Feminismus auf dem Sinai

Erste Wanderführerin in der Wüste

24:20 Minuten
Die 48-jährige Wanderführerin Umm Yasser ist in der Höhle hinter ihr aufgewachsen. Durch die Corona-Pandemie kommen derzeit keine Touristen in ihr Tal auf der Sinai-Halbinsel. Sie trägt ein rotes Kleid und ein bräunliches Tuch um den Kopf.
In dieser Höhle ist die 48-jährige Beduinin Umm Yasser aufgewachsen: "Es war sehr kalt und sehr langweilig. Manchmal machte es mich traurig." © Deutschlandradio / Susanna Petrin
Von Susanna Petrin |
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Seit 4500 Jahren herrscht bei Beduinen eine strikte Aufgabenteilung: Frauen kümmern sich um Kinder, Tiere und das Heim. Umm Yasser bricht mit dieser uralten Tradition und arbeitet als erste Wanderführerin auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel.
Umm Yasser singt. Wo kein Geräusch außer den eigenen Schritten zu hören ist, bleibt einem immer noch die eigene Stimme. Das muss es sein, das Ende der Welt. Geröll, Sand, Hitze, Wind. Kilometerweit kein Mensch.
Das Trockental Wadi Zehluga liegt in einer besonders abgelegenen Gegend der südlichen Sinai-Halbinsel Ägyptens. Auf Google Maps existiert sie nicht. Einen Telefonanruf empfängt man nur auf dem höchsten Gipfel. Ohne meine Wanderführerin Umm Yasser wäre ich verloren. Sie kennt hier nicht nur den Weg, sie kennt jedes Kraut.
Wo ich als Europäerin nichts als Kargheit erkenne, sieht sie als Nomadin eine ganze Apotheke: "Das da ist Ratena, Futter für die Tiere. Zeta ist für den Menschen. Gasu ist auch für den Menschen. Das eine ist gegen Magenschmerzen, das andere gut gegen Erkältungen."

Ihre Kindheit in der Höhle war kalt und langweilig

Es ist nicht leicht, mit Umm Yasser Schritt zu halten. Die schlanke Beduinin läuft so behände voran wie die Ziegen, die sie in diesem Wüstengebirge nach dem bisschen Grün suchen lässt. Sie trägt ein knöchellanges, rotes Kleid mit langen Ärmeln. Ein dunkles Kopftuch lässt nur die mit Kohle umrandeten braunen Augen frei.
Die 48-Jährige ist hier aufgewachsen. Ihre Kindheit verbrachte sie monatelang in einer Höhle. Wie das war, will ich wissen: "Es war kalt, sehr kalt. Aber wir haben ein Feuer gemacht. Und es war langweilig, sehr langweilig. Manchmal machte es mich traurig."
Wir stehen jetzt vor dem Eingang dieser Felsgrotte. Zwei Schächte, die sich nur gebückt betreten lassen. Drei Quadratmeter für die junge Umm Yasser und ihre Mutter, drei Quadratmeter für die Ziegen und Schafe.
Tiere weiden lassen ist bei den Beduinen Frauensache. Genauso wie Haushalt und Kindererziehung. Das ist seit etwa 4500 Jahren so, erzählt mir später ein Engländer, der wie kaum ein Europäer den Sinai kennt:
"Die Beduinen, die heute auf dem Sinai leben, sind die Nachfahren einer etwa 4500 Jahre alten nomadischen Zivilisation. Die Männer legen weite Strecken in der Gegend zurück. Die Frauen kennen ihre unmittelbare Umgebung besonders gut – und die Pflanzen dort, deren Wirkung. Weil das so wichtig ist für ihre Arbeit mit den Ziegen."

Eine Frau als Führerin: ein "sonderbarer Vorschlag"

Ben Hoffler hat vor einigen Jahren seinen Lebensmittelpunkt von London auf den Sinai verschoben. Hier hat er, gemeinsam mit den Beduinen, eine 550 Kilometer lange Wanderroute aufgebaut. Den preisgekrönten Sinai Trail.
Ben Hoffler beim Abschöpfen von Wasser an einer Quelle in der Wüste. Der Engländer hat mit den Beduinen den Sinai-Trail aufgebaut, damit Touristen durch die Wüste wandern können.
Ben Hoffler beim Abschöpfen von Wasser an einer Quelle in der Wüste.© Deutschlandradio / Susanna Petrin
Hoffler war für die Erkundigung der geeignetsten Pfade über Jahre hinweg tagelang mit Beduinen unterwegs gewesen. Stets mit Männern. Als ihm eines Tages Umm Yassers Ehemann, Ibrahim, nahelegte, auch seine Frau einzubeziehen, traute Ben Hoffler zunächst seinen Ohren nicht:
"Eines Tages sagte Ibrahim zu mir: Ben, morgen läufst du mit Umm Yasser. Ich dachte zunächst, er mache einen Scherz. Es war so ein sonderbarer Vorschlag, weil ich bis dahin kaum Kontakt mit den Frauen der Beduinen hatte. Aber dann realisierte ich langsam, dass er es ernst meint. Ich war zuerst ein wenig beunruhigt. Ich dachte, wenn ich mit Umm Yasser wandere und die Leute sehen uns in den Bergen – ein seltsamer Mann mit einer Beduinen-Frau: Wird das okay sein? Oder wird das Probleme für Umm Yasser bringen?"

