Die Liveshow gibt es am 22. November zwischen 18 und 20 Uhr auf faz.net zu sehen.
Vergessene Werke auf großer Bühne
06:10 Minuten
Das Theater heute sei einfallslos, findet der "FAZ"-Kritiker Simon Strauß. Deswegen fordert er eine „Spielplanänderung“ und stellt im gleichnamigen Buch vergessene Bühnenwerke vor. Nun gab es an der Berliner Volksbühne den Praxistest - ohne Publikum.
Die Idee ist einleuchtend: Warum nicht mal schauen, was es so gibt im Archiv der vergessenen Theaterstücke? Denn: "Wir haben das Problem im Theater: Entweder wird etwas hergenommen und übers Knie gebrochen, damit es ein dramatisches Narrativ bekommt, oder es wird immer derselbe Käse gespielt – ähnlich wie in der Musik, wo man sagt: 'Schubert hat viel mehr komponiert. Warum werden eigentlich immer dieselben Sachen aufgeführt?'"
Das könnte sich wirklich mal ändern, findet Dörte Lyssewski, Schauspielerin am Wiener Burgtheater. Und weiter: "Da gibt es wirklich was zu heben. Da könnte man ein eigenes Theater gründen." Ein eigenes Theater nur mit vergessenen Stücken?
Der Tag in der Berliner Volksbühne gibt einen kleinen Eindruck davon, wie das in so einem Theater klingen könnte, wenn zum Beispiel Hans Henny Jahnns "Medea" ihrem erwachsenen Sohn zur Hochzeit das Herz ausschüttet:
"Mein Sohn, du wartest auf mich, und im Zweifel bist du, wie Medea dir begegnen möchte, nachdem sie deiner Liebe Ziel erfahren. Dass tiefer dein Vertrauen zu mir nicht, könnte schmerzen. Jedoch verschwinden kleine Sorgen vor dem größten Glück."
Ist es konservativ, alte Stücke auszugraben?
"Das ist eine etwas andere Fassung als die klassische ‚Medea’, die wir kennen. Die Kinder sind schon erwachsen", so Gina Haller, die den ergreifenden Monolog wieder und wieder in die Kamera spricht.
Sie fährt fort: "Diese Fassung zeigt auch eine sehr verletzliche Seite an Medea, die oft als Kindermörderin und skrupellose Frau porträtiert wird: Wie kann man die eigenen Kinder …? Und dass sie so emotional eine Rede an ihr Kind hält und sagt, wie sehr sie es liebt und wie sehr es sie schmerzt, dass sie von den Kindern getrennt und von der Familie ausgegrenzt wird."
"Doch einem Glückstag opfert man das sorgenreiche Leben gerne."
Simon Strauß' Idee, alte Texte auszugraben, geht einher mit dem Vorwurf, die Dramaturgen seien zu bequem, man spiele immer die gleichen Klassiker, dazu Roman- und Filmadaptionen, Stückentwicklungen, statt alte Dramenschätze zu heben. Viele fanden diesen Ansatz konservativ. Strauß dagegen betont, er wolle gar nicht neu gegen alt ausspielen, sondern vielmehr das "euphorische Potenzial wecken" und zwar "für die literarische Qualität von Theaterstücken", wie er erklärt. Und weiter:
Simon Strauß' Idee, alte Texte auszugraben, geht einher mit dem Vorwurf, die Dramaturgen seien zu bequem, man spiele immer die gleichen Klassiker, dazu Roman- und Filmadaptionen, Stückentwicklungen, statt alte Dramenschätze zu heben. Viele fanden diesen Ansatz konservativ. Strauß dagegen betont, er wolle gar nicht neu gegen alt ausspielen, sondern vielmehr das "euphorische Potenzial wecken" und zwar "für die literarische Qualität von Theaterstücken", wie er erklärt. Und weiter:
"Ich würde immer sagen, in der Lyrik und der Prosa haben wir auch nicht die Vorstellung, dass man etwas überwindet, um etwas Neues zu finden. Manchmal geht mir diese Vorstellung einfach nur auf die Nerven, dass das einzig Progressive die performative Art und Weise ist, das immersive Theater. Aber zur Vielfalt gehört auch, dass man das literarische Theater nicht von vornherein abwertet."
