Faszinosum des Monströsen
Horrors, Abscheulichkeiten, Monstrositäten: Die letzten Wochen des Marquis de Sade und das unheimliche Nachleben seines Schädels - davon erzählt dieser Roman des Schweizer Autoren Jacques Chessex.
Als ein Terrorist der Fantasie wurde Donatien Alphonse François de Sade gelegentlich bezeichnet. Doch entsteht der Terror allein durch die Schriften des "göttlichen Marquis"? Man wird eines anderen belehrt in Jacques Chessex' so schmalem wie furiosem letzten Roman. Denn auch der Körper des Marquis, er hat ein bösartiges Nachleben. Auf einem Markt in Aix-en-Provence fängt ein Schädel an zu leuchten, zu sprechen, mehrere Menschen fallen in Ohnmacht. Auf einem Schiff von Amerika nach Frankreich wird ein junger Wissenschaftler hinterrücks erschlagen. Eine Konkubine wird in erotischem Furor von ihrem Liebhaber zu Tode gepeitscht und geschändet. Und dies ist nur der Anfang.
Sieben Terrorakte, sie alle ranken um eine besondere Reliquie: den Schädel des am 2. Dezember 1814 in der Irrenanstalt von Charenton gestorbenen Marquis de Sade. Von den letzten Wochen des Dauergefangenen und in seiner Haft überaus produktiven Autors erzählt Chessex zunächst, von dessen Begegnungen mit Geistlichen und hörigen Mädchen, von dessen extremem körperlichen Verfall und seinen eruptiven Lästerungen. Chessex erzählt vom Faszinosum des Monströsen: Sade war nicht domestizierbar, seine Fantasie und deren Wirkung nicht zu inhaftieren. Selbst das Begräbnis unter Kruzifix und Weihwassergetränkter Erde kann den Wütenden nicht bändigen.
Der zweite Teil des Buches ist dem unseligen Schädel gewidmet: ausgebuddelt von einem jungen Arzt und Jünger, vervielfältigt in Abgüssen. Die Reliquie, "es scheint, dass sie Junge wirft". Und der Schädel des Marquis rast seitdem mit tödlicher Aura durch unsere Welt. Eine letzte Begegnung ist für den Spätherbst 2009 aufgezeichnet – es ist Chessex selbst, der Ich-Erzähler, dem der Schädel unter dem Arm einer ahnungslosen jungen Ärztin begegnet.
Sade wie Chessex wussten: Es sind nicht die Tugenden, die den Menschen antreiben, die Welt bewegen. Es sind immer die Laster, die Interessen, die Leidenschaften. Und nichts befeuert die Erwartung des Lesers mehr als die Zeilen, denen von Vornherein eine Warnung mitgegeben ist. Jener Fallschirm öffnet sich bereits im Prolog: "Man wird sich empören oder aber in Furcht erstarren" angesichts des Horrors, der Abscheulichkeiten und Monstrositäten, die allerdings erzählt werden müssen. Ein Rekurs auf die Sade'sche Rhetorik, die stets kokettiert: wozu sollte die Beschreibung des Unbeschreiblichen dienen, wenn nicht zur Abschreckung und zur Lehre?
Mit Wortgewalt entwirft der Autor die letzten Lebensszenen und die Wiedergängerei des Marquis de Sade. In einer Sprache von geradezu rücksichtsloser Kulinarik, deren drastische Wirkung vor allem durch meisterhafte Verdichtungen zustande kommt. Schon in seinen letzten auf Deutsch erschienenen und ebenso schmalen Romanen "Der Vampir von Ropraz" und "Ein Jude zum Exempel" konnte das Lesepublikum hierzulande die Chessex'schen Verknappungen bewundern. Nur zwei bündige Seiten braucht der Autor etwa, um den alten Marquis in all seiner Lüsternheit und auratischen Wirkung vor Augen zu führen, meist nur einen prägnanten Satz, die Erwähnung eines Duftes, um Jahrzehnte zu überspringen und in eine neue Situation einzuführen. Eine Sprache, deren Bildhaftigkeit sich langsam lesend auskosten lässt – im übrigen in genialer Übersetzung von Sade-Übersetzer Stefan Zweifel.
Es ist ein wenig unheimlich, dass das letzte Kapitel, in dem der Autor sich am Genfer See spazieren sieht und ein letztes Mal auf den rasenden Schädel trifft, im November 2009 spielt. Ein Zeitpunkt, den Chessex selbst nicht mehr erlebt hat – er starb genau einen Monat vorher, am 9. Oktober 2009 auf einer Diskussionsveranstaltung. Mitten im begonnenen Satz trat er so die Reise in die Nacht an, auf die er sich kurz zuvor literarisch bereits eingelassen hatte.
Besprochen von Katrin Schumacher
Jacques Chessex: Der Schädel des Marquis de Sade
Aus dem Französischen von Stefan Zweifel
Nagel & Kimche 2011
128 Seiten, 15,90 Euro
Sieben Terrorakte, sie alle ranken um eine besondere Reliquie: den Schädel des am 2. Dezember 1814 in der Irrenanstalt von Charenton gestorbenen Marquis de Sade. Von den letzten Wochen des Dauergefangenen und in seiner Haft überaus produktiven Autors erzählt Chessex zunächst, von dessen Begegnungen mit Geistlichen und hörigen Mädchen, von dessen extremem körperlichen Verfall und seinen eruptiven Lästerungen. Chessex erzählt vom Faszinosum des Monströsen: Sade war nicht domestizierbar, seine Fantasie und deren Wirkung nicht zu inhaftieren. Selbst das Begräbnis unter Kruzifix und Weihwassergetränkter Erde kann den Wütenden nicht bändigen.
Der zweite Teil des Buches ist dem unseligen Schädel gewidmet: ausgebuddelt von einem jungen Arzt und Jünger, vervielfältigt in Abgüssen. Die Reliquie, "es scheint, dass sie Junge wirft". Und der Schädel des Marquis rast seitdem mit tödlicher Aura durch unsere Welt. Eine letzte Begegnung ist für den Spätherbst 2009 aufgezeichnet – es ist Chessex selbst, der Ich-Erzähler, dem der Schädel unter dem Arm einer ahnungslosen jungen Ärztin begegnet.
Sade wie Chessex wussten: Es sind nicht die Tugenden, die den Menschen antreiben, die Welt bewegen. Es sind immer die Laster, die Interessen, die Leidenschaften. Und nichts befeuert die Erwartung des Lesers mehr als die Zeilen, denen von Vornherein eine Warnung mitgegeben ist. Jener Fallschirm öffnet sich bereits im Prolog: "Man wird sich empören oder aber in Furcht erstarren" angesichts des Horrors, der Abscheulichkeiten und Monstrositäten, die allerdings erzählt werden müssen. Ein Rekurs auf die Sade'sche Rhetorik, die stets kokettiert: wozu sollte die Beschreibung des Unbeschreiblichen dienen, wenn nicht zur Abschreckung und zur Lehre?
Mit Wortgewalt entwirft der Autor die letzten Lebensszenen und die Wiedergängerei des Marquis de Sade. In einer Sprache von geradezu rücksichtsloser Kulinarik, deren drastische Wirkung vor allem durch meisterhafte Verdichtungen zustande kommt. Schon in seinen letzten auf Deutsch erschienenen und ebenso schmalen Romanen "Der Vampir von Ropraz" und "Ein Jude zum Exempel" konnte das Lesepublikum hierzulande die Chessex'schen Verknappungen bewundern. Nur zwei bündige Seiten braucht der Autor etwa, um den alten Marquis in all seiner Lüsternheit und auratischen Wirkung vor Augen zu führen, meist nur einen prägnanten Satz, die Erwähnung eines Duftes, um Jahrzehnte zu überspringen und in eine neue Situation einzuführen. Eine Sprache, deren Bildhaftigkeit sich langsam lesend auskosten lässt – im übrigen in genialer Übersetzung von Sade-Übersetzer Stefan Zweifel.
Es ist ein wenig unheimlich, dass das letzte Kapitel, in dem der Autor sich am Genfer See spazieren sieht und ein letztes Mal auf den rasenden Schädel trifft, im November 2009 spielt. Ein Zeitpunkt, den Chessex selbst nicht mehr erlebt hat – er starb genau einen Monat vorher, am 9. Oktober 2009 auf einer Diskussionsveranstaltung. Mitten im begonnenen Satz trat er so die Reise in die Nacht an, auf die er sich kurz zuvor literarisch bereits eingelassen hatte.
Besprochen von Katrin Schumacher
Jacques Chessex: Der Schädel des Marquis de Sade
Aus dem Französischen von Stefan Zweifel
Nagel & Kimche 2011
128 Seiten, 15,90 Euro