Der gescheiterte Aufstand
Am 8. März 1917 zettelten Frauen im damaligen Petrograd eine Hungerrevolte an, was zu einem Streik der Arbeiter führte und in eine Revolution mündete. Doch die Revolution scheiterte an den übergroßen Aufgaben – und letztlich durch den Putsch der Bolschewiki im Oktober.
Andreas Buron: Wir wollen heute an eine Revolution erinnern, an eine Revolution in Russland. Normalerweise denken wir dabei an die Oktoberrevolution, mein Kollege Winfried Sträter, Historiker hier im Deutschlandradio Kultur, sagt: Das stimmt nicht. Warum?
Winfried Sträter: Weil die Oktoberrevolution zwar im historischen Gedächtnis ist, die Oktoberrevolution hat mit ihren ganzen Folgen ja das 20. Jahrhundert bestimmt; aber es war nicht wirklich die Revolution in Russland.
Russland litt zu Anfang des 20. Jahrhunderts schon seit langer Zeit, und da besonders darunter, dass es ein sehr obrigkeitlicher Staat war, viel obrigkeitlicher, viel autoritärer als die Staaten in Europa. Und Russland hatte in gewisser Weise zu Beginn des 20. Jahrhunderts die große Aufgabe vor sich, parlamentarische, freiheitliche, demokratische Verhältnisse zu schaffen, wie sie sich in Europa entwickeln.
Und da gab es ja schon 1905 die erste Revolution, die dann letztendlich gescheitert ist. Immerhin gab es ein Parlament, die Duma, das ist aber letztendlich nicht mächtig gewesen und hatte keine Gestaltungskraft.
Und die Februarrevolution in Russland 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, war der zweite große Versuch, eine freiheitliche, parlamentarisch regierte, demokratische russische Staatsform und Gesellschaft hervorzubringen. Das war der wirkliche revolutionäre Prozess in Russland.
"Der 8. März 1917 ist ein Aufstand der Frauen gewesen"
Buron: Heute vor 100 Jahren, am 8. März 1917 – was genau passierte an diesem Tag?
Sträter: Der 8. März 1917 ist in gewisser Weise ein Aufstand der Frauen gewesen. Der 8. März ist ja der Weltfrauentag, nicht von ungefähr, war an diesem Tag ein Aufstand passiert in einem Stadtteil von Leningrad, wo Arbeiterfrauen eine Art Hungerrevolte anzettelten. Und aus dieser Hungerrevolte heraus ist ein revolutionärer Prozess in Gang gekommen, sodass wenige Tage später der Zar zum Abdanken gezwungen wurde und sich eine Revolutionsregierung gebildet hat, sodass tatsächlich Russland dann nicht mehr das zaristische System war, sondern eine Revolutions-, Übergangszeit angefangen hatte, die münden sollte in eine andere Staatsform.
Buron: Jetzt heißt es immer "Februarrevolution", der Jahrestag ist aber der 8. März. Wie erklärt sich das?
Sträter: Das hat etwas mit dem julianischen Kalender, der damals in Russland noch galt, zu tun. Nach dem julianischen Kalender war der 8. März des gregorianischen Kalenders der 23. Februar. Und in Russland war es in dem Sinne die Februarrevolution, so wie später die Oktoberrevolution Oktoberrevolution war, obwohl es in unserem Kalender schon der November war.
Buron: Oktoberrevolution, gutes Stichwort: Wie hängen die beiden Revolutionen oder Ereignisse miteinander zusammen, oder wie mündete die Oktoberrevolution aus der Februarrevolution heraus?
Die Revolutionäre waren überfordert von der Aufgabe
Sträter: Man muss sagen, dass die Aufgaben, vor denen die Februarrevolutionäre standen, übermächtig groß gewesen waren. Es war eine desolate Ernährungslage und Versorgungslage in Russland, der Krieg war im dritten Jahr und die Leute litten unendlich unter dem Krieg.
Und die Bauern erwarteten seit Jahrzehnten, dass endlich eine Landreform in Gang kam, dass sie Landbesitz bekamen. Weil: In Russland war zwar die Leibeigenschaft offiziell abgeschafft, aber die Verhältnisse auf dem Lande waren noch himmelschreiend ungerecht. Und deswegen versuchten die Revolutionäre 1905 und sollten die Revolutionäre 1917 versuchen, eben durch eine Landreform neue Verhältnisse und gerechtere Verhältnisse zu erreichen.
