Aktien und ETFs für alle

Rettung für die Rente?

30:35 Minuten
Illustration einer Person, die an einem Strick einen Bollerwagen mit Aktien, ETFs etc. hinter sich her zieht. Das tut sie auf einem nach oben zeigenden grünen Pfeil.
Retten Aktienfonds und ETFs die Rente? © Getty Images / iStockphoto / Nuthawut Somsuk
Von Christian Musolff |
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Seit Jahrzehnten verschleppt die jeweilige Regierung eine grundlegende Reform des Rentensystems. Angelehnt an aktienbasierte Fonds wie in Schweden oder Großbritannien will die FDP jetzt handeln. Aber wie zukunftssicher sind diese Finanzmodelle überhaupt?
"Durch die Rentenreform verschaffen wir den Alten und Hilfsbedürftigen einen materiell gesicherten Lebensabend."
1957. Im Herbst finden Wahlen zum dritten Deutschen Bundestag statt. Millionen deutsche Rentner leben am Rande des Existenzminimums während die Löhne der arbeitenden Bevölkerung im Zuge des sogenannten „Wirtschaftswunders“ bereits kräftig gestiegen sind.
"Das neue Gesetz ist ein sozialer Fortschritt aller ersten Ranges. Es ist von der denkbar größten sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung."
Die Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer hatte deshalb eine umfassende Reform des Rentensystems durchgeführt, die im Januar 1957 in Kraft trat. Die Höhe der Rentenzahlungen wird an die Lohnentwicklung gekoppelt und maßgeblich durch Umlagen, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern eingezogen werden, finanziert. Es war die Geburtsstunde der gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie bis heute kennen.
"Die Bundesregierung hält an den Grundzügen des vom Kabinett verabschiedeten Gesetzentwurfs fest. Dessen Kernstück ist eine Produktivitätsrente."
Warnungen von Beratern, dass dieser „Generationenvertrag“ in Zeiten nachlassenden Wachstums und sinkender Geburtenraten vorhersehbar nicht mehr tragfähig sein wird, entgegnete der achtfache Vater Konrad Adenauer mit der ebenso legendären wie lapidaren Feststellung „Kinder kriegen die Leute immer“.
Konrad Adenauer auf einem schwarz-weiss Foto erhebt mahnend den Finger.
Eine Aussage vom ehemaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, die, bezogen auf genügend Beitragszahler und -zahlerinnen, der Realität nicht standhielt: „Kinder kriegen die Leute immer.“© Gettz Images / Bettmann Archive
Die CDU erhält bei den Wahlen 1957 die absolute Mehrheit der Stimmen und erzielt das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Der Dow & Jones Index steht am Jahresende bei 436 Punkten!
1960. Herr und Frau F. aus Köln mieten eine Wohnung von einer Wohnungsgesellschaft eines Versicherungskonzerns. Vereinbarungsgemäß wird die Kaution von 800 DM entsprechend rund 409 Euro nicht in Bar verwahrt, sondern in Aktien des Mutterkonzerns angelegt. Die Tochter und Erbin der Eheleute F. kündigt die Wohnung in 2018 und verlangt die Herausgabe der Kaution in Aktien, deren Wert in den 58 Jahren auf sagenhafte 115.000 Euro gestiegen ist.
Der Dow & Jones Index steht am Jahresende bei 616 Punkten.

