Ohne Lesen stolpern wir durchs Leben
Ist es nicht ein großer Zufall, dass Menschen in nur wenigen Monaten etwas so Komplexes wie das Lesen erlernen können? Ganz und gar nicht, meint Michael Schikowski: Ohne Textverständnis kein Weltverständnis, meint er.
Von Andy Warhol ist der Satz überliefert: "Ich lese nicht, ich schaue mir nur Bilder an." Darin ist die Überzeugung verborgen, dass sich Lesen und Anschauen prinzipiell unterscheiden. Die Provokation des Satzes geht in die von Warhol vielleicht beabsichtigte, popkulturelle Richtung. Eine Richtung, bei der die Kopfhängerei des Lesens, die stille Arbeit, von grellen, unmittelbaren Bildern, von lauter, unmittelbarer Musik erfolgreich verdrängt wird. Eine Direktheit, die der Subtilität von Texten vielfach überlegen ist.
So sehen wir es im Grunde auch heute noch, wenn die digitalen Medien, in denen Bilder und Musik eine besonders große Rolle spielen, das konzentrierte Lesen verdrängen – was sie ganz gewiss tun! Um dem zu wehren, wird nichts unversucht gelassen, das Lesen zu begründen und zu bewerben.
Seltsamerweise stehen dabei die sekundären Folgen des Lesens ganz hoch im Kurs. So lernt man beim Lesen, sich besonders gut zu konzentrieren. Beim Lesen lernt man die Rechtschreibung, auch nach ihrer Reform. Gerne wird zudem gesagt, dass Lesen die Ausdrucksfähigkeit verbessert. Noch weiter gehen diejenigen, die behaupten, dass man erst durch Lesen richtig zu denken lerne.
Lesen ist deuten - und das ist überlebensnotwendig
Andere rühmen das Lesen nicht wegen seiner unter der Hand erlernbaren Fähigkeiten, sondern aufgrund der Inhalte. Die Gruppe derjenigen, deren wissenschaftliche Karriere mit einem bestimmten populären Jugendsachbuch begann, ist relativ groß, begonnen beim prominentesten Beispiel Einstein. Andere argumentieren allgemeiner, dass man beim Lesen einfach immer und überall etwas dazulernt. Spätestens seit Michael Ende wird durch Lesen die Phantasie angeregt, was prompt zu ihrer Verdinglichung im Genre Fantasy führte. Und überhaupt, Lesen sei das pure Glück!
Geht man allerdings auf den Ursprung des Lesens zurück, stellt sich die Lage anders dar. Denn das Bücherlesen ist nicht Ursache, sondern in gewisser Weise Folge des Lesens, allerdings eines anderen Lesens. Verwunderlich ist doch, warum unser offensichtlich zum Jagen und Sammeln eingerichtetes Gehirn es überhaupt schafft, innerhalb weniger Monate das Lesen von Texten zu lernen. Warum können wir das und lernen es so schnell?
Die Antwort lautet, dass Menschen auch ohne Bücher lesen lernen, und zwar indem sie deuten. Sie deuten das Gesicht des Anführers ihrer Horde, die Spuren der gejagten Tiere und die Anzeichen eines Unwetters am Himmel. Der Ursprung des Lesens liegt also in der Fähigkeit, Sachverhalte als Zeichen zu verstehen, als Anzeichen für etwas anderes.
Im Textverstehen üben wir Weltverstehen
Die Verbindung dieser Zeichen mit einigen für uns entscheidenden Bedeutungen – der Gesichtsausdruck des Silberrückens mit unserem Platz in der Horde, die Spuren des Wildes mit dem Zeitpunkt der zu erwartenden Mahlzeit – ist essenziell. Wer da zu viel überliest, überlebt es nicht. Längst ist all dies aber vom Textlesen überformt.
Warum also lesen wir? Weil wir im Textverstehen eben auch das Weltverstehen üben. Wer nicht zu lesen lernt, stolpert nicht allein über Texte, sondern auch durch sein Leben. Im Lesenlernen wird unsere Fähigkeit zu deuten nur weiter kultiviert und damit letztlich die Einsicht, dass die Welt mehrdeutig ist. Im Bedeutungsvollen der Texte – der Romane natürlich besonders – steckt die Möglichkeit, die Bedeutung der Welt um uns herum zu erkennen.
"Die Möglichkeit" – denn auch das bekommt man beim ersten Buchaufschlagen schon mit: So eindeutig ist das alles nicht! Eine Eindeutigkeit, die uns vor allem die Bilderchen und die kleinteilige Taktung der digitalen Kommunikation antrainieren. So finden einige Menschen Mehrdeutigkeit neuerdings überall zu kompliziert, zu intellektuell, ja medial vorsätzlich hergestellt und geraten abwechselnd in Wut und Angst.
Auch hier hilft Lesen, denn Lesen heißt eben auch, Nichtverstehen als Noch-Nicht-Verstehen auszuhalten. Und selbstverständlich irrt Andy Warhol, wenn er das Bildchengucken gegen das Lesen ausspielt. Wenn Glotzen nicht auch Deuten wird, nützt das Augenaufreißen nichts, hier wie da.
Michael Schikowski ist für Verlage und Buchhandlungen tätig und Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Düsseldorf. Er publizierte u.a. "Warum Bücher?". Seit einigen Jahren stellt er die Erzähler des 19. und 20. Jahrhunderts in Leseabenden vor, die auf seiner Seite www.immerschoensachlich.de mit weiteren Rezensionen zu finden sind.