Geheimnisvolles Bindeglied zwischen Knochen und Muskeln
Ungefähr 20 Kilogramm Faszien schleppt jeder Mensch mit sich herum: Ein faseriges Bindegewebe, das jeden Knochen und jedes Organ umhüllt. Lange Zeit war dies kein Thema in der Schulmedizin. Doch neue Forschungsergebnisse kündigen eine Revolution an und verheißen gute Nachrichten - vor allem für Schmerzpatienten.
Gerhardt: "Der hat mich halt laufen lassen. Er hat mich studiert und ich bin so gegangen."
Zorn: "Was ich jetzt sehe, da bewegt sich gar nichts. Die Schulter ist wie aus Gips."
Alban Gerhardt zeigt beim Gehen auf seine steife Schulter. Seit einem Motorradunfall schmerzte ihn die linke Schulter ständig, und der Schmerz strahlte bis in den Arm. Der Unfall selbst liegt Jahre zurück. Kein Mediziner konnte ihm helfen. Bis er Adjo Zorn traf.
"Wenn jemand zu mir kommt, und ein Unfall ist jahrelang nicht wirklich ausgeheilt, dann kucke ich auch danach: Ist da nicht eine schlechte Körperstruktur als Voraussetzung und der Unfall war nur das, was das System über die Kante geschubst hat? Wie geht er? Wie steht er? Wie sitzt er, wenn er übt? Wo gibt es Bewegungsmangel? Wo gibt es eine Steifigkeit?"
Adjo Zorn ist Spezialist für Rolfing – eine manuelle Körpertherapie, bei der es um die Mobilisierung der Faszien geht.
"Erstmal bin ich reingegangen mit meinem Ellenbogen, habe ihm richtig wehgetan. Das ist schon so eine latente Entzündung im Muskel. Durch diese dauernde Überlastung. Allein, weil ich jetzt mich mit mechanischem Druck rein gebe und das Wasser in den Faszien-Taschen so ein kleines bisschen hin- und her drücke wie in so einem Wasserbett, dadurch tue ich was gegen die Entzündung. Und wir haben dann wirklich geübt, dass man die Schultern beim Gehen auch wirklich mit bewegen kann, so ein bisschen wie die Arme."
Mit Erfolg. Die Schulterschmerzen sind dank der Faszienbehandlung weg.
Faszien nennt man das weißliche faserige Bindegewebe, das Knochen, Muskeln und die inneren Organe des Körpers wie ein dreidimensionales Gitternetz umhüllt. 18 bis 23 Kilogramm trägt jeder Mensch davon mit sich herum. Schulmedizinisch galten Faszien lange als uninteressant.
"Wir haben das die ganze Zeit weg präpariert! Ja, und das ist so ein spannendes Material."
Robert Schleip gilt als deutscher Pionier der Faszien-Forschung. Seit 2003 leitet er eine Arbeitsgruppe, die die wissenschaftlichen Grundlagen zu diesem speziellen Gewebe erarbeitet. Der Humanbiologe war es auch, der 2007 den ersten Kongress zu Faszien an der "Harvard Medical School" in Boston mitinitiierte. Seither definieren Forscher Faszien als das kollagene, faserige Bindegewebe, das den gesamten Körper durchzieht. Die Faszien selbst bestehen aus Wasser, Eiweiß, Zucker und Bindegewebszellen. Sie umhüllen Muskeln, Sehnen und Knochen genauso wie Organe, Gefäße und Nerven sowie das Gehirn und das Rückenmark.
Sinnesorgan im Körperinneren
Zorn: "Es ist ein elastisches Material, was sehr große Spannung aufnimmt, was uns mitteilt, was wir brauchen, damit wir uns gut bewegen können."