Die Auswirkungen der Babyboomer-Jahre

1964. Der Autor dieses Features wird geboren und mit ihm 1.357.303 weitere Babys. Nie kamen im Nachkriegs-Deutschland mehr Kinder auf die Welt. Bereits 1972, also nur acht Jahre später, waren die Boomer-Jahre vorbei, und die natürliche Bevölkerungsentwicklung aus Geburten und Todesfällen, also ohne Zu- und Abwanderung, negativ. Daran hat sich bis heute nichts mehr geändert.
Der Dow & Jones Index steht am Jahresende bei 874 Punkten!
2021. Nach den Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag bildet sich eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Im Koalitionsvertrag vom November 2021 wurde vereinbart, zur stützenden Ergänzung der gesetzlichen Rentenversicherung einen kapitalgedeckten, aktieninvestierten Altersvorsorge-Fonds, kurz „Aktienrente“ genannt, einzuführen, und diesen mit zehn Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt anzuschieben.
Der Dow & Jones Index steht am Jahresende bei 36.338 Punkten.
Der Haushalt 2022 beziffert den Zuschuss des Bundesetats zur gesetzlichen Rentenversicherung auf rund 108 Milliarden Euro. Dies entspricht etwa 23 Prozent des Bundeshaushaltes. Anders ausgedrückt: Etwa jeder dritte Euro, den ein Rentner heute in Deutschland aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, stammt nicht aus dem umlagefinanzierten System selbst, sondern wird aus Steuern bzw. über Bundesschulden beigesteuert.
Dabei wäre es so einfach, etwas zusätzliches Kapital anzusparen und fürs Alter in Aktien zu investieren, mein Gerrit Frey vom Deutschen Aktieninstitut DAI in Frankfurt.
„Man kann in den Aktienmarkt relativ einfach investieren, eben entweder direkt oder eben auch indirekt. Fondssparpläne sind beispielsweise ab 25 Euro im Monat möglich, und über die modernen Kommunikationsmittel, Apps auf dem Smartphone, hat die Aktie letztendlich auch die Hosentasche erreicht, also die Zugangshürden sind sehr gering.“

Die Deutschen sind Aktienmuffel

Wobei man wissen muss, dass das DAI von der Finanzindustrie gegründet wurde, um für den Besitz von Aktien in jedweder Form zu werben. Klingt nicht nach Aktienkultur, sondern eher nach Aktienmuffel.
Die sogenannte Aktionärsquote in Deutschland ist konstant niedrig, wie aktuelle Zahlen des Deutschen Aktieninstituts bestätigen:
„Die Menschen können ja auf verschiedene Art und Weise in den Aktienmarkt investieren. Sie können direkt Aktien kaufen. Sie können aber auch in Investmentfonds investieren oder in ETFs. Das ist dann die Form eines indirekten Aktienbesitzes, weil eben ein Fondsmanagement das Management des Aktiendepots übernimmt. Und beides zusammen sind für uns Aktien-Sparerinnen und Aktiensparer. Und daraus errechnet sich dann auch die Aktionärsquote. Wir zählen zurzeit 12,1 Millionen Menschen, die entweder Aktien halten, Aktienfonds oder ETF. Und es sind rund 17 Prozent der Bevölkerung im Alter ab 14 Jahren also jeder sechste oder jede sechste.“
Verglichen mit anderen Industriestaaten in Europa, Skandinavien und im angelsächsischen Raum, wo die Aktionärsquoten bei rund 50 Prozent und teilweise darüber liegen, also faktisch 80 oder mehr Prozent der arbeitenden Bevölkerung Aktien besitzen, ist das erschreckend wenig.
„Sie haben recht. In angelsächsischen Ländern, in Schweden, in den skandinavischen Ländern ist quasi die Aktionärsquote oder die Aktien Sparerquote, wie ich es nennen würde, deutlich höher. Und das hat sehr viel damit zu tun, wie die Altersvorsorge organisiert ist. In diesen Ländern ist es halt eine kapitalgedeckte Altersvorsorge mit einem hohen Aktienanteil letztendlich gesetzlich verpflichtend. Und das macht natürlich quasi aus jedem einen Aktionär oder ein Aktiensparer, Aktiensparerin. Und wenn man das über das Rentensystem erlernt, dann ist man vielleicht auch bereit, neben dem verpflichtenden Teil auch stärker privat noch mal in den Aktienmarkt einzusteigen.“

Skepsis gegenüber der Altersvorsorge mit Aktien

Was die Bundesbürger aber mehrheitlich unterlassen, obwohl aktuellen Umfragen zu Folge, etwa die Hälfte der Deutschen zurecht finanziell sorgenvoll auf ihre Zeit als Rentner blickt. Trotzdem sind zu wenige bereit, auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit auf den Coffee to go und das belegte Brötchen vom Bäcker zu verzichten, und stattdessen mit dem gesparten Geld Altersvorsorge in Aktien zu betreiben.
Deutschland ist hinsichtlich der Sicherheit und der Höhe der Altersversorgung grob zweigeteilt. Die eine Hälfte der produktiven Bevölkerung erwirbt bereits nette gesetzliche Rentenansprüche über die Erwerbszeit, erhält womöglich eine zusätzliche Betriebsrente, hat Grundbesitz oder sonstige Rücklagen, und kann dieses Vermögen im Alter entweder lustvoll verkonsumieren, oder teilweise vererben.
Die andere Hälfte verlässt sich überwiegend auf die gesetzliche Rentenversicherung, kann oder will keine zusätzliche private Altersvorsorge betreiben und wenn, dann auf gar keinen Fall in renditeträchtigen Aktien, weil sie als riskant gelten.