"Mir ist egal, was die Menschen denken"

Bei den Beduinen ist es Männersache, Geld zu verdienen. Es ist Männersache, im Tourismus zu arbeiten und Gäste zu empfangen. Doch Umm Yasser sieht nicht ein, weshalb diese Männersachen nicht auch einer Frau wie ihr gut anstünden. Sie kennt jede lebensrettende Wasserstelle, jeden Schatten. Sie ist fit, sie mag Menschen, sie will Geld verdienen. Sie gibt die perfekte Wanderführerin, als erste Beduinin Ägyptens. Allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz:
"Jeder hat für sich das Recht zu arbeiten. Die Leute mögen über mich tratschen und behaupten, ich tue etwas kulturell Unangebrachtes, aber das ist mir egal. Es ist mir egal, was die Menschen denken, es ist mir egal, was die Mücken denken. Die Mücken machen mir mehr zu schaffen, weil sie stechen. Mein Traum ist es, im Tourismus zu arbeiten, und dass wieder mehr Touristen hierher kommen."
Keine andere Beduinen-Frau hat es je gewagt, aus der ihr zugestandenen Rolle auszubrechen, meint Ben Hoffler:
"Umm Yasser hat wirklich die Grenzen verschoben, in denen die Frauen hier leben. Sie hat sich über sie hinweggesetzt, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten. Umm Yasser ist die erste Beduinin, die als Wanderführerin auf dem Sinai Trail arbeitet. Es war aber kein einfacher Prozess dahin. Es brauchte viele Diskussionen mit ihrer Stammesgemeinschaft, um sicherzustellen, dass dies auf eine Weise geschehen kann, mit der alle gut leben können."
Ibrahim ist der Mann von Umm Yasser und unterstützt sie bei ihrer Arbeit als erste Wanderführerin der Beduinen-Gesellschaft auf dem Sinai. Er steht vor einem umgekippten Schrott-Auto in seinem Dorf.
Ibrahim ist der Mann von Umm Yasser und unterstützt sie bei ihrer Arbeit als erste Wanderführerin der Beduinen auf dem Sinai: "Diese Arbeit ist eine gute Sache."© Deutschlandradio / Susanna Petrin
Ihren Berufswunsch in einer konservativen Gesellschaft durchzusetzen, kostete Umm Yasser viel Mut. Wie kommt eine Frau, die in einer Höhle aufwuchs, zu einem derart offenen Geist? Umm Yasser vermutet, dass genau diese harte Kindheit in der Höhle war, die sie zu einer starken Frau gemacht hat. Und ihr Mann Ibrahim habe sie stets 100-prozentig unterstützt.
"Wir helfen uns – arbeiten Hand in Hand. Es gibt ehrbare Arbeit und schlechte Arbeit. Diese Arbeit ist eine gute Sache. Sie mag Menschen. Sie liebt es, Gäste zu empfangen, großzügig zu sein."

Hoffen auf Kühlschrank, Waschmaschine und Schulbücher

Nach vielen Diskussionen innerhalb des Hamada-Stammes war es im April 2019 endlich so weit: Umm Yasser führte mit drei ihr assistierenden Beduininnen eine Frauen-Gruppe durch das Wadi Zehluga. Die Touristinnen zeigten sich begeistert von der Landschaft und der Gastfreundschaft. Während der Mittagspause greift eine komplett verschleierte Beduinin zur Flöte, Umm Yasser fängt an zu singen, mit dabei auch eine Kamerafrau der Nachrichtenagentur AP.
Die Touristenführerin hoffte durch die Einnahmen auf Kühlschränke, auf Waschmaschinen oder wenigstens Schulbücher für die Kinder. Ehemann Ibrahim plante ein Gästehaus. Der Tourismus keimte zart auf in diesem bislang unberührten Gebiet. Doch der Aufschwung währte nicht lange. Das Coronavirus brachte den Tourismus im ganzen Südsinai zum Erlahmen.

Der Sinai-Wanderweg soll die Beduinenkultur schützen

Dabei sei er, mit Umsicht betrieben, nicht gefährlich für die beduinische Kultur, sondern, im Gegenteil, förderlich, findet Ben Hoffler und meint den Sinai Trail:
"Der Wanderweg soll dazu beitragen, das gefährdete Wissen, die Fähigkeiten und das kulturelle Erbe der Menschen dieser Region zu bewahren. Wissen über Wasserquellen, Tiere, Pflanzen – und wozu sie gut sind. All dieses Wissen geht schnell verloren, wenn die Beduinen von der Wüste in die Städte ziehen. Dort ist es nicht mehr relevant. Und was nicht relevant ist, vergisst man, wird nicht mehr genutzt."
Ben Hoffler vergleicht das gefährdete Naturwissen mit einer Bibliothek, die abzubrennen drohe. Ein Projekt wie der Sinai Trail wirke dagegen wie ein Feuerlöscher: Es gebe den Traditionen wieder die Relevanz, die sie zum Überdauern bräuchte. Das alte Wissen bekommt durch die Touristen einen neuen Wert – und so wird es für die Beduinen wieder lukrativer, in der Wüste zu bleiben und nicht in die Städte zu gehen.
"Ich hoffe, der Sinai Trail ist ein wirklicher Schritt in Richtung Kulturgüterschutz. Dieses Wissen ist wie eine große, lebendige Bibliothek, ein Wissensschatz, von großem Wert für die Menschheit. Und dieser Schatz geht gerade sehr schnell verloren. Es ist, als ob eine Bibliothek niederbrenne, doch auf der ganzen Welt spