Fatale Irrtümer

Eine innenpolitische Sicht auf den Krieg

Miltärleute versammeln sich an einer Bahnhaltestelle.
Miltärleute versammeln sich an einer Bahnhaltestelle. © picture alliance / Itar-Tass
Von Marko Martin |
Adam Hochschild zeichnet in souveränen Linien den Schlachtenverlauf von 1914 bis 1918 und konfrontiert den Leser mit individuellen Schicksalen. Man erfährt zudem, warum sich auch Frauenrechtlerinnen und Sozialisten der Kriegspolitik anschlossen.
Der deutsche Titel führt in die Irre. Es geht nicht so sehr um den "Untergang des alten Europa", als um eine spannend geschriebene "Story of Loyality and Rebellion“, so das englischsprachige Original. Adam Hochschild überrascht nämlich mit neuen Perspektiven, versetzt sich in die Lage und das Denken der Gegner des Ersten Weltkrieges: der Staaten, der Eliten, der einfachen Leute.
"Auf beiden Seiten meinten die Teilnehmer, sie hätten gute Gründe in den Krieg zu ziehen, und auf alliierter Seite waren die Gründe anfangs auch gut. Schließlich war Deutschland ohne jede Rechtfertigung in Frankreich einmarschiert und auch ins neutrale Belgien eingefallen.
Die Menschen in anderen Ländern, wie etwa Großbritannien, hielten es verständlicherweise für eine ehrenwerte Sache, den Opfern dieser Invasion zu Hilfe zu kommen. Hatte im Übrigen Frankreich nicht das Recht, sich zu verteidigen?
Wo heutige Beobachter möglicherweise nichts als sinnloses Blutvergießen sehen, erkannten die meisten Schlachtenlenker noch Edelmut und Heldentum."
Weshalb aber, so fragt er, akzeptierte Großbritannien dann einen autoritären Bundesgenossen wie das zaristische Russland?
Und weshalb wütete Deutschland, dass sich doch - mit dem damals noch kriegsbegeisterten Thomas Mann gesprochen - als Speerspitze der Kultur sah, derart grausam gegen belgische Zivilisten und setzte später an der Front Giftgas ein? Und weshalb hatte das vermeintlich so zivilisierte britische Königreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im südafrikanischen Burenkrieg concentration camps geschaffen?
In der Angst vor dem Anarchismus geeint
Zuvor hatte amerikanische Historiker ja bereits über die belgischen Kongo-Gräuel oder die Geschichte der Sklaverei-Gegner geschrieben. Und so zerpflückt er in der Antwort auf seine vielen Fragen auch so manches Klischee.
Es sei beispielsweise historisch ungenau, von einem "verordneten Krieg der Armen gegen die Armen" zu sprechen, während sich die europäische Oberschicht angeblich zurück gelehnt hätte. In Wirklichkeit zahlte auch der britische Adel einen überproportionalen Blutzoll, verlor selbst der kaiserliche General Ludendorff zwei Stiefsöhne.
Geopfert wurden Gemeinsamkeiten, die Europa zuvor verbunden hatten: Die Monarchen waren miteinander verwandt, den deutschen Kaiser und den russischen Zar einte die Furcht vor anarchistischen Terroristen. Und das galt auf andere Weise auch für die internationale Arbeiterbewegung, die Hochschild in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt - jenseits der Kabinettspolitik und ihrer Ränke. Man kann ihm deshalb gar nicht dankbar genug sein, beinahe vergessene Geschichte wieder zum Leuchten gebracht zu haben.
"Gewöhnlich wird ein Krieg als ein Duell zweier Seiten beschrieben. Ich habe stattdessen versucht, ihn durch die Kämpfe innerhalb eines Staates zu begreifen. Teilweise ist dieses Buch die Geschichte der Verweigerer...
Als etwa die Kosaken des Zaren demonstrierende Arbeiter in Sankt Petersburg niederschossen, brachten britische Gewerkschafter auf einer Versammlung in Liverpool umgehend 1000 Pfund für die Familien der russischen Genossen auf.
Später sprach sich eine Handvoll deutscher Parlamentarier gegen die Kriegsanleihen aus, kamen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ins Gefängnis – genauso wie der amerikanische Sozialistenführer Eugene Debs.
Doch vor allem in Großbritannien – mehr als in anderen Ländern – gab es eine große Anzahl von unerschrockenen Kriegsdienstverweigerern, die einen hohen Preis für ihre Überzeugungen zahlten."
In Handschellen auf den Kontinent gebracht
Adam Hochschild: Der Große Krieg. Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober Verlag Klett-Cotta Stuttgart, 23.08.2013 525 Seiten, 26,95 Euro, auch als ebook
Cover: Adam Hochschild: Der Große Krieg.© Verlag Klett-Cotta
Manche von ihnen wurden sogar in Handschellen auf den europäischen Kontinent gebracht: Weigerten sie sich, in die schlamm- und kotüberfüllten Schützengräben zu steigen und auf den Feind zu schießen, wurden sie standrechtlich exekutiert - ein Blatt weißes Papier über dem Herzen als Zielscheibe.
Adam Hochschild gelingt zweierlei: Er zeichnet in souveränen Linien den Schlachtenverlauf von 1914 bis 1918 und konfrontiert den Leser mit individuellen Schicksalen.
Wusste man bereits von der Kriegsbegeisterung des "Dschungelbuch"-Autors Rudyard Kipling und vom mutigen Antikriegs-Engagement des Philosophen Bertrand Russell, so erfährt man jetzt auch Wissenswertens über die Frauenrechtlerinnen der Pankhurst-Familie oder den tapferen Internationalisten James Keir Hardie. Und wir lernen den wahrhaft visionären Menschenrechtler Edmund Morel kennen:
"1916, drei Jahre vor den Versailler Verträgen, die praktisch für den späteren Aufstieg des Nationalsozialismus sorgten, begriff er schon, dass das gefährlichste Ergebnis des Konfliktes der totale Sieg der einen Seite wäre – ein Sieg, der in allgemeiner Erschöpfung endet und in einen verdrossenen Frieden führt."
Nicht zuletzt deshalb ist Adam Hochschilds Buch so wichtig, weil er kluges Vorhersehen neben fatale Irrtümer stellt - wie etwa im Falle jener deutschen, britischen und französischen Sozialdemokraten, Sozialisten und Frauenrechtlerinnen von 1914, welche die Kriegspolitik ihrer jeweiligen Regierung schließlich doch noch unterstützten – in der hehren Illusion, dadurch den Herrschenden mehr soziale Rechte abzuringen.
So bleibt als Resümee Rudyard Kiplings desillusionierter Vers, nachdem er vom sinnlosen Kriegstod des eigenen Sohns erfahren hatte:
"Wenn irgendjemand fragt, warum wir starben
Sagt ihnen, weil unsere Väter gelogen haben."

Adam Hochschild: Der Große Krieg. Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013
525 Seiten, 26,95 Euro, auch als ebook