Menschen scheuen das Risiko

Johannes Geyer, stellvertretender Leiter der Abteilung „Staat“ beim Deutschen Institut für Wirtschaft in Berlin, beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit den Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die deutsche Sozialversicherung, der Verhaltensökonomik, also den rationalen und emotionalen Mustern wirtschaftlichen Handelns, und analysiert weltweit Modelle kapitalgedeckter Altersvorsorge.
„Ein Erklärungsansatz ist, dass in Deutschland die Verlust-Aversion, also die Risikoaversion, sehr hoch ist. Das heißt, Menschen scheuen das Risiko und wollen eigentlich ein Stück weit die Sicherheit in der Anlage haben. Und das ist eben mit Aktien nicht zu haben. Und wenn man sich also stärker auf diesen Sicherheitsaspekt konzentriert, und wir wissen, dass Menschen Verlust etwas stärker bewerten als Gewinne beispielsweise. Und da zählen dann auch Erfahrungen aus der Vergangenheit als ein Erklärungsfaktor dafür – beispielsweise der Absturz des Neuen Markts, dann ganz prominent in Deutschland die Telekom-Aktie.
Das hat sicherlich zum Vertrauensverlust dieses Marktes beigetragen. Und natürlich spielt die Aktie als Bestandteil der Altersvorsorge in Deutschland auch nicht so eine besondere Rolle. Nicht so eine bedeutende Rolle. Dort haben sich Versicherungsprodukte eigentlich vorgeschoben. Und diese Form der privaten Absicherung ist eigentlich verbreitet.“
Die meisten Deutschen sparen also niedrigrentierlich, aber mit garantierter Auszahlung. Mit der herrlichen Aussicht auf die historisch belegbaren Wertzuwächse von Aktien kann man sie nicht locken.
„Was die Menschen tatsächlich, die nicht in Aktien oder Aktienfonds investieren, vom Aktienmarkt abhält, ist letztendlich häufig ein Missverständnis oder ein falsches Bauchgefühl. Und wir haben eine Umfrage gemacht vor einiger Zeit. Da sagen zwei Drittel derjenigen, die nicht in Aktien investiert sind, dass sie sich einfach nicht wohlfühlen, weil sie nicht genug Wissen haben.“
Das Foto zeigt Norbert Blüm, den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Spitzenkandidat der CDU von NRW für die Landtagswahlen 1990 hinter seinem Schreibtisch.
1997 wollte der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) Bürger und Bürgerinnen mit der Aussage beruhigen: „Die Rente ist sicher.“© Getty Images / United Archives / Sven Simon
Wozu auch Aktien kaufen, denn schließlich: „Die Rente ist sicher!“
Weil dem nicht so ist, plant die Bundesregierung, eine kapitalgedeckte Aktienrente einzuführen, die das schwächelnde Rentensystem stützen soll. Dabei müssen unverrückbare Tatsachen, wie beispielsweise die demografische Entwicklung und das begrenzte Instrumentarium zur Steuerung der umlagefinanzierten, gesetzlichen Rente, also die Höhe des Beitragssatzes, das Renteneintrittsalter und die Rentenhöhe, mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen kombiniert werden, die von der bundesdeutschen Politik selbst bei bestem Willen weder sicher geplant, noch vollständig kontrolliert und gesteuert werden können.
Tatsächlich hat Deutschland gewissermaßen ein Luxusproblem, das aber typisch für viele alternde, wohlhabende Gesellschaften ist.

