Der Reiz des Verzichts

Was Fasten so attraktiv macht

Ein leerer weißer Teller steht auf einem Holztisch.
Die Motivation für freiwilligen Verzicht kann medizinischer, psychischer oder spiritueller Art sein. © picture alliance / Zoonar / Oksana Bratanova
Ob Intervallfasten, Digital Detox oder Dry January: Fasten ist seit einigen Jahren Dauerbrenner unter den Lifestyle-Trends. Für viele ist eine kurze oder lange Phase des bewussten Verzichts zum festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Aber warum?
Heilfasten, Lügenfasten, Autofasten, Sprechfasten: Der Verzicht auf bestimmte Konsum- oder Verhaltensweisen ist genauso populär wie der traditionelle Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel. Was einst Religion und Brauchtum vorbehalten war, ist Teil des Alltags im 21. Jahrhundert.
Doch warum feiert das Fasten, das noch im vergangenen Jahrhundert sogar in Teilen der Kirche als verstaubt galt, seit Jahren eine so erfolgreiche Wiedergeburt?

Die religiösen Wurzeln des Fastens

Die ältesten Formen des Fastens sind jahrtausendealt und religiösen Ursprungs. Im Judentum gibt es mehrere einzelne Fastentage, vor allem den Versöhnungstag Jom Kippur. Einen Tag und eine Nacht lang verzichten Juden der seelischen Reinigung Willen auf Essen und Trinken, Geschlechtsverkehr, aufs Autofahren und weitere Dinge, die den heiligen Tag stören könnten.
Im islamischen Mondkalender ist der neunte Monat der heilige Fastenmonat Ramadan, da der Koran nach islamischer Auffassung in dieser Zeit herabgesandt wurde. Viele Gläubige Muslime verzichten einen Monat lang täglich von Morgendämmerung bis Sonnenuntergang auf Essen, Trinken, Rauchen und Sex. Am Ende des Ramadans steht das dreitägige Fest des Fastenbrechens, auch Zuckerfest genannt.
Christen kennen vor allem die Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern, ebenso den Advent zur Vorbereitung auf Weihnachten. In den orthodoxen Kirchen gibt es zudem die Apostelfastenzeit nach Pfingsten sowie die Marienfastenzeit im August. Durch das Fasten soll die Beziehung zu Gott gestärkt werden. In der evangelischen Kirche wurde das Fasten nach der Reformation immer unpopulärer und lebte erst durch die Konsumkritik der 68er-Generation wieder auf.
In Buddhismus und Hinduismus gibt es kein festgeschriebenes Fasten, doch verschiedene Formen des Verzichts gehören auch hier zu den spirituellen und religiösen Übungen.

Fasten 2025: unzählige Arten des Verzichts

Spätestens seit der Entkopplung des Fastens von seinen religiösen Ursprüngen hat die Zahl der verschiedenen Arten des freiwilligen Verzichts sprunghaft zugenommen. Heute gibt es jede nur erdenkliche Art des Fastens, vom Verzicht auf soziale Medien über den Besuch eines Schweigeklosters, von der Autopause bis hin zum Vermeiden jeglicher Art von Lügen: Alles ist denkbar und – ganz dem Zeitgeist entsprechend – höchst individuell.
Besonders populär sind das Intervallfasten, bei dem eine bestimmte Anzahl an Stunden pro Tag nichts gegessen wird, Digital Detox, also die Auszeit vom Smartphone, oder der sogenannte Dry January, vier Wochen alkoholfreie Zeit nach den Feiertags- und Silvester-Exzessen. Viele Menschen schwören mindestens einmal im Jahr auf das Heilfasten, bei dem sie zwischen drei Tagen bis hin zu vier Wochen freiwillig keine feste Nahrung zu sich nehmen. Diese medizinische Art des Fastens hat bereits eine lange Tradition in Europa und war mal mehr, mal weniger in Mode.

