde ich jetzt mal raten. Oder Grundschule."

Dieses unbekannte Ich hat mich wahnsinnig gemacht, sagt Max. Und gibt zu, dass es im vergangen Jahr Phasen gab, wo er nicht mehr konnte, aufgeben wollte.

Ein Jahr später. Die Familie ist umgezogen. Max ist inzwischen 20 Jahre alt und macht eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Mit seiner Mutter und seiner Schwester steht er im Garten. Er trägt zwei große Plastikschüsseln unter dem Arm.

"Hier sind die Mirabellen. Und es könnte sein Max, dass du dir dann noch eine Leiter holen musst aus dem Keller, und dann könnt Ihr hier die Äste runterziehen."
"Ich halte, Du machst!"
"Okay."
"Alles klar."
"Da sind ganz viele Dinger dran. Wespen oder wie die heißen."
"Ja, die pflück` ich auch nicht!"

Auch die Familie von Max hatte in den vergangenen zwei Jahren schwer mit seinem Schicksal zu kämpfen. Sie musste Max neu kennenlernen und er sie. Vor dem Unfall, bei dem Max sein Gedächtnis verloren hat, waren seine jüngere Schwester und er so etwas wie beste Freunde. Seit dem Unfall ist das anders.

"Also, es war früher ganz anders als heute. Keine Ahnung. Nicht mehr so wie früher. Also jetzt ist er noch ein Freund, aber nicht mehr bester Freund. Manchmal hat er noch so Anflüge oder so, wo wir sagen, ja, das könnte mal schon wieder so sein wie früher. Aber so durchgehend wie früher ist es nicht mehr."

Durch das offene Küchenfenster beobachtet Max' Mutter ihre beiden Kinder. Früher, erzählt sie, war ihr Sohn äußerst diszipliniert, wollte Marathonläufer werden. Heute geht er viel aus, lebt sehr viel intensiver. Manchmal erkennt seine Mutter ihn kaum wieder.

"Ich weiß ja, dass ich ihn liebe. Ich weiß, dass es mein Kind ist. Ich weiß, was ich mit ihm erlebt hab. Ich weiß, ich kann's nicht zurückholen. Ich weiß, ihm bedeutet das nichts. Und er muss sich seine Erlebnisse mit mir und seine Erinnerungen mit mir jetzt wieder neu schaffen. Also ich bin jetzt diejenige, die ihm die Wäsche macht, die das Essen hinstellt, die ihm auf die Füße tritt, die ihm abends eine SMS schickt, ob ich mir Sorgen machen muss. Das mache ich mir nämlich. Und ich bin diejenige, die vielleicht irgendwann mal die Oma ist. Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie das Leben weiter geht."

Am späten Abend. Max hat sich in einer Bar mit seinem Kumpel Eugen verabredet.

"Holst du zwo Gin Tonic?"
"Was willst du, Bombay oder ..."
"Ich nehm' denselben wie du. Ich probier' den auch."
"Also gleiche Mix, weil ich bestelle da vorne ..."

Fast jeden Abend will der 20-Jährige unterwegs sein, neue Dinge erleben. Als wolle er etwas aufholen. Scheinbar ohne Vorurteile geht er dabei auf Menschen zu, kommt mit ihnen ins Gespräch. So hat er auch Eugen kennengelernt. Er ist fast doppelt so alt wie Max. Von Älteren, sagt Max, lerne ich doch am meisten. Gleichaltrige sind ihm manchmal zu oberflächlich.

"Ich bin froh um jede neue Erfahrung, um jedes neue Erlebnis und auch jede neue Möglichkeit und auch neue Sache, die ich kennenlerne. Einfach mal erleben, wie sich das anfühlt."

... sagt Max und weiß, dass er trotz seiner 20 Jahre, vieles zum ersten Mal erleben wird.


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