Bei der Altersvorsorge nur im Mittelfeld

Die Mercer Corporation, eine auf die Beratung zu betrieblicher Altersvorsorge spezialisierte Unternehmensberatung, untersucht seit 13 Jahren die Qualität und die Leistungsfähigkeit von Rentensystemen weltweit und bildet die Ergebnisse in dem sogenannten Global Pension Index ab.
Wobei in dem Index nur 45 der rund 200 Länder der Erde vertreten sind, nämlich die, die wenigstens über eine halbwegs funktionierende Altersvorsorge verfügen. Keines der untersuchten Länder erreicht dabei die volle Punktzahl von 100. An der Spitze liegt Island mit 84,2 Punkten vor den Niederlanden und Dänemark. Starke Rentensysteme besitzen auch noch Israel, Australien und die Länder Skandinaviens. Deutschland folgt im Mittelfeld auf Platz 14 mit 67,9 Punkten.
Wie kommen die Menschen in den vielen anderen Nationen im Alter über die Runden? Der Rest der Welt muss sich weitgehend auf eine Altersvorsorge a la Adenauer verlassen und ausreichend Nachwuchs zeugen, der sie im Alter versorgt. Deutschland lag 2020 immerhin noch auf Platz 11. Das Abrutschen auf Platz 14 ist hauptsächlich auf das schlechtere Abschneiden in der Kategorie „Nachhaltigkeit“ zurückzuführen, also der langfristigen Finanzierbarkeit.
Hier erreicht Deutschland nur 45,4 der möglichen 100 Indexpunkte und liegt mit diesem Wert sogar noch hinter Mexiko, Kolumbien und den Philippinen. Die relative Stärke dieser im Vergleich zu Deutschland armen Länder liegt in deren demografischer Struktur begründet.
Während in Deutschland 2035 hundert Arbeitnehmer ca. 70 Rentner werden finanzieren müssen, sind die Alterspyramiden dieser Länder noch unten breit und oben schlank, so wie bei uns in den 1960ern, als das Verhältnis Arbeitnehmer zu Rentner noch bei 6 zu 1 lag.

Spätestens jetzt braucht es Reformen

Welchen Einfluss die Altersstruktur in Kombination mit der stark gestiegenen Lebenserwartung in vielen Industriestaaten hat, lässt sich gut am Beispiel Japans aufzeigen, das, obwohl eines der reichsten Länder der Welt, im Global Pension Index von Mercer nur Platz 36 belegt.
„Wir sind jetzt rentenpolitisch in einem Jahrzehnt der Wahrheit“, sagt Florian Toncar, Staatssekretär im Finanzministerium, FDP.
„Es kommt ja überhaupt nicht überraschend, dass wir ab Beginn der 30er-Jahre ganz starke Zugänge von neuen Rentnerinnen und Rentnern in den Rentenbezug haben werden. Das ist planbar. Das kann man anhand von Jahrgangstabellen, anhand von Geburtenstärken ja ganz einfach ausrechnen. Und das ist auch seit Jahrzehnten im Grunde klar. Aber die Vorsorge hat nicht ausgereicht.
Und das Zeitfenster dafür schließt sich. Wir müssen jetzt wirklich ernst nehmen, dass wir etwas tun müssen, um die gesetzliche Rente da zu halten, wo wir sie haben wollen, nämlich als auch einen wirklich wertvollen Beitrag zur Alterssicherung für jeden einzelnen. Und dass es unter der Regierungszeit von Frau Merkel durchweg immer wieder verschoben und vertagt worden.“
Diese hätten aber streng genommen spätestens unter den CDU-Regierungen Kohl und dessen Koalitionspartner FDP in den 1990ern begonnen werden müssen.
Was haben die Spitzenländer aus der Mercer -Studie denn anders und besser gemacht als Deutschland?
Fast alles. Vor allem haben diese Länder rechtzeitig, manche bereits vor mehreren Jahrzehnten, kapitalgedeckte, aktieninvestierte Vorsorgemodelle eingeführt, die entweder so attraktiv und simpel gestaltet sind, dass fast jeder Arbeitnehmer freiwillig daran partizipiert, wie etwa die Briten an ihrem passend benannten NEST, dem National Employment Saving Trust. Oder man hat, wie beispielsweise Schweden, die Teilnahme gleich ganz verpflichtend gemacht.
„Schweden hat eine Rentenreform Ende der 90er-Jahre durchgeführt, wo sie eigentlich grundlegend die Rentensysteme noch mal angepasst haben, auch im Hinblick auf die demografische Alterung, relativ vorausschauend. Und die haben eine kapitalgedeckte Säule in der ersten Säule eingeführt mit einem Beitragssatz von zweieinhalb Prozent. Die Menschen sind verpflichtet da einzuzahlen, also die Beschäftigten, und das Geld wird investiert in einem Default-Fonds, wenn man nicht was anderes wählt.
Gleichzeitig investiert der Fonds auch im Lebenszyklus, sodass am Anfang mehr in ein Risiko reiche Anlagen investiert wird und dann zum Alter hin in risikoärmere Anlagen und im Prinzip tragen die Versicherten dort das volle Investitionsrisiko. Der Fonds kann auch mal Verluste machen, hat er auch schon gemacht, aber im Durchschnitt macht er Gewinne in zweistelliger Höhe.“