Und diese übermächtigen Veränderungen musste eine Regierung zustande bringen, die sehr disparat gewesen ist. Da waren Liberale, da waren Sozialrevolutionäre, da waren gemäßigte Sozialdemokraten drin, die nicht unbedingt alle an einem Strang zogen. Und letztendlich waren sie überfordert von der Aufgabe.
Sie haben es nicht geschafft, den Krieg zu beenden, sondern im Gegenteil sich in eine Offensive gestürzt, die gescheitert ist. Sie haben es nicht geschafft, die Landreform schon mal auf den Weg zu bringen, sondern haben sich auf das tatsächlich zentrale Ziel orientiert, sie wollten eine konstituierende Nationalversammlung bilden, die dann eine neue Staatsform gründete.
Revolutionsregierung verlor Rückhalt
Und dieser Prozess zog sich so sehr im Jahr 1917 in die Länge und stand so sehr im Widerspruch zu den unmittelbaren Leiden und Notwendigkeiten der russischen Bevölkerung, dass der Vertrauensverlust im Laufe des Sommers 1917 so groß war, dass im Grunde die Revolutionsregierung den Rückhalt verlor.
Und dann kam der Faktor Lenin. Lenin ist ja mithilfe der Deutschen, der deutschen Militärs nach Russland eingeschleust worden, und Lenin hatte die bis dahin relativ bedeutungslosen Bolschewiki angetrieben, dass sie jetzt frontal gegen die Revolution, die Februarrevolution losgingen.
Und das führte dann letztendlich dazu, dass die Bolschewiki gegen die Revolutionäre putschten, bevor es zu einer konstituierenden Nationalversammlung kam, und die Übergangszeit der Revolution letztendlich in eine ordentliche neue Regierung mündete.
Und dieser Putsch ist ein autoritärer Putsch gewesen, wo eine neue autoritäre Revolution in Gang gesetzt wurde und eine neue autoritäre Staatsform in Gang gesetzt wurde. Das hatte dann nichts mehr mit dem Aufblühen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit gewissermaßen in Russland zu tun. Deswegen ist die Oktoberrevolution der Punkt, an dem die wirkliche Revolution in Russland abgebrochen wurde.
Februarrevolution durch Bolschewiki "gekillt"
Buron: Quasi gescheitert.
Sträter: Dadurch ist sie gescheitert. Sie war stark ins Schlingern geraten und ist durch den Putsch der Oktoberrevolutionäre, angetrieben von Lenin und Trotzki, letztendlich dann halt eben gekillt worden, muss man wirklich so sagen.
Buron: Deutschlandradio Kultur sendet am 8. März einen kompletten Thementag zur Februarrevolution. Was genau können wir da erwarten, was empfehlen Sie, Hörtipps?
Warum tut sich Russland schwer mit Demokratisierung?
Sträter: Einen ganzen Tag beschäftigen wir uns nicht ausschließlich mit der Februarrevolution als Ereignis, sondern mit der Frage, die sich daran anschließt: Was bedeutete dieses Scheitern damals, und das, was daraus folgte, eben die bolschewistische Herrschaft, was bedeutete das für das große Thema Russlands im 20. Jahrhundert, jetzt auch fürs 21. Jahrhundert? Der Versuch, eine demokratische Gesellschaft in Russland durchzusetzen…
Wir haben das ja in den späten 80er-Jahren und den frühen 90er-Jahren wieder erlebt, dass Russland versucht, sich zu demokratisieren, und dann kommt die Gegenbewegung und der autoritäre Staat ist wieder viel stärker als die Versuche, Russland zu demokratisieren.
Und das ist eigentlich das Thema, das sich durch den Tag in mehreren Gesprächen durchzieht: Warum tut sich Russland so schwer mit einer Demokratisierung, wie wir sie kennen und wie sie in Russland vor genau 100 Jahren angestrebt worden ist?
Und in den "Zeitfragen", im Feature um 19:30 Uhr, werden wir noch einmal den Verlauf der Februarrevolution, die großen Hoffnungen, die damit verbunden waren, und das tragische Scheitern der Februarrevolution im Verlauf des Jahres 1917 noch mal genau nachzeichnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Themenportal 8. März 1917