Für die Wissenschaftler steht heute definitiv fest: Faszien halten den Körper in jeder Position und in Spannkraft. Sie bilden die Brücke zwischen den starren Knochen und den flexiblen Muskeln. Und sie verleihen auch dem Bewegungsapparat die nötige Spannung, da sie Muskelkräfte als Sehnen und Bänder auf die Gelenke übertragen. Nur mit Hilfe der Faszien bewegen sich Mensch und Tier kraftvoll und elastisch. Bislang galten Muskeln als alleinige Energiequelle für Bewegung, doch jetzt wird klar: Ein Teil dieser Kraft entstammt der Fähigkeit der Faszien, Energie zu speichern und "katapultartig" - ähnlich einer Sprungfeder - frei zu setzen.
Schleip: "Faszien können sich aktiv bewegen, langsamer als Skelettmuskeln, aber sie können sich zusammenziehen und auch wieder entspannen. Und nicht nur das - das ist ja eine neue Einsicht – sie haben auch Wahrnehmungssensoren."
In Heidelberg stießen Biomediziner auf Nervenzellen in den Faszien, das heißt sie wirken wie ein Sinnesorgan im Körperinneren.
"Dass ich weiß, wo befindet sich mein Kopf im Raum? Habe ich jetzt einen Rundrücken oder ein Hohlkreuz? Also die Wahrnehmung des eigenen Körpers in Lage und Bewegung, Propriozeption, das kommt hauptsächlich von den Faszien!"
Faszien können noch mehr, erklärt Robert Scheip: Das Bindegewebe speichert ein Viertel des Körperwassers, es versorgt Zellen und Organe mit Nahrung und enthält selbst Abwehrzellen und Lymphzellen. Zudem erneuert es sich laufend selbst. Nach einem Jahr ist etwa die Hälfte der Kollagen-Fasern ausgetauscht.
Mit zunehmendem Alter nimmt allerdings der Wasseranteil im Bindegewebe ab und die Fasern verfilzen. Dieser Effekt, so weiß man heute, kann auch durch einseitige oder auch mangelnde Bewegung oder eine Fehlbelastung des Bewegungsapparates entstehen.
Die Faszien, so die Erkenntnis, sind dann unter- oder überfordert. Die Kollagen-Fasern im Bindegewebe wuchern aus. Sie bilden dann eine Art großes Durcheinander, das unter dem Mikroskop an ein verknotetes Wollknäuel erinnert. Die Faszien verkleben miteinander, verhärten und verlieren an Elastizität. Darauf reagieren die Nervenzellen: Sie melden Schmerzen. Eine elastische Gewebehülle mit guter Spannkraft kann andererseits wiederum wie ein Stoßdämpfer Entzündungen verhindern.
Jäger: "Jetzt lass ich mal die hüpfen, die sehr elastisch ist und dazu im Vergleich eine, die eher einen Stoßdämpfereffekt hat, die hört sich so an."
Faszien können mehr und weniger elastisch sein
Eine Gummikugel hilft der Neurophysiologin Dr. Heike Jäger, die Beweglichkeit von Faszien zu demonstrieren.
"Um zu sehen, wie ich diesen Effekt durch Sport, durch Ernährung, durch Behandlung wieder in den (Hüpfer) ändern kann. Beziehungsweise inwieweit ich an anderen Stellen im Körper diesen Effekt der Stoßdämpfung auch brauche, um keine Reibung zu erzeugen. Weil zu große Reibung im Körper bedeutet: Entzündung."
Das Gewebe innerhalb der Faszien unterscheidet sich – mal ist es weniger, mal mehr elastisch. Und das soll es auch sein. Wissenschaftler wie Heike Jäger suchen jetzt nach Normwerten für die jeweilige Elastizität der verschiedenen Faszien.
"Dazu haben wir kleine Handgeräte im Moment in der Testung, die aus der russischen Raumfahrtforschung kommen."
Die sogenannten Myometrie-Geräte erinnern an ein größeres Mobiltelefon. Ein Startup-Unternehmen in Tallinn hat sie gefertigt, in kleiner Auflage. Weltweit gibt es gerade mal vierzig Stück. Eins davon drückt sich die Neurophysiologin jetzt direkt an ihren Unterarm.