Schweden und Großbritannien als Vorbild?

Vergleichbares schwebt der FDP für Deutschland vor.
„Auf lange Sicht ist sicher wünschenswert, dass wir ähnlich wie in Schweden dahin kommen, dass ein Teil der gesetzlichen Rentenbeiträge, die der Gesetzgeber auch verpflichtend einfordert, auch in einen Kapitalstock investiert werden, damit auch jeder einzelne mit seinen Beiträgen stärker davon profitieren kann, dass dieses Geld eben auch angelegt wird, dass es arbeiten kann, bis man selbst in Rente geht und davon etwas haben will.“
Aber auch das britische System wurde der Bundesregierung in einer umfangreichen, vergleichenden Studie des DIW im Sommer 2022 vorgestellt:
„Und in Großbritannien hat man ein System eingeführt, wo man eigentlich ein Grundrentensystem, was die Briten haben, auf einem sehr niedrigen Niveau, durch eine Betriebsrente ergänzt. Die Betriebsrente hat man jetzt verallgemeinert und ein sogenanntes Opt-out eingeführt. Das heißt, alle Beschäftigten sind erst mal darin versichert, können sich aber herausoptieren, also können sich dagegen entscheiden. Das machen die wenigsten. Die meisten bleiben drin.“
Die strukturellen Vorzüge der schwedischen und britischen Modelle erklären indirekt, weshalb die sogenannte „Riester-Rente“, die in 2002 eingeführt worden war, ein rentenpolitischer Rohrkrepierer werden musste, da sie weder die Aktien-Sparer-Quote signifikant erhöht, noch maßgeblich und ausreichend die Bildung zusätzlichen Kapitals zur Altersvorsorge bewirkt hat. Viel zu spät eingeführt, zu teuer, zu kompliziert, obwohl steuerbegünstigt und bezuschusst, freiwillig, und on top, mit dem absoluten Renditekiller „Garantie des eingezahlten Kapitals“ versehen.

