Feindseligkeit und Abstiegsängste
Warum zieht gerade die Mittelschicht so aggressiv über die neuen Armen her? Das fragt Kathrin Hartmann in "Wir müssen leider draußen bleiben". Ganz einfach: Die verängstigte Mittelschicht fürchte um das Leistungsprinzip und trete nach unten, antwortet Kathrin Fischer in "Generation Laminat".
Ein Abend im Restaurant. Es gibt gutes Essen und Wein. Man genießt das Leben. Am Tisch sitzen vor allem Journalisten. Da touchiert das Gespräch die, die weniger haben. Die Armen im Land.
Einer sagt: "Hartz-IV-Empfänger gehen doch bloß zur Tafel, damit sie sich das neueste Iphone leisten können."
Ein anderer: "Außerdem sind die immer super angezogen."
Ein Dritter: "Und seit die die Heizkosten bezahlt kriegen, heizen die wie verrückt."
Die Journalistin Kathrin Hartmann sitzt mit am Tisch. 1972 geboren, erst Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau, dann bei der Jugendzeitschrift NEON, ist sie Teil dieses Journalistenkreises. Aber je mehr die Kollegen reden, desto verstörter reagiert Hartmann:
Jeder am Tisch hat einen guten Job, aus dem er Befriedigung und Anerkennung zieht, manche verdienen sogar überdurchschnittlich. Alle haben studiert, sind politisch und kulturell interessiert und lesen mindestens eine überregionale Tageszeitung. Manche von ihnen waren früher vielleicht sogar mal links (und sagen heute, dass sie "realistisch" geworden sind). Man sollte annehmen, dass es einen Konsens gibt über wesentliche ethische Fragen. Hätte jemand einen ähnlich diskriminierenden Satz über eine andere Bevölkerungsgruppe gesagt – etwa: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" oder "Schwarze sind doch alle Drogendealer" – den Beteiligten wären die Garnelen im Hals stecken geblieben.
Auf den ersten Seiten ihres Buches "Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft" schildert Hartmann mehrere Szenen wie diese. Sie ist zu Gast bei der Mittelschicht – bei Lehrern, bei Pressesprechern, bei Journalistenkollegen – und notiert deren gesammelte Vorurteile gegen "die da unten".
Dass diese Beobachtungen mehr sind als Einzelerlebnisse, bestätigt ihr der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. In der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" hat er über zehn Jahre die Urteile der Deutschen erforscht. Sein Ergebnis: Langzeitarbeitslose seien ein stabiles Feinbild:
Das verstörende Ergebnis der Studie: Besserverdienende werten Langzeitarbeitslose sogar noch stärker ab, als dies Angehörige unterer Einkommensschichten tun. Weshalb schlägt ausgerechnet den Schwächsten die größtmögliche Feindseligkeit entgegen?
Dies ist der Kernfrage, die Hartmann auf den ersten Seiten ihres Textes schlüssig entwickelt. Warum verdienen die neuen Armen nicht einmal unser Mitleid? Warum zieht gerade die Mittelschicht über sie her?
Es sind richtige Fragen, die Hartmann stellt. Allein – eine Antwort sucht der Leser vergeblich. Auf 412 Seiten erzählt Hartmann von ihren Recherchen bei den neuen Armen. Sie reist in Stadtviertel, in denen die Reichen die Armen vertreiben, sie beschreibt, wie Leiharbeit und Ein-Euro-Jobs den Arbeitsmarkt verändern, sie analysiert den Kampf um die Bildung. Der Großteil dieser Passagen allerdings ist aus gut recherchierten Sekundärquellen gespeist – Artikel, Bücher, Fernsehdokumentationen. Eine Zusammenfassung, die fundiert ist, der es aber an Struktur fehlt. Und was das Lesen so zäh macht: Man vermisst das echte Leben.
Eigene Beobachtungen liefert Hartmann vor allem dann, wenn es um die Tafeln geht, jene Organisationen, die Lebensmittel kostenlos oder zum symbolischen Preis verteilen. Hier spielt einer der beiden großen Reportagestränge des Buches:
Die Bilder der Warteschlagen vor Essensausgaben sind zum Symbol geworden für eine Wohlstandsgesellschaft, die es sich leistet, einer zunehmenden Anzahl Bedürftiger allenfalls ihre Brosamen zukommen zu lassen, ihnen aber echte Teilnahme verweigert.