"Wenn ich einen Anpressdruck von 0,1 Newton aufs Gewebe habe, löst das Gerät weitere Impulse aus. Infolge dieser Kraft auf das Gewebe schwingt das Gewebe in den ersten 400 Millisekunden in einer bestimmten gedämpften Schwingung aus."
Ein schnelles Schwingen bedeute, die Faszien sind nicht sehr elastisch.
"Damit kann ich feststellen, ob Sie rechts oder links oben an der Schulter Verspannungen haben und möglicherweise Ihre Kopfschmerzen daher kommen. Und das ist präzise genug, um das, was die sehr guten Therapeuten tasten können, in Zahlenwerte umzusetzen."
Mit solchen Zahlenwerten wollen die Forscher die Qualität des Gewebes bestimmen. Faszien am Oberschenkelmuskel etwa liefern ganz andere Daten als ein Wadenmuskel. Außerdem ist es ein Unterschied, ob man den Wadenmuskel eines Mittelstreckenläufers oder eines 100-Meter-Sprinters misst. Beim 100-Meter-Lauf etwa braucht ein Sportler gerade zum Start eine enorme Elastizität und Schnellkraft. Seine Faszien sehen anders aus.
Es geht darum, genau zu sortieren: Inwieweit spiegeln die Daten das Bewegungsverhalten? Wer bewegt sich wie? Und wie elastisch sind die Faszien? Eine Studie mit über 300 Probanden soll dies aufzeigen: Von den Teilnehmer treiben einige Sport, andere nicht, es gibt welche, die haben Rückenschmerzen, und dann welche, die keine haben. Ganz normaler Durchschnitt eben. Vermessen werden ihre Schulter- und Halsmuskulatur, ihre Lumbalfaszie am Rücken, die Achillessehne und die Plantarfaszie in der Fußsohle.
Jäger: "Die Lumbalfaszie wegen des Rückenschmerzes, die Schultermuskulatur wegen der häufig auftretenden Spannungskopfschmerzen, die Achillessehne im Sport bei zu hoher Belastung."
Auch moderne bildgebende Verfahren können inzwischen die Beschaffenheit der Faszien abbilden. Forscher der Ulmer Uniklinik kooperieren mit Heike Jäger und beteiligen sich an der aktuellen Studie. Mit einem speziellen Ultraschallgerät geben sie so genannte Scherwellen ins Gewebe ab und können so auch die Faszienhülle von inneren Organen genauer untersuchen. Mithilfe dieser Ultraschall-Elastographie werten die Wissenschaftler gerade die Messdaten der Schilddrüse, der Bauchspeicheldrüse, Leber, Nieren und Milz ihrer Probanden aus.
Die Mikroverklebungen im Gewebe lösen
Außerdem kann mit Hilfe der Elastographie auch erstmals belegt werden, ob sich Faszien durch eine manuelle Behandlung tatsächlich verändern. Durch Vorher-Nachher-Aufnahmen. Heike Jäger zeigt zwei Ultraschallbilder von einer unteren Armhälfte.
"Das ist eine durch Tasten identifizierte, schmerzhafte verklebte Faszie: Und da sieht man, dass das ein relativ weißes Gewebe ist, komprimiert, das heißt verklebt, wasserfrei. Wenn man so eine Struktur zum Beispiel für zehn Minuten behandelt, mit Massage oder Wärme, dann bekommt man – das sieht man hier – eine Veränderung, dass dieses verklebte Faszienband eine andere Struktur aufnimmt. Bei solchen Unterschieden ist es dann eben sehr interessant, die Elastographiemessung auf solche Punkte zu setzen, und da sieht man dann, wie die Steifigkeit der Bereiche schön abnimmt."
Fink: "Heißt immer, was rastet, das rostet. Aber hier rostet nichts, sondern es verklebt."