Sehenden Auges ins Rentenschlamassel

Experten warnen seit Langem und alle Bundesregierungen seit Helmut Schmidt wurden fachlich gut beraten. Man konnte, man musste es besser wissen, wollte aber nicht. Vielleicht war es die Furcht vor dem Wähler, oder die Angst der gesamten Gesellschaft vor der unbeliebten Wahrheit, oder der gemeinsame Unwille, den Gürtel bei Zeiten enger zu schnallen.
Eines ist klar. Ob eine Umlage finanziert werden muss, oder man Kapital langfristig ansparen will, um es Dekaden später aufzulösen und als Rentenbezüge an Senioren auszuzahlen, beides muss, volkswirtschaftlich betrachtet, im Hier und Jetzt aus dem laufenden Volkseinkommen als Überschuss erwirtschaftet werden. Auch dieses Theorem ist nicht neu, sondern wurde bereits 1952 von dem Ökonomen Gerhard Mackenroth aufgestellt.
Johannes Geyer vom DIW befürchtet zudem, dass der Aufbau einer zusätzlichen, kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge wegen der langen, zähen Ansparphase die politische Willenskraft der Republik überfordern könnte:
„Wenn ich plane, eine Kapitaldeckung aufzubauen, dann muss ich dafür erst beim Mittel weglegen, die nicht dem Konsum zur Verfügung stehen. Und das dauert also, bis dann aus diesem Kapital irgendwann mal Renten gezahlt werden können. Über diese Zeit habe ich die Kosten. Und wenn ich das jetzt in einer Phase einführe, wo die Kosten der Alterung sowieso schon über die Umlage steigen, habe ich eben da noch im Übergang erhebliche Mehrkosten. Ja, das ist eine Frage, eine politische Frage will man sich diese zusätzlichen Kosten aufbürden?“
Dass der Bundesrepublik in der Rentenfrage eine Phase heftiger politischer Richtungsdebatten bevorsteht, ahnt auch das Bundesfinanzministerium in Person von Florian Toncar:
„Im Grunde war das Jahrzehnt ein Jahrzehnt der verpassten Chancen, wo Deutschland aus einer recht starken wirtschaftlichen Position heraus sehr viel hätte angehen können, es aber nicht getan hat aus Bequemlichkeit, aus Trägheit auch vieler politischer Entscheidungsträger, angefangen bei der damaligen Bundeskanzlerin. Und nun haben wir eine Pandemie hinter uns und sind in einer Energiekrise. Wir müssen unsere Wirtschaft auch umbauen in Richtung Umweltfreundlichkeit, Klimaschutz und zur selben Zeit auch noch die gewaltigen und aufgeschobenen Probleme lösen, die wir im Sozialsystem haben, gerade auch, was die dauerhafte Finanzierung der Rente angeht.“

Der zeitliche Druck zu Handeln steigt

Wobei daran erinnert werden darf, dass sowohl die jetzige Kanzlerpartei SPD, als auch die FDP Merkel- Regierungen angehört haben. Auch der Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger mahnte im September dieses Jahres auf dem Arbeitgebertag gegenüber dem anwesenden Bundeskanzler Scholz nachdrücklich Reformen an:
„Wer den Eindruck erweckt, es könne alles versprochen werden, der rüttelt an dem Fundament beitragsfinanzierter Versicherungen. Die Wahrheit hier in Berlin, die Wahrheit ist, alle Politiker kennen die Zahlen, aber keiner traut sich, darüber zu sprechen. Und mit jedem Jahr, das wir verstreichen lassen, steigt der Druck!“
In einem Interview mit der Bild am Sonntag Ende Oktober hat der Arbeitgeberpräsident sogar von einem möglichen Kollaps der Sozialsysteme in fünf Jahren gesprochen. Tatsächlich kollabieren wird das Rentensystem solange nicht, wie der Bund über 100 Milliarden jährlich an Haushaltsmitteln zuschießt.
Genau hier liegt das Dilemma. Denn die gesetzliche Rentenversicherung, die jetzt schon hoch defizitär ist, bekommt sehr bald erheblichen, zusätzlichen Druck von zwei Seiten gleichzeitig.
„In den kommenden 15 Jahren geht die Generation der Babyboomer in Rente. Das sind 13 Millionen Menschen und damit ein Drittel der Erwerbstätigen“, meldete die Tagesschau im August.
Spaziergang im Herbst. Personen werfen einen malerischen Schatten auf das Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone von Bad Reichenhall.
Ist die Rente tatsächlich sicher? Viele wissen es heute wohl nicht. © IMAGO / Rolf Poss
Innerhalb weniger Jahre mutieren Millionen von Beitragszahlern zu Rentenempfängern. Während die Einnahmen sinken, steigen gleichzeitig die Ausgaben. Im Grunde genommen steht nicht die gesetzliche Rentenversicherung vor dem Kollaps, sondern der Bundeshaushalt. Simulationen halten es für möglich, dass der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung von derzeit 23 Prozent bald auf sagenhafte 40 oder mehr Prozent des Gesamtetats ansteigen könnte.
Der taufrische Haushaltsplan für 2026 veranschlagt den Anstieg des Zuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung auf 129 Milliarden Euro, also knapp 30 Prozent des Gesamtetats. Vielleicht ist Kollaps nicht der richtige Ausdruck. Es ist eher eine finanzpolitische Zwangsjacke, die jedes Jahr enger sitzt.