Warum Verzicht so beliebt ist

Obwohl wir in einer zunehmend säkularen Welt leben, erhält das Fasten, und damit selbst auferlegter Verzicht, immer mehr Zuspruch: So halten 72 Prozent der Befragten im Rahmen einer Forsa-Umfrage das Fasten zwischen Aschermittwoch und Ostern aus gesundheitlichen Gründen für sinnvoll. Das ist der höchste Wert seit 13 Jahren. Was erst einmal seltsam klingt, macht durchaus Sinn: In einer Zeit, in der so gut wie alles jederzeit verfügbar ist, bedeutet freiwilliger Verzicht eine Abwechslung vom Alltag.
Dazu kommt, dass das Konzept des Verzichtens eine Aufwertung erfahren hat. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten hatte Verzicht einen schlechten Ruf als etwas, das einem „passiert“. Man „musste“ auf etwas verzichten. Beim Fasten jedoch wird Verzicht umgedeutet, er wird zum Wunsch, zum Ziel. Der Mensch verzichtet, weil er dazu fähig ist. Einem Trieb nicht nachzugeben, ist eine bewusste und souveräne Entscheidung. Der Philosoph Otfried Höffe bezeichnet Verzicht gar als „hohe Kunst“, für ihn ist er eine grundlegende Fähigkeit des Menschen.

Die Wirkung des Fastens

So wie Askese wortwörtlich Üben bedeutet, ist Verzicht eine Übung in Sachen Maßhalten. Anstatt spontanen, augenblicklichen Leidenschaften nachzugeben, kommt Ordnung in eine Fülle von Trieben und Wünschen. Der oder die Fastende besinnt sich auf das, was wirklich nötig ist, wird dadurch im besten Falls besonnener und vielleicht sogar nachhaltig zufrieden. Die Übung des Verzichts kann auch dazu führen, dass man zukünftig bei bestimmten Impulsen oder Verhaltensweisen bewusster Maß hält, und sei es nur eine Zeitlang.
Wer fastet, handelt konsequent. Als Belohnung dafür, sich ein Ziel gesetzt und konsequent auf etwas verzichtet zu haben, erhält man nach gelungener Fastenzeit ein tiefes Gefühl von Befriedigung. Die Zeit, in der das Smartphone nicht genutzt oder das Auto nicht bewegt wurde, wurde anders genutzt als sonst: Dadurch hat sich die Perspektive geändert, neue Sichtweisen auf den eigenen Alltag öffnen sich. Die Routine wird „durchgelüftet“, Inspiration und neue Ideen halten Einzug. Gleichzeitig steigt die Souveränität, denn der oder die Fastende hat schließlich etwas gemeistert.
Die positiven Aspekte des Loslassens hat der spätmittelalterliche Mystiker Meister Eckhart so beschrieben:„Darum fange bei dir selbst an und lass dich sein. […] Je mehr die Menschen nach außen gehen, umso weniger finden sie Frieden. Sie gehen wie jemand, der den Weg nicht findet; je weiter er geht, umso mehr verirrt er sich. Was soll er also tun? Er soll erst einmal sich selbst lassen, dann hat er alles gelassen.“ Nicht nur in Fastenzeiten, sondern jeden Tag Phasen des Innehaltens einzubauen, kann heilsame Momente schaffen. Verzicht auf Zerstreuung bringt Seelenfrieden und Ruhe im Zeitalter von Dauerkommunikation und Hektik.
Angesichts des Klimawandels und der Ausbeutung der Erde hat für viele der Verzicht auch eine bewahrende Komponente. Würden mehr Menschen zeitweise oder dauerhaft auf das Auto, auf Flüge, Fleisch oder Online-Shopping verzichten, ließe sich der Raubbau an der Natur zumindest etwas eindämmen. So kann Fasten auch ein Zeichen der Solidarität mit der Natur und mit den Mitmenschen bedeuten.

pj
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