Professor Matthias Fink lehrt an der Medizinischen Hochschule Hannover Naturheilverfahren und Komplementärmedizin. Er leitet eine Privatambulanz für Naturheilverfahren und behandelt seine Patientinnen und Patienten nach dem Faszien-Distorsions-Modell.
"Was wir gut annehmen können ist, dass es im Bindegewebe so genannte Mikroverklebungen gibt. Und das, was wir mit dieser Behandlung nach Typaldos machen, scheint nach bisherigen Einschätzungen so zu sein, dass wir bei einigen diese Mikroverklebungen lösen, um auf diese Art und Weise zum einen Schmerz zu dämpfen und zum anderen auch die Beweglichkeit wieder zu verbessern, sofern die Beweglichkeit eingeschränkt ist."
Der amerikanische Physiotherapeut Stephen Typaldos entwickelte das Faszien-Distorsions-Modell vor gut 20 Jahren. Typaldos ging davon aus, dass Schmerzen im Bereich von Muskeln, Sehnen und Gelenken mit Faszien-Distorsionen, also mit Verdrehungen im Bindegewebe, zusammenhängen. Und genau die gilt es aufzulösen.
Lars Adamiz, ein Bäckergeselle, 38 Jahre alt, kam nach einer längeren Ärzte-Odyssee mit Nackenproblemen, einem Hexenschuss und einem Tennisarm zu Matthias Fink in die Ambulanz.
Adamiz: "Da gibt es dann bestimmte Positionen, wo er gegendrückt. Das ist ein kurzer Schmerz, aber auch eine Entlastung. Es ist eigentlich ein ziemlich angenehmes Gefühl."
Ein gezieltes Drücken, ein entlastender Schmerz – und große Erleichterung.
Lars Adamiz ist schon nach der ersten Behandlung mit weniger Beschwerden nach Hause gegangen. Vor acht Jahren hat Matthias Fink die Wirkung des Faszien-Distorsions-Modells nach Typaldos auch wissenschaftlich erforscht. Im Fokus standen 60 Patienten, die eine "frozen shoulder" hatten – wie Fachleute das nennen.
Fink: "Eine schmerzhaft eingeschränkte Schulterbeweglichkeit. Und das ist etwas, was Patienten oft mehrere Jahre begleitet und wo die konventionelle Schulmedizin nicht so recht Rat weiß. Das muss man einfach zugeben. Und auch mit den klassischen Behandlungsverfahren in meinem Fachbereich physikalische und rehabilitative Medizin lässt sich das auch nicht wirklich souverän in Griff bekommen."
Die Faszien-Therapie zeigt schnell Wirkung
In der Studie wurden 30 Personen wurden nach Typaldos behandelt, 30 mit einer konventionellen manuellen Therapie.
"Das Hauptzielkriterium war das eingeschränkte Abspreizen vom Arm, also wenn Sie den Arm nicht über die Horizontale heben können. Und nach der vierten Behandlung war es halt so, dass in dieser Typaldosgruppe alle mehr oder weniger uneingeschränkt wieder den Arm bewegen konnten."
Dieses Ziel war in zwei Wochen erreicht, nach vier Terminen von je 30 Minuten.
Aber auch die klassische manuelle Therapie zeigte Wirkung.
"Nur es hätte dort wesentlich länger gebraucht, um das gleiche Ziel zu erreichen. Die Typaldos-Methode hat eben wesentlich, wesentlich besser abgeschnitten hier."
Dieser ersten Studie folgen nun zwei weitere, diesmal zur Behandlung akuter Rückenschmerzen. Untersuchungen an männlichen Rückenschmerzpatienten zeigten Verdickungen an der Lumbalfaszie, das ist eine große Faszie im unteren Rücken, die den Rücken diagonal umspannt. Falsche, einseitige Belastungen oder auch Stress können diese Verklebungen erzeugen wie auch kleine Risse in den Faszien selbst, was dann wiederum zu Entzündungen führt. Die Ausschüttung der biochemischen Botenstoffe gerät durcheinander, die Faszien senden falsche Signale an die Muskeln. Muskelverhärtungen sind die Folge und am Ende womöglich ein chronischer Schmerz.