Die Aktienfond-Pläne der FDP

Bereits im Wahlkampf 2021 empfahl der jetzige Bundesfinanzminister Christian Lindner die Aktienrente Schwedens als wirksame Medizin für die kränkelnde deutsche Rente.
„Wir sollten uns orientieren an Schweden. Dort läuft das, was wir jetzt vorschlagen, nämlich seit Jahren sehr gut in der Praxis. Die Idee ist, dass zwei Prozent von eurem Brutto-Monatseinkommen nicht in die Rente wie bisher fließt, sondern in eine neue Aktienrente“.
Beschlussreif formuliert oder entschieden wurde aber bislang nichts. Offiziell existiert nur ein „Konzeptpapier“ aus „BMF-Kreisen“. Geplant ist:
„Erträge eines Kapitalstocks sollen ab Mitte der 2030er-Jahre einen Beitrag zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung leisten. Der für den Einstieg in die Kapitaldeckung notwendige Kapitalstock, die sog. ´Aktienrücklage`, soll teilweise kreditfinanziert aufgebaut werden. Dazu sollen diesem Kapitalstock im Jahr 2023 Haushaltsmittel in Form von Darlehen i. H. v. 10 Mrd. Euro zugeführt werden.“

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Lindners parlamentarischer Staatssekretär Florian Toncar äußert sich entsprechend unverbindlich, aber zuversichtlich:
„Und der Beginn wird jetzt im Jahr 2023 sein. Das ist die gute Nachricht, und wir werden schon dafür sorgen, dass dieser fortan eben auch kontinuierlich weiterwächst. Und Deutschland hat enorme Ressourcen, um auch einen eigenen großen Fonds aufzubauen, der helfen kann, unsere Alterssicherung zu stabilisieren. Und die Bundesregierung wird vorschlagen im Bundestag, dass die Aktienrente anfangs ab dem Jahr 2023 aus drei verschiedenen Einnahmequellen finanziert werden kann aus Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt, aus Darlehen, die der Bundeshaushalt diesen Aktien vorgibt.
Und auch in den Beteiligungen, die der Bund schon hat. Aktienbeteiligungen, die der Bund schon hält, heute in die Aktien Rente überführt werden können und dann eben dort auch eingesetzt werden können für die Alterssicherung unserer Bürgerinnen und Bürger. Das werden die drei Möglichkeiten sein. Und beginnen werden wir mit 10 Milliarden Euro im nächsten Jahr. Aber das ist, wie gesagt, nur der Anfang.“

Und was ist mit den Arbeitnehmern?

Vollkommen ungeklärt ist, ob, wie und ab wann Betriebe, Arbeitnehmer oder andere wirtschaftlich aktive Personenkreise eigene Beiträge leisten sollen, wobei davon ausgegangen werden darf, dass es irgendwann einen echten, beitragsfinanzierten Aktienrenten-Fonds, ähnlich dem schwedischen oder britischen Modell, geben wird.
Bei den zehn Milliarden Euro darf es natürlich auch nicht bleiben. Schweden, mit seinen nur zehneinhalb Millionen Einwohnern, verwaltet in seinem Renten-Aktienfonds umgerechnet rund 85 Milliarden. Auf deutsche Verhältnisse übertragen entspräche das über 700 Milliarden.
Selbst wenn es tatsächlich in 2023 losginge, bleibt die Frage, was die Aktienrente überhaupt kurzfristig, mittelfristig und längerfristig bringt.
Rein rechnerisch könnte sie die chronische Unterfinanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung der nächsten 25 Jahre noch nicht einmal ansatzweise mildern, zumal der Aktienfonds dem Bund ja auch noch Zinsen für den Kapitalstock-Kredit bezahlen soll, und nur die laufenden Erträge des Fonds zur Stabilisierung der Rentenzahlungen verwendet werden sollen, und nicht das Kapital an sich.
Im Grunde handelt es sich um eine Art Zins-Bonitäts-Arbitrage: Der Bund kann sich aufgrund seiner hervorragenden Bonität vergleichsweise günstig Geld leihen, derzeit zu rund zwei Prozent, und hofft, dass die Aktieninvestments die historische Durchschnittsrendite des Aktienmarktes von knapp sieben Prozent pro Jahr erzielen werden. Sehr vereinfacht ausgedrückt, soll der rechnerische Überschuss von angenommen fünf Prozent auf das Kapital, das wären 500 Millionen plus etwas Zinseszins, dann ab Mitte der 30er-Jahre die Renten stützen. Wohl gemerkt: In 2022 beträgt die Summe aller gesetzlichen Altersrenten ca. 330 Milliarden Euro und der Bundeszuschuss dazu über 100 Milliarden Euro.

Keine Lösung für das Rentenproblem

Das Projekt „Aktienrente“, Stand November 2022, ist also eher eine politische Willenserklärung und ein Nebeltröpfchen auf einen glühend heißen Stein, als die Lösung der Rentenprobleme.
Selbst wenn die Bundesregierung jetzt das weltweit beste Aktienrenten-Modell aller Zeiten einführen würde, könnte es logischerweise erst in ein oder zwei Jahrzehnten zur Co-Finanzierung der Renten beitragen, wenn die Ansparphase abgeschlossen ist.
Als richtig ärgerlich könnte sich erweisen, dass Deutschland durch sein zögerndes Unterlassen die historisch besten Zeiten zur Bildung eines Kapitalstocks in Aktien zur Stützung der Sozialsysteme womöglich verpasst haben könnte.
Die internationalen Kapitalmärkte kannten nämlich seit 1990 im Grunde nur eine Richtung. Getrieben von stetig sinkenden Zinsen, fast ununterbrochenem Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand weltweit, hat sich der MSCI World-Index, der die Entwicklung der Aktienmärkte der 23 größten Industrieländer abbildet, zwischen 1990 und 2021 versechsfacht.
„Ich hätte lieber vor 20 Jahren damit angefangen. Wir hatten einen sehr starken Arbeitsmarkt, sehr starke Wirtschaft in den letzten Jahren bis zur Pandemie. Im Grunde war das Jahrzehnt ein Jahrzehnt der verpassten Chancen, wo Deutschland aus einer recht starken wirtschaftlichen Position heraus sehr viel hätte angehen können.“

Eine Finanzwette mit ungewissem Ausgang

Klimawandel, Dekarbonisierung, Energiekrise, die stark gestiegenen Staatsdefizite all das könnte dazu führen, dass sich Weltwirtschaft und Aktienmärkte künftig weniger gut entwickeln, als in den vergangenen Jahrzehnten. Was die stützende Wirkung eines staatlichen Aktien-Renten-Fonds natürlich schwächen würde.
Alle politischen Player, und neuerdings sogar die eigentlich unpolitische Bundesbank in einem ihrer letzten Monatsberichte, sorgen sich sehr und diskutieren angestrengt über den Einsatz der klassischen Stellschrauben: Rentenhöhe, Beitragssatz und besonders dem Renteneintrittsalter. Und, das darf vorausgesagt werden, es wird am Ende der Debatte an allen gedreht werden. Was wir aber mittelfristig brauchen, und jetzt damit beginnen müssen, ist eine Art neuer „Generationenvertrag“, der dieses Mal alle drei lebenden Generationen einbindet. Die Reformen werden nicht nur das Rentensystem im engen Sinne betreffen, sondern faktisch fast alle gesellschaftlichen Bereiche.
Höchst spannend wird auch zu beobachten sein, wie die Kapitalmärkte reagieren werden, wenn die gigantischen Summen, wir sprechen von zig Billionen Dollar, die über Jahrzehnte in Aktien-Fonds investiert worden sind, sukzessive liquidiert werden, damit die Rentner der reichen Industrienationen das darin gebundene Kapital verkonsumieren können. Wer wird diese Aktien kaufen?
Dieses einmalige Experiment am menschengemachten Kapitalmarkt läuft bereits, mit völlig ungewissem Ausgang. Immerhin gibt es bereits einen Fachbegriff für das Szenario, den „Asset-Melt-Down“ zu Deutsch das „Abschmelzen des Wertes von Kapitalanlagen“.
Ist die gesetzliche Krankenversicherung nicht auch umlagefinanziert?

Ton: Ralf Perz
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig
Es sprechen: Eva Meckbach, Rosario Bona, Heino Rindler, Ralf bei der Kellen und Birgit Dölling

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