Massenmord legitimiert, Opfer diffamiert
Die Diskriminierung der Sinti und Roma ging auch nach 1945 weiter. Erst 1982 wurde der Völkermord, den die Nationalsozialisten an ihnen begangen, als rassistisch von der Bundesregierung anerkannt. Entschädigungszahlungen wurden jedoch meist verweigert. Im Gespräch erläutert Silvio Peritore, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, die Gründe dafür.
Liane von Billerbeck: Der 16. Mai ist in der Erinnerung der Sinti und Roma ein besonderer Tag: Am 16. Mai 1944 sollte das sogenannte Zigeunerlager im KZ Auschwitz liquidiert werden, wie es in der NS-Sprache hieß. Doch dazu kam es nicht, denn die verzweifelten Menschen, die bis dahin der Vergasung entgangen waren, wehrten sich gegen ihre Vernichtung. Warum es so lange gedauert hat, bis die deutsche Öffentlichkeit nicht nur diesen Aufstand gegen eine übermächtige Mordmaschinerie, sondern die gesamte Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma wahrgenommen hat, das soll jetzt mein Thema sein im Gespräch mit Silvio Peritore. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und leitet auch dort das Dokumentationsarchiv. Einen schönen guten Tag!
Silvio Peritore: Guten Tag, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Nehmen Sie uns mit zurück in diese Zeit vor 70 Jahren. Wie kam es zu diesem Widerstand in Auschwitz, der doch noch so weitgehend unbekannt ist?
Peritore: Es war so, dass Sinti und Roma, die zuvor Wehrmachtsangehörige waren – Offiziere, Unteroffiziere, die im Staatsdienst tätig waren –, die sich eben gewehrt haben gegen die systematische Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Diese etwa 6000 Menschen, die im Mai 1944 noch im sogenannten, von der SS so bezeichneten Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau waren, die hatten ein jahrelanges Martyrium hinter sich.
Bereits im Jahr 1936 nach Erlass der Nürnberger Rassegesetze, die gegen die Juden erlassen wurden, wurden auch Sinti und Roma in Deutschland den Juden gleichgestellt. Das führte zur Erfassung, Entrechtung, Ausgrenzung der Sinti und Roma. Sie wurden schließlich deportiert, ab Mai '40 in verschiedene Lager im besetzten Polen, ab '43 auf Befehl Heinrich Himmlers, Reichsführer SS, schließlich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im März '43 kamen Sinti und Roma an. Es gab zuvor zwei größere Vergasungsaktionen, Menschen wurden mit Zwangsarbeit, mit medizinischen Experimenten missbraucht, qualvoll ermordet. Im Mai 1944 wollte schließlich die SS das Lager auflösen. Sinti und Roma haben davon erfahren, haben sich bewaffnet – mit Werkzeugen, mit Steinen, mit Brettern – und wollten so der geplanten Vernichtungsaktion entgehen.
Die SS muss verblüfft gewesen sein, dass sich Menschen wehren gegen ihre planmäßige Vernichtung, und sie ist dann wieder unverrichteter Dinge abgezogen. Schließlich wurde am 2. August 44 das Lager endgültig auf Befehl Himmlers aufgelöst. Es lebten noch etwa 6.000 Menschen, wovon schließlich 3.000 selektiert wurden und in andere Lager ins Deutsche Reich zurückkehrten zu Zwangsarbeit, und viele starben schließlich auch nach dem 8. Mai 45 noch an den Folgen des Holocaust.
von Billerbeck: Warum hat eigentlich die deutsche Öffentlichkeit nach dem Krieg von dieser aussichtslos verzweifelten Tat und auch von der Vernichtung der Sinti und Roma so lange nichts wahrgenommen?
Nach dem Krieg gab es kein Interesse an historischer Aufarbeitung
Peritore: Es lag schließlich daran, dass sowohl vonseiten der Politik als auch vonseiten der Wissenschaft kein Interesse daran besteht, auch diesen Holocaust in seinen Ursachen und seinen Folgen aufzuarbeiten, historisch aufzuarbeiten, und den Opfern eine moralische und politische Anerkennung zuteil werden zu lassen. Und erst mit Beginn der Bürgerrechtsarbeit der deutschen Sinti und Roma Mitte der 70er-Jahre und dann mit Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma 1982 bestand ein stärkeres öffentliches Bewusstsein.
von Billerbeck: Das heißt, Sie haben sich dieses Bewusstsein selbst erkämpft, aber da interessiert mich doch zuvor noch: Wurden denn die Verantwortlichen für diese systematischen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, gab es im Nachkriegsdeutschland quasi einen Bruch im Umgang mit den Sinti und Roma?
Peritore: Insofern stellt der Holocaust einen Bruch dar oder, wie man auch immer wieder hört, einen Zivilisationsbruch, aber es gab natürlich personelle und damit auch ideologische Kontinuitäten in Deutschland nach 1945, weil die meisten Täter noch in Amt und Würden saßen. Und mangels einer politischen Vertretung, einer politischen Lobby der wenigen überlebenden deutschen Sinti und Roma war es eben so schwierig, gegen dieses fortgesetzte Unrecht den demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland anzugehen. Und erst die eigene Bürgerrechtsbewegung hat schließlich ein Umdenken bewirkt.
von Billerbeck: Als ich mich vorbereitet habe auf dieses Gespräch, da ist mir aufgefallen, dass es bis in die sprachliche Kontinuität ging, also man hat die NS-Zigeunerakten übernommen und hat besprochen, dass dieses Material kriminalpräventiv sei und der Sicherheit diene und der Konzentrierung der Landfahrer, alles in Anführungsstrichen. Was sagt das über die Wahrnehmung der Sinti und Roma und den Umgang damit in der Nachkriegsbundesrepublik?