Weil alle Nervenzellen von dem Gewebenetzwerk umhüllt sind, werden sie eingeengt, sobald die Faszien verhärten, erklärt der Nervenspezialist Dr. Werner Klingler. Auch er ist ein Mitglied der Ulmer Forschergruppe.
"Das äußert sich dann in Schmerzen, in Sensibilitätsstörung, Taubheitsgefühl, Kribbeln und letzten Endes auch in einem Funktionsverlust der Muskulatur. Durch die Studien, die man an Leichenpräparaten durchgeführt hat, hat man festgestellt, dass überall eigentlich im Körper, wo es zu solchen Nervenkompressionen kommt, eine fasziale Verdickung eben vorzufinden ist, und diese fasziale Verdickung, die kann man chirurgisch lösen. Man kann einerseits stumpf präparieren, das heißt einfach die Verklebung weg schieben, um somit den Nerv wieder frei zu machen, damit der Nerv wieder durchblutet ist. Und wenn das zu straff ist, dann kann man diese Verdickung auch durchtrennen mit einer kleinen Schere."
Die Hoffnung: die Faszien sollen sich regenerieren. Am Ellenbogen etwa die Osbornfaszie. Allerdings hatten einige Patienten auch nach einer solchen Operation noch heftige Beschwerden. Neue Studien zeigen nun, dass die schmerzhaften Faszienverengungen auch an anderen Stellen im Verlauf des Nervs vorkommen können.
"Und viel häufiger und viel straffer, als man bisher vermutet hat! Man kennt nur die anatomische Engstelle und dachte, das wäre dann gelöst, wenn man das behandelt. Aber diese neueren Daten zeigen eben, dass diese Engstellen viel weiter am Nerv vorkommen. So dass man eine neue Operationsmethode entwickelt hat und die auch anwendet, bei der man den Schnitt nicht größer macht, aber endoskopisch sozusagen den Nerv verfolgt bis circa 15, 20 Zentimeter in die Tiefe, und kann da schauen, ob es Verklebungen gibt, Verdickungen, und kann die noch zusätzlich lösen."
Operationen sollen vermieden werden können
Robert Schleip wollte außerdem versuchen, diese tiefer gehenden Verspannungen im Gewebe des Ellenbogens mit Hilfe manueller Therapie zu lösen. Er durfte am Operationstisch behandeln. Zunächst tat sich nichts.
"Egal, was ich draußen gedrückt, gezerrt habe, das ist nicht an die Stelle rangekommen."
Erst als Robert Schleip das Septum ertastete, das ist eine leichte Einkerbung zwischen den Beugern und Streckern an der Außenseite des Oberarms, änderte sich das.
"Wo ich da so eine seitliche Scherbewegung gemacht habe, hat man gesehen: Mensch, das löst sich! Also das war jetzt so mein Lerneffekt. Ich hab fast jede Woche Leute, bei denen der ganze Arm kontrahiert ist. Die durch zu viel Klavierspielen, durch zu viel Sekretärinnenarbeit den Arm kaum noch bewegen können. Früher haben wir dort gearbeitet, wo es am härtesten ist, also an der Muskelbauchmitte von den ganzen Unterarmmuskeln. Jetzt taste ich diese Septen wieder, und versuche dort, ohne Operation, diese Crosslings, zu lösen und habe viel schnellere Resultate."
Das Ziel der Wissenschaftler ist, Operationen am Bewegungsapparat möglichst zu vermeiden, indem man die Faszien manuell "vortherapiert" oder auch mit Hilfe von Medikamenten Verdickungen löst. Die Grundlagenforschung arbeitet darauf hin. Und die verschiedenen Fachbereiche kooperieren. Physiologen in Amsterdam behoben spastisch bedingte Wadenverkürzungen, ohne zu operieren, allein durch manuelle Therapie. Ein Physiologieforscher aus Harvard bestätigte einer kanadischen Massagetherapeutin, dass Verklebungen im Unterbauch etwa nach Operationen manuell gelöst werden können.
