Konstantin Sakkas, geboren 1982, studierte Philosophie und Geschichte. Er arbeitet als Publizist und Literaturkritiker in Berlin.
Steht zu Eurer Bürgerlichkeit!
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Keiner will heute bürgerlich sein. Die Linken sowieso nicht. Die Rechten inszenieren sich lieber als vermeintliche Stimme des Volkes. Dabei ist vor allem das gebildete Bürgertum Motor für gesellschaftliche Modernisierung, meint Publizist Konstantin Sakkas.
Das Wort "bürgerlich" hat heute in etwa einen Klang wie das Wort "Toilettenbürste". Niemand möchte bürgerlich sein, am wenigsten die, die es sind. Aber damit ist niemandem geholfen.
Im aktuellen Wahlkampf erleben wir gerade eine zweifache Verleugnung von Bürgerlichkeit. Vertreter konservativer, sich selbst als bürgerlich verstehender Medien inszenieren sich als Sachwalter und Wortführer der einfachen, nicht-bürgerlichen Bevölkerung, die von neumodischem Kram wie Gendersternen, Klimarettung oder europäischer Solidarität nichts wissen wolle.
Das Feindbild dieses trumpistischen Narrativs ist das linksliberale intellektuelle Bürgertum. Dieses linksliberale Bürgertum wiederum verleugnet seine eigene Bürgerlichkeit: entweder indem es eine Nähe zur nicht-akademischen Klasse behauptet, die natürlich genauso künstlich ist wie die Volksnähe der Konservativen; oder indem es privilegienkritisch dazu aufruft, die eigene Bürgerlichkeit gleich komplett über Bord zu werfen.
Träger und Treiber von gesellschaftlicher Modernisierung
Doch was ist heute überhaupt bürgerlich? Bildungsbürgerlich ist die kreative Klasse. Also Menschen, die nicht nur einen Hochschulabschluss haben, sondern die an Hochschulen und Forschungsinstitutionen oder in den Medien arbeiten. Auf einen sehr großen Teil dieser Gruppe treffen klassische Definitionen von Bürgerlichkeit zu.
Dieses gebildete, intellektuelle Bürgertum ist wesentlicher Träger und Treiber von gesellschaftlicher Modernisierung. Es steht und stand fast immer in oder links der Mitte. Es sollte sich seine Bürgerlichkeit, die natürlich auch eine wirtschaftliche Dimension hat, nicht ausreden lassen noch sie schamhaft verleugnen, sondern sich offensiv zu ihr bekennen.
Bürgerlichkeit ist kein Bonzentum
Die fürs Klima streikenden Jugendlichen seien verwöhnte Bürgerskinder, heißt es. Natürlich sind sie das! Um politisch und intellektuell aktiv zu werden, bedarf es oftmals einer gewissen Herkunft. Bürgerliche in Rundfunk, Presse und Universitäten seien arrogant und wollten die Gesellschaft "umerziehen". Natürlich wollen sie das. Niemand schlägt eine Karriere in Wissenschaft oder Medien ein, der nicht auch die Bildung und die Moral der Allgemeinheit verbessern will.
Sozialer und habitueller Fortschritt ging fast immer von der gebildeten Klasse aus. Diese Klasse ist weder "hochnäsig" noch "weltfremd"; sie macht einfach ihren Job.
Gebildete Bürgerlichkeit ist kein Bonzentum. Gebildete Bürgerlichkeit bedeutet, am Mittagstisch gelernt zu haben, dass man Fremde nicht ausgrenzt; dass man Obdachlosen Geld gibt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Das setzt nicht immer, aber oft ein kultiviertes, musisches und literarisches Umfeld voraus. Ja, unsere Bildung, unser Habitus sind Distinktive. Aber es gibt keinen Grund, sich ihrer zu schämen.
Denn gerade weil wir bildungsbürgerlich habitualisiert sind, kämpfen wir heute für den Fortschritt und das Gute. Unser Projekt ist in gewisser Weise mit Lessing die "Erziehung des Menschengeschlechts": das ist nicht antipluralistisch, das ist aufklärerisch.
Sich nicht populistischen Narrativen anbiedern
Wer dagegen in Manier der amerikanischen Republikaner oder mancher deutscher Konservativer "dem Volk aufs Maul schauen" will, hat in den seltensten Fällen gute Absichten. Das linksliberale Bürgertum aber sollte nicht in die Falle tappen und sich durch überzogene Kritik der eigenen Bürgerlichkeit populistischen Narrativen anbiedern. Das wäre unehrlich und hätte ohnehin keinen Erfolg.
Seien wir also stolz auf unsere Bürgerlichkeit, anstatt sie schamhaft zu verleugnen.