Seit 600 Jahren Bestandteil der deutschen Gesellschaft
Peritore: Ich meine, diese Schutzbehauptung der Behörden damals galt natürlich dem Ziel, den Mord, den Massenmord, zu legitimieren und die Opfer zu diffamieren, quasi zu behaupten, Sinti und Roma seien selbst Schuld an ihrem Schicksal. Und diese Verharmlosung eines systematischen Genozids ist natürlich insoweit erschreckend, als es eines deutlich macht - nämlich diese ganze Wahrnehmung, diese Geringschätzung einer ganzen Minderheit, die aber nicht nur Minderheit ist, sondern seit 600 Jahren Bestandteil der deutschen Gesellschaft und Bürger dieses Landes, Teil der Geschichte ist.
Und man hat natürlich damals versucht, die eigenen Verbrechen damit zu rechtfertigen und auch vieles zu vertuschen und hat ja auch nach dem Kriege dann systematisch anhand dieser NS-Rasseakten Sinti und Roma sondererfasst, ja, das muss man sich vorstellen. Also es war damals natürlich auch schon verfassungswidrig, und trotzdem hatten viele der NS-Täter, die später in Amt und Würden waren – im Bundeskriminalamt, bei den Landeskriminalämtern, in der Ministerialbürokratie, bei der Polizei –, die hatten dann Rasseakten herangezogen, um Sinti und Roma wiederum zu stigmatisieren und zu schikanieren.
Es war ja dann auch quasi 1980 von der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma mit Romani Rose und Überlebenden des Holocaust eine Initialzündung, als an Ostern 1980 ein Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau stattfand, von dem weltweit berichtet wurde, wo eben die Sinti und Roma gefordert haben, endlich diese Sondererfassung zu unterlassen, weil sie rechtsstaatswidrig ist, weil sie den Menschen quasi diffamiert, diskriminiert. Und es gab natürlich damals schon eine erste große öffentliche Aufmerksamkeit und natürlich auch die Zusage der Politik, es nicht mehr zu tun.
Die Rasseakten wurden dann später dem Bundesarchiv überstellt, wo sie ja auch hingehören, aber es war trotzdem so, dass lange Jahre in den Polizeicomputern immer wieder Sinti und Roma mit ganz unterschiedlichen Synonymen erfasst wurden. Sie sprachen vorhin vom Begriff Landfahrer, also Zigeuner ist ebenso ein Fremdbegriff wie natürlich Landfahrer, die Eigenbezeichnung ist Sinti und Roma. Und immer wieder wurden neue Kürzel herangezogen, um dann Sinti und Roma einer Sondererfassung zu unterziehen.
Und immer noch der diffamierende Sprachgebrauch
von Billerbeck: Erst 1982 hat dann die Bundesregierung von einem Völkermord aus rassistischen Motiven gesprochen, und es dauerte dann noch weitere 30 Jahre, bis in der Nähe des Bundestages ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gab, erkämpft von Ihrer Bürgerrechtsbewegung. Und es gibt auch in Auschwitz eine Dokumentation über den Völkermord an den Sinti und Roma, in der es auch einen eigenen Abschnitt eben über diesen Widerstand vom 16. Mai 1944 gibt. Das ist alles wichtig und gut und ein Erfolg Ihrer Bürgerrechtsbewegung, andererseits erleben wir aber gerade derzeit im Europawahlkampf, da hängen dann wieder NPD-Plakate mit Losungen wie "Geld für Oma, nicht für Sinti und Roma". Wie lesen Sie solche Losungen?
Peritore: Sie sprechen eine Ambivalenz an, die in der Tat nur schwer begreiflich ist, vor allem für die Betroffenen selbst, sowohl die Holocaust-Überlebenden als auch die nachfolgenden Generationen. Wie kann es sein, dass nach einer Anerkennung des Völkermordes – mit Ausstellungen, mit Denkmälern, pädagogischen Veranstaltungen – immer wieder heute diametral entgegengesetzt Menschen weiterhin diffamiert werden mit einem ähnlichen Sprachgebrauch.
Im letzten Jahr vor dem Bundestagswahlkampf gab es diese NPD-Wahlplakate, jetzt zur Europawahl wieder, natürlich unter dem Deckmantel des Parteienschutzes und der Meinungsfreiheit. Der Staat oder die Justiz wertet diese Form der Menschenverachtung nicht als Volksverhetzung und schmettert regelmäßig Klagen ab von Bürgern, von betroffenen Menschen auch, von Sinti und Roma, die sich das nicht gefallen lassen wollen. Die eine Seite ist die historische Auseinandersetzung in Form von Denkmälern – die sind wichtig, die sind unverzichtbar –, aber andererseits eben dieser Widerspruch, der es populistischen Parteien, rechtsextremistischen Parteien quasi ermöglicht, ihre Propaganda gezielt gegen Minderheiten, vor allem gegen die Sinti und Roma zu verbreiten, sie quasi als Sündenböcke für vermeintliche oder echte Missstände dann verantwortlich zu machen. Und das ist sehr erschreckend.
von Billerbeck: Silvio Peritore sagt das, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, 70 Jahre nach dem Aufstand von Sinti und Roma im Vernichtungslager Auschwitz. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Peritore: Ich danke Ihnen auch, Frau von Billerbeck!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.