Der Ulmer Faszienforscher Werner Klingler ist Spezialist für neuromuskuläre Krankheiten. Er sucht nach positiven Effekten auf das Gewebe: Wie wirkt eine körperliche Bewegung, zum Beispiel eine Dehnung auf die Faszien? Im Labor hat er in ein eigens gefertigtes Glasgefäß, das an ein kleines Aquarium erinnert, ein etwa drei Zentimeter langes Gewebestück eingespannt. Das Glasgefäß selbst enthält eine Elektrolytlösung, die das Gewebe umspült. So werden die körperlichen Bedingungen für die Faszien nachgestellt.
"Hier wird dann das Fasziengewebe an so einen Kraft-Aufnehmer angeschlossen. Und hier haben Sie die Möglichkeit, die Temperatur zu kontrollieren. Der CO2-Wert wird kontrolliert, der Sauerstoffgehalt wird kontrolliert, die Glukose wird kontrolliert, die Elektrolyte werden kontrolliert. Man kann alle Variablen verändern. Und man kann dann simulieren, was sich tut mit den Faszien. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass die Faszien ein so genanntes "Strain Hardening" haben, das heißt wenn man sie dehnt, dann wird erstmal der Wassergehalt reduziert und im Nachhinein, nach der Dehnung, saugen sie sich wieder voll mit Wasser und haben dann einen höheren Wassergehalt als vorher."
Faszien modulieren die Bewegungen
Aus dem Wassergehalt lässt sich schließen, wie geschmeidig die Faszien sind: Ein Neugeborenes etwa hat 80 Prozent Wasser im Körper, das überwiegend im Bindegewebe gebunden wird. Neugeborene haben daher eine sehr gute körperliche Elastizität. Ein alter Mensch hingegen kommt nur auf etwa 50 Prozent Wassergehalt. Das Fazit der Forscher: Gedehnte, stark wasserhaltige Faszien gewährleisten eine gute Beweglichkeit.
"Die Faszien modulieren die Bewegungen, und das ist für mich eigentlich das Interessanteste, das Zusammenspiel der Faszien mit der Muskulatur. Und die Faszien sind eben mehr als nur passive Kraftüberträger, die Faszien sind eher intelligente Komponenten unseres Bewegungsapparates und funktionieren so ein bisschen wie ein Servo-Mechanismus beim Auto: Wenn man die Lenkung zum Beispiel einschlägt, nur ein bisschen, dann bewegt sich das Vorderrad, und ist abhängig von der Geschwindigkeit, abhängig vom Bedürfnis."
Faszien können also Muskeln entlasten. Durch ihren Katapult-Mechanismus arbeiten sie wie eine Sprungfeder: Sie spannen sich, speichern Energie und setzen diese wieder frei. So entsteht eine Kraft, die um ein Vielfaches größer ist als unsere Muskelkraft. Wie bei einem Känguru, das weiter springen kann, als es seine Muskeln eigentlich zulassen. Dadurch wird viel Muskelarbeit und in der Folge Energie gespart. Elastische Faszien wirken außerdem zurück auf die Muskulatur, eine Faszien-Massage kann dort Verhärtungen lösen oder Überlastungen ausgleichen.
Im Profisport ist dieses Wissen über das enge Zusammenspiel von Faszien und Muskeln schon heute weit verbreitet. Die deutsche Fußballnationalmannschaft profitiert davon, deren Chef-Physiotherapeut setzt seit Jahren auf die gezielte Behandlung des Bindegewebes. Auch Christian Blisse spricht von "Muskelpflege durch Faszientraining". Der Berliner Trainingsberater begleitet Leistungssportler und ist davon überzeugt, dass Sportler mit einem individuell bestimmten Faszientraining ihre Muskelregeneration optimieren und so Verletzungen vermeiden. Wie, das macht er vor: Er setzt sich auf eine Hartschaumrolle, streckt beide Beine aus und rollt sitzend vor und zurück.