Es ehrt Kathrin Hartmann, dass sie schwierige Gegner nicht scheut. Die Tafeln sind Lieblinge der Charity-Gesellschaft. Es ist richtig, wenn Hartmann kritisiert, dass die Armen dort nur Almosen bekommen und dass Bittsteller keine Rechte haben. Allerdings wird in den Reportageteilen das, was an anderer Stelle nur störend ist, zum echten Problem.
Viel zu oft und viel zu schnell verlässt Hartmann die Rolle der Reporterin – und bedient sich der Mittel, die sie der Gegenseite vorwirft. Sie urteilt schnell und pauschal. In den Augen vieler Mittelschichtsangehöriger mögen Arme bequem und vom Staat verwöhnt sein, bei Kathrin Hartmann sind sie stets Engel.
Hartmann gibt sich große Mühe, alle Unterschichts-Klischees zu widerlegen. Aber sie verpasst die Chance, Arme als ganz normale Menschen zu portraitieren. Menschen mit Schwächen und Fehlern. Und so bleibt der Leser mit der Frage, für die Hartmann sein ganzes Interesse geweckt hat, auch nach über 400 Seiten allein. Warum eigentlich hackt die Mittelschicht dermaßen auf den Armen herum?
Eine Antwort liefert eine andere Neuerscheinung. Ein stilles, ein zurückhaltendes, aber ein schlüssiges Buch. "Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg" nennt die gelernte Journalistin Kathrin Fischer ihr Portrait der Mittelschicht um die 40:
Ich bin in relativem Wohlstand aufgewachsen, ohne es zu merken. Ich bin in relativer Sicherheit aufgewachsen, ohne diese zu bemerken. Und ich bin in relativer sozialer Durchlässigkeit aufgewachsen, ohne sie zu bemerken.
So beschreibt Fischer ihre Kindheit in der alten Bundesrepublik. Aber seit sie und ihre Freunde spürten, wie Wohlstand, Sicherheit und soziale Durchlässigkeit schwinden, interessiert sich Fischer plötzlich dafür, wie das, was sie seit ihrer Kindheit für selbstverständlich hielt, erkämpft und wieder verloren wurde:
Man bemerkt Dinge eben erst in der Differenz - wer redet schon davon, dass Luft durchsichtig ist? Erst beim Smog-Alarm wird diese Tatsache erwähnenswert.
Wofür haben wir eigentlich noch Zeit? An erster Stelle steht die Arbeit, dann kommen – schon ziemlich abgeschlagen – Kinder und Partner. Kaum einer von uns macht noch etwas nur für sich. Geschweige denn für andere. Alle leiden wir unter Zeitknappheit.
"Generation Laminat" ist ein Sachbuch, das vom Abstieg erzählt. Fischer beschreibt, wie es ihren Freunden und ihr immer schwerer gefallen sei, von ihren Einkommen ein gutes Leben zu bezahlen. Wie der eine Freund arbeitslos wurde. Wie der andere sich entschied, monatliche Überweisungen der alten Eltern zu akzeptieren. Und sie erzählt, wie schwer es ihnen fällt, dies alles einzugestehen. Denn gerade sie, die Nachkommen der Mittelschicht, hätten über Jahre gelernt, dass es jeder schaffen kann, wenn er sich nur genug anstrengt:
In dieser Logik ist es leicht, andere moralische Maßstäbe an die Gruppe der Verlierer anzulegen. Sie als Menschen zweiter Klasse zu betrachten. Soziale Verlierer müssen verdientermaßen Verlierer sein, damit sie nicht das Leistungsprinzip bedrohen, an das wir Mittelschichtsangehörige mehr glauben als jede andere Schicht. Sie müssen schlicht per Kategorisierung andere Menschen sein, damit wir ihr Schicksal von uns fernhalten können, damit ihre Armut uns nicht wie eine mögliche eigene Zukunft erscheint.
Da ist sie also. Die mögliche Erklärung für die Szenen an Journalistentischen und in Lehrerwohnungen. Eine verängstigte Mittelschicht tritt nach unten. Aus Angst, selbst dort zu landen. Kathrin Fischer hat ein ruhiges, ein genaues Buch geschrieben. Es lohnt, den missglückten Titel "Generation Laminat" zu übersehen und den gelungenen Text, der sich dahinter verbirgt, zu lesen.