Auch neue Stücke werden schnell vergessen
Im besten Fall, so die Schauspielerin Haller, gelingt dann eine Wiederentdeckung. Denn vergessen wird in dieser kurzlebigen Zeit schnell – egal ob alte oder neue Stücke:
"Manchmal gehen Stücke auch unter. Auch jetzt. Wir haben viele tolle Autorinnen und Autoren, die tolle Sachen schreiben. Dann wird das uraufgeführt, dann verschwindet das Stück und wird nie wieder gespielt. Genauso ist das mit den alten Stücken: Da sind Schätze vergraben. Vielleicht muss man sich die einfach noch mal angucken. Das hat man auch mit dem Kleiderschrank, dass man etwas sieht und denkt: ‚Oh krass! Das ist ein Kleid, das hatte ich gefühlt hundert Jahre nicht mehr an, aber eigentlich passt es total.’ Manchmal muss man einfach noch mal in die Vergangenheit gucken, um zu sehen, ob man da etwas übersehen hat."
Also werden Szenen aufgeführt aus fünf Jahrhunderten, darunter Anna Gmeyners "Automatenbüfett", Else Lasker-Schülers "Die Wupper" oder ein Monolog aus George Bernard Shaws "Heilige Johanna" – kraftvoll vorgetragen von Stefanie Reinsperger:
"Ich geh da jetzt raus. Die Liebe in ihren Augen, wird mich über den Hass in euren Augen hinwegtrösten."
Im Kleiderschrank der Dramengeschichte
Das Kramen im Kleiderschrank der Dramengeschichte hat an diesem Samstag viele hübsche Accessoires an den Tag gebracht. Aber auch Texte, die aus der Zeit gefallen scheinen. Die kurzen Szenen wirken wie eine Art Trailer und machen im besten Fall Lust auf mehr.
Nur weiß ich danach nicht, ob ich das Beste schon gesehen habe. Trägt die Aufführung des ganzen Stücks, die Sprache, die Handlung? Darauf konnten die Appetithäppchen keine Antwort geben.
"Ich glaube aber, dass der Anspruch gar nicht so ist, zu sagen: ‚Ach, weil ich den einen Text jetzt gehört habe, muss das ganze Stück toll sein.’ Sondern, dass es eher darum geht: ‚Ah, ich höre da eine Sequenz und jetzt hätte ich Bock, mal das Ganze zu lesen’", so Reinsperger. Die Aufführungen sollen einfach nur neugierig auf die Autorinnen und Autoren oder das Stück machen. Und weiter sagt sie:
"Ich fand das sehr interessant, mir zu überlegen, wie ein Theater da rangeht, welche Stücke es auswählt. Ich glaube, ich würde es auch so machen. Ich würde mir mal ganz zufällig eine Stelle suchen und sagen: 'Wenn mich die eineinhalb Seiten packen, dann lese ich weiter.' Wenn es Stellen gibt, die mich nicht packen, finde ich es absolut legitim, zu sagen: 'Nee, die haben mich nicht so gekriegt, dann habe ich nicht Lust, weiter zu lesen.' Also das ist genau das, was hier versucht wird, zur Verfügung zu stellen."
Der Theatermarathon in der leeren Berliner Volksbühne zeigt neben einzelnen, überraschend starken Texten, von denen einige im Theater von heute Bestand haben könnten, vor allem dies: Ein Häppchen ersetzt kein opulentes Menü. Ob die ganzen Stücke eine Wiederaufführung im Heute vertragen, das bleibt unbelegt. Für eine groß angekündigte "Spielplanänderung" bräuchte es mehr Texte und stärkere Argumente.