"Ich rolle jetzt gerade, so wie Sie sehen können, den hinteren Oberschenkel, das mache ich sehr, sehr langsam. Wenn ich eine verhärtete Stelle gefunden hab, dann bleib ich da drauf. Dann rolle ich ein bisschen hin und her, ich winkele vielleicht den Fuß etwas vor und zurück oder ich gehe ein bisschen quer. Es sollen mir nicht die Tränen in die Augen schießen, sondern es ist ein Wohlschmerz, den ich auch bei einem Physiotherapeuten ertragen würde."
Enders: "Als ich das erste Mal von dem Faszientraining gehört hab, war doch so eine Art Skepsis. Aber im Nachhinein muss ich sagen, bin ich ein sehr großer Freund davon. Weil man dieses Faszientraining an sich selber sehr gut steuern kann."
Trainierte Faszien senken das Verletzungsrisiko
René Enders, 26 Jahre alt, aktiver Bahnradfahrer. Er ist zweifacher Weltmeister und zweifacher Olympiamedaillengewinner im Teamsprint. Christian Blisse hat den Profi beraten und seitdem trainiert der Radfahrer regelmäßig seine Faszien.
"Wir sind ja nicht nur Bahnradsportler, sondern auch Kraftsportler. Wir bewegen sehr, sehr viel Gewichte, somit kommt es immer zu einer Verhärtung der Muskulatur und auch in dem Bindegewebe herum. Und oftmals ist es notwendig, diese Muskulatur relativ schnell auch wieder zu entspannen, um auch wieder die Regeneration zu fördern."
Der Radrennprofi belastet seine Muskeln stark, möchte Verletzungen vermeiden und seine Leistung steigern. Und es scheint, dass trainierte, elastische Faszien und ausgleichende Bewegungen dabei helfen.
Blisse: "Man muss es als Kapital- und Körperpflege sehen. Wer Muskelverspannungen im Rücken, im Nacken hat – haben ja sehr viele heutzutage – kann da einfach in relativ kurzer Zeit viel erreichen."
Auch Robert Schleip ist davon überzeugt, dass sich die Fähigkeit der Faszien, auf Belastung und Anforderungen zu reagieren und sich anzupassen, sehr gut als Körpertraining nutzen lässt: "Dehnen verbessert die mechanischen Eigenschaften der Faszien", sagt Robert Schleip. "Federn erhöht die elastische Speicherkapazität. Beleben regeneriert das Gewebe durch Flüssigkeitsaustausch. Und Spüren regt Bewegungssinn und Tiefensensibilität an."
"Herzlich willkommen zum ersten Übungskurs für ein gezieltes Faszientraining."
Robert Schleip hat extra ein spezielles Videoprogramm erstellt. Zusammen mit seiner Kollegin Divo Müller präsentiert er ein Faszientraining für alle – nach fünf Grundprinzipien:
"Erstens: Die vorbereitende Gegenbewegung. Beginnen Sie mit einer leichten Dehnung in die Gegenrichtung. Dabei wird der Bogen etwas gespannt, die Körperachse leicht verlängert, um die elastische Rückfederung der Faszien zu steigern. Zweitens: Bei federnden Bewegungen achten Sie auf einen möglichst geschmeidigen Ablauf. Drittens: Anstatt Muskeln einzeln und isoliert zu dehnen, empfehlen wir, lange myofasziale Ketten zu engagieren. Variieren Sie dabei ständig mit kleinen Winkel- und Bewegungsrichtungen, so werden die flächigen Faszien optimal angesprochen und stimuliert. Viertens: Überfordern Sie Ihre Faszien nicht. Im Gegensatz zu den Muskeln bringt es nichts, wenn Sie bis zur Belastungsgrenze arbeiten. Fünftens: Nutzen Sie diese Übungen, um Ihr Körpergefühl zu verfeinern."