Rezensiert von Julia Friedrichs
Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft
Karl Blessing Verlag, München 2012
Kathrin Fischer: Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg
Knaus Verlag, München 2012
Einer sagt: "Hartz-IV-Empfänger gehen doch bloß zur Tafel, damit sie sich das neueste Iphone leisten können."
Ein anderer: "Außerdem sind die immer super angezogen."
Ein Dritter: "Und seit die die Heizkosten bezahlt kriegen, heizen die wie verrückt."
Die Journalistin Kathrin Hartmann sitzt mit am Tisch. 1972 geboren, erst Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau, dann bei der Jugendzeitschrift NEON, ist sie Teil dieses Journalistenkreises. Aber je mehr die Kollegen reden, desto verstörter reagiert Hartmann:
Jeder am Tisch hat einen guten Job, aus dem er Befriedigung und Anerkennung zieht, manche verdienen sogar überdurchschnittlich. Alle haben studiert, sind politisch und kulturell interessiert und lesen mindestens eine überregionale Tageszeitung. Manche von ihnen waren früher vielleicht sogar mal links (und sagen heute, dass sie "realistisch" geworden sind). Man sollte annehmen, dass es einen Konsens gibt über wesentliche ethische Fragen. Hätte jemand einen ähnlich diskriminierenden Satz über eine andere Bevölkerungsgruppe gesagt – etwa: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" oder "Schwarze sind doch alle Drogendealer" – den Beteiligten wären die Garnelen im Hals stecken geblieben.
Auf den ersten Seiten ihres Buches "Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft" schildert Hartmann mehrere Szenen wie diese. Sie ist zu Gast bei der Mittelschicht – bei Lehrern, bei Pressesprechern, bei Journalistenkollegen – und notiert deren gesammelte Vorurteile gegen "die da unten".
Dass diese Beobachtungen mehr sind als Einzelerlebnisse, bestätigt ihr der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. In der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" hat er über zehn Jahre die Urteile der Deutschen erforscht. Sein Ergebnis: Langzeitarbeitslose seien ein stabiles Feinbild:
Das verstörende Ergebnis der Studie: Besserverdienende werten Langzeitarbeitslose sogar noch stärker ab, als dies Angehörige unterer Einkommensschichten tun. Weshalb schlägt ausgerechnet den Schwächsten die größtmögliche Feindseligkeit entgegen?
Dies ist der Kernfrage, die Hartmann auf den ersten Seiten ihres Textes schlüssig entwickelt. Warum verdienen die neuen Armen nicht einmal unser Mitleid? Warum zieht gerade die Mittelschicht über sie her?
Es sind richtige Fragen, die Hartmann stellt. Allein – eine Antwort sucht der Leser vergeblich. Auf 412 Seiten erzählt Hartmann von ihren Recherchen bei den neuen Armen. Sie reist in Stadtviertel, in denen die Reichen die Armen vertreiben, sie beschreibt, wie Leiharbeit und Ein-Euro-Jobs den Arbeitsmarkt verändern, sie analysiert den Kampf um die Bildung. Der Großteil dieser Passagen allerdings ist aus gut recherchierten Sekundärquellen gespeist – Artikel, Bücher, Fernsehdokumentationen. Eine Zusammenfassung, die fundiert ist, der es aber an Struktur fehlt. Und was das Lesen so zäh macht: Man vermisst das echte Leben.
Eigene Beobachtungen liefert Hartmann vor allem dann, wenn es um die Tafeln geht, jene Organisationen, die Lebensmittel kostenlos oder zum symbolischen Preis verteilen. Hier spielt einer der beiden großen Reportagestränge des Buches:
Die Bilder der Warteschlagen vor Essensausgaben sind zum Symbol geworden für eine Wohlstandsgesellschaft, die es sich leistet, einer zunehmenden Anzahl Bedürftiger allenfalls ihre Brosamen zukommen zu lassen, ihnen aber echte Teilnahme verweigert.
