Corona und andere Krisen

Nur durch Einsicht lernen wir

Hände waschen mit einem Stück Seife und viel Schaum.
Der Vorkämpfer für Hygienevorschriften Ignaz Semmelweis arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Wiener Geburtsklinik. © Getty Images / MirageC
Ein Standpunkt von Franca Parianen |
Aus Fehlern lernt man, aber nur wenn man diese auch einsieht. Wie schmerzhaft dieser Prozess ist, gerade wenn die Fehler tödliche Folgen hatten, macht die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen an einem Beispiel aus der Medizingeschichte deutlich.
„Wir werden uns nach der Pandemie viel verzeihen müssen“, hat Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sinngemäß mal gesagt und damit viel Spott ausgelöst, weil das „uns“ doch eher nach einem „mir“ klang. Und überhaupt setzt Verzeihen ja eine gewisse Einsicht voraus. Etwas, womit sich nicht nur Politiker schwertun.
Niemand weiß das besser als der erste Arzt, der versucht hat, uns vom Händewaschen zu überzeugen. Ignaz Semmelweis arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Wiener Geburtsklinik. Zu dieser Zeit stirbt dort mehr als jede zehnte Schwangere während oder nach der Geburt.

Historisches Lehrstück der Müttersterblichkeit

Das Kindbettfieber wütet schier unaufhaltsam und viele haben sich mehr oder weniger mit der hohen Müttersterblichkeit abgefunden. Dämpfe, Witterung, Gottes Wille… Die Ursache lag offenbar nicht in ihrer Hand.
Aber Semmelweis weiß, dass es anders geht: Im Hebammenflügel sterben nur zwei Frauen von 100. Genauso bei denen, die es nicht in die Klinik schaffen. Der beste Weg, eine Geburt zu überleben, ist Ärzte zu meiden. Warum?
Semmelweis sucht fieberhaft nach Ursachen, obduziert Leichen, untersucht Patientinnen und findet keine Antwort. Als er eine Zeit lang nicht in der Klinik ist, geht die Müttersterblichkeit runter! Warum, versteht er erst durch einen Obduktionsunfall: Als ein Student einen Kollegen mit einem Skalpell verletzt, stirbt der kurze Zeit später.

Eine Erkenntnis mit hohem Preis

Semmelweis kennt keine Bakterien, aber er versteht plötzlich, dass vom Leichengewebe eine klebrige Gefahr ausgeht. Und damit auch von den eigenen Händen. Von da an befiehlt er den Ärzten, sie mit Chlorkalk zu waschen, bevor sie vom Leichensaal zur Geburt eilen. Die Müttersterblichkeit sinkt prompt auf 1,8 Prozent.

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Aber die Erkenntnis hat einen hohen Preis. Die Einsicht der eigenen Fehler – und ihrer tödlichen Folgen. Semmelweis kommt nie darüber hinweg. Ein Kollege, der das Experiment erfolgreich wiederholt, bringt sich um. Viele andere bekämpfen Semmelweis: Seine Theorien seien zu schwammig, das Ganze nur spekulativer Unfug. Denunziation. Außerdem wirkt Semmelweis bei seinen Überzeugungsversuchen immer aufgebrachter! Am Ende stirbt er in der Nervenheilanstalt unter ungeklärten Umständen – mutmaßlich ausgerechnet an einer entzündeten Wunde.
Später nennt man ihn „Retter der Mütter“ und die Abwehr unbequemer Wahrheiten „Semmelweis-Reflex“. Bis heute verdanken Millionen von uns ihr Leben seiner Bereitschaft zur Einsicht – koste es, was es wolle.

Schmerzhafte Einsichten der Pandemie

Auch in der Pandemie mussten wir viel Schmerzhaftes einsehen. Wir hatten gehofft, dass Omikron mild ist. Dass Kinder nicht krank werden und Impfungen alles lösen. So konnten wir Gratistests und Masken abschaffen, genauso wie Kinderkrankenbetten und Rücksichtnahme.
Aber es ist nicht vorbei. Zu Corona gesellen sich nun RSV und Influenza. Und Krankheitserreger lassen sich heute genauso wenig ignorieren wie im 19. Jahrhundert. Millionen Deutsche sind gerade atemwegskrank. Arbeit stockt, Fiebersaft fehlt und die Kinderkliniken schreien um Hilfe.
Es wäre Zeit, Krankheitswellen zu brechen mit Impfungen und Tests, Homeoffice, Händewaschen und Masken. Das, was gerade zu helfen scheint in Japan und Südkorea. Schulen brauchen Luftfilter und Kliniken Hilfe bei Geld, Personal und Medikamenten. RKI-Präsident Lothar Wieler empfiehlt alles, was die Infektionslast senkt, und man fragt sich, was noch alles passieren muss, damit wir den Holzweg im „weiter so“ einsehen.

Infektionsschutz in den Alltag integrieren

Von Kindbett über Corona bis auch Klima – statt mit unseren Fehlern, setzen wir uns immer lieber mit denen auseinander, die uns darauf hinweisen. Aber jetzt, wo wir zum dritten Mal in ein Jahr starten, von dem uns schwant, dass es nicht gut wird, könnten wir unsere Herangehensweise ja auch endlich ändern.
Einsehen, dass „mit dem Virus leben“ nicht „ignorieren“ heißt, sondern Infektionsschutz in den Alltag einarbeiten. Allein schon, weil daraus Dynamik entsteht: Die Probleme liegen eben nicht außer unserer Hand. Wir können sie angehen. Jetzt.

Franca Parianen, Jahrgang 1989, ist Neurowissenschaftlerin, Autorin und bringt als Science-Slammerin Wissenschaftsthemen auf die Bühnen von Theatern, Kneipen und Kongressen. Ihre Forschung, unter anderem am Max-Planck-Institut, dreht sich um das menschliche Zusammenleben auf der Ebene von Hirn und Hormonen.

Zuletzt erschienen von ihr im Rowohlt Verlag „Hormongesteuert ist immerhin selbstbestimmt“ (2020) und „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage“ (2017). In ihrem aktuellen Buch „Teilen und Haben“ geht es um Fairness und Verteilungsgerechtigkeit in der Krise.

Neurowissenschaftlerin Franca Parianen
© Illing & Vossbeck Fotografie / Anke Illing
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