Eine perfekte Übung ist der "Elephant Walk": Dabei steht man anfangs aufrecht, rollt dann den Oberkörper ab, stützt sich mit den Händen auf dem Boden ab und beginnt dann, mit den Händen Schritt für Schritt nach vorne zu gehen. Danach wandern die Füße auf die Hände zu. Im Yoga oder Tai Chi gibt es ganz ähnliche Übungen. Doch das Faszientraining verändert die Bewegungen: Beim Elephant Walk trainiert man den Körper durch das Strecken und Zusammenziehen wie eine Raupe besonders effektiv.
"Dabei geht es nicht darum, wie schnell Sie vorne ankommen. Wichtiger dabei ist, sehr kreativ zu werden, um neue, kleine Zwischenbewegungen und lösende Impulse zu entdecken."
Aber es geht auch ohne DVD. Ein gutes Training für die Faszien ist: Federndes Treppensteigen, leichtfüßig und geräuschlos. Einen Lichtschalter oder eine Türklinke mit dem Fuß ein- und ausdrücken. Oder die Schnürsenkel mit hoch gehobenem angewinkelten Bein zu zubinden.
Spezielle Übungen sorgen für Spannkraft
Um einen Erfolg dieser Übungen zu spüren, braucht man allerdings Geduld: Wer zwei bis drei Mal die Woche fünf Minuten übt, der spürt nach etwa einem halben Jahr beim Griff an Oberschenkel oder Rücken eine neue Spannkraft.
"Und nach ein bis zwei Jahren hat sich so Ihr gesamter Faszienkörper erneuert – und verjüngt."
Es vollzieht sich ein kleiner Paradigmenwechsel, der bisherige Konzepte widerlegt, sagt Robert Schleip: Rückenschmerzen entstehen danach nicht ausschließlich durch Wirbelsäulen- oder Bandscheibenschäden, sondern auch in den Faszien. Muskelkater kommt aus den Faszien. Und auch viele Sportverletzungen gehen auf Verletzungen der Faszien zurück. Die Liste dieser neuen Erkenntnisse wird laufend fortgeführt. Durch die voran schreitende Grundlagenforschung setzt sich das Wissen um die Zusammenhänge zwischen elastischen Faszien, körperlicher Spannkraft, schmerzfreiem Bewegungsapparat, Gesundheit und Wohlbefinden langsam auch unter Schulmedizinern durch. Auch wenn die Krankenkassen das bisher noch nicht anerkennen. Die Behandlung muss privat bezahlt werden und kostet pro Stunde zwischen 50 und 80 Euro.
Zorn: "Das Wichtigste, dass ich einfach merke, was ist wo wie angespannt? Wie locker ist es? Wenn ich jetzt jahrelang halbwegs schmerzfrei war, und plötzlich entstehen langsam oder auch schlagartig Schmerzen – da muss man an die Faszien denken."
Adjo Zorn jedenfalls hat mit seiner Therapie den Cellisten Alban Gerhardt nicht nur von seinen Schulterschmerzen befreit, sondern ihm auch ein neues Körpergefühl beschert.
"Was mir beim Cellospielen fast am meisten geholfen hat, war, wie ich mich hinsetzen soll. Wenn man falsch sitzt, und die falschen Muskeln benutzt, dann ist es halt eher so ein bisschen überdrückt und gequetscht. Und wenn ich wirklich nur mit dem Körpergewicht arbeite und den Bogen natürlich ziehe, dann kommt ein viel freierer Ton heraus. Ich geh mit der Schulter und dann ist das viel, viel leichter. Es gibt eine blöde Übung, die mach ich jeden Tag, die geht so: Es ist ziemlich schwer, die Töne jeweils zu treffen, und ich denk jetzt gar nicht ans Tönetreffen, sondern ich denke daran, dass die Schulter die Töne trifft. Und seit ich das mache, spiele ich einfach korrekter, also sauberer. Ich bin viel weniger blockiert und viel elastischer in den Bewegungen."