Es ehrt Kathrin Hartmann, dass sie schwierige Gegner nicht scheut. Die Tafeln sind Lieblinge der Charity-Gesellschaft. Es ist richtig, wenn Hartmann kritisiert, dass die Armen dort nur Almosen bekommen und dass Bittsteller keine Rechte haben. Allerdings wird in den Reportageteilen das, was an anderer Stelle nur störend ist, zum echten Problem.
Viel zu oft und viel zu schnell verlässt Hartmann die Rolle der Reporterin – und bedient sich der Mittel, die sie der Gegenseite vorwirft. Sie urteilt schnell und pauschal. In den Augen vieler Mittelschichtsangehöriger mögen Arme bequem und vom Staat verwöhnt sein, bei Kathrin Hartmann sind sie stets Engel.
Hartmann gibt sich große Mühe, alle Unterschichts-Klischees zu widerlegen. Aber sie verpasst die Chance, Arme als ganz normale Menschen zu portraitieren. Menschen mit Schwächen und Fehlern. Und so bleibt der Leser mit der Frage, für die Hartmann sein ganzes Interesse geweckt hat, auch nach über 400 Seiten allein. Warum eigentlich hackt die Mittelschicht dermaßen auf den Armen herum?
Eine Antwort liefert eine andere Neuerscheinung. Ein stilles, ein zurückhaltendes, aber ein schlüssiges Buch. "Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg" nennt die gelernte Journalistin Kathrin Fischer ihr Portrait der Mittelschicht um die 40:
Ich bin in relativem Wohlstand aufgewachsen, ohne es zu merken. Ich bin in relativer Sicherheit aufgewachsen, ohne diese zu bemerken. Und ich bin in relativer sozialer Durchlässigkeit aufgewachsen, ohne sie zu bemerken.
So beschreibt Fischer ihre Kindheit in der alten Bundesrepublik. Aber seit sie und ihre Freunde spürten, wie Wohlstand, Sicherheit und soziale Durchlässigkeit schwinden, interessiert sich Fischer plötzlich dafür, wie das, was sie seit ihrer Kindheit für selbstverständlich hielt, erkämpft und wieder verloren wurde:
Man bemerkt Dinge eben erst in der Differenz - wer redet schon davon, dass Luft durchsichtig ist? Erst beim Smog-Alarm wird diese Tatsache erwähnenswert.
Wofür haben wir eigentlich noch Zeit? An erster Stelle steht die Arbeit, dann kommen – schon ziemlich abgeschlagen – Kinder und Partner. Kaum einer von uns macht noch etwas nur für sich. Geschweige denn für andere. Alle leiden wir unter Zeitknappheit.
"Generation Laminat" ist ein Sachbuch, das vom Abstieg erzählt. Fischer beschreibt, wie es ihren Freunden und ihr immer schwerer gefallen sei, von ihren Einkommen ein gutes Leben zu bezahlen. Wie der eine Freund arbeitslos wurde. Wie der andere sich entschied, monatliche Überweisungen der alten Eltern zu akzeptieren. Und sie erzählt, wie schwer es ihnen fällt, dies alles einzugestehen. Denn gerade sie, die Nachkommen der Mittelschicht, hätten über Jahre gelernt, dass es jeder schaffen kann, wenn er sich nur genug anstrengt:
In dieser Logik ist es leicht, andere moralische Maßstäbe an die Gruppe der Verlierer anzulegen. Sie als Menschen zweiter Klasse zu betrachten. Soziale Verlierer müssen verdientermaßen Verlierer sein, damit sie nicht das Leistungsprinzip bedrohen, an das wir Mittelschichtsangehörige mehr glauben als jede andere Schicht. Sie müssen schlicht per Kategorisierung andere Menschen sein, damit wir ihr Schicksal von uns fernhalten können, damit ihre Armut uns nicht wie eine mögliche eigene Zukunft erscheint.
Da ist sie also. Die mögliche Erklärung für die Szenen an Journalistentischen und in Lehrerwohnungen. Eine verängstigte Mittelschicht tritt nach unten. Aus Angst, selbst dort zu landen. Kathrin Fischer hat ein ruhiges, ein genaues Buch geschrieben. Es lohnt, den missglückten Titel "Generation Laminat" zu übersehen und den gelungenen Text, der sich dahinter verbirgt, zu lesen.
Rezensiert von Julia Friedrichs
Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft
Karl Blessing Verlag, München 2012
Kathrin Fischer: Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg
Knaus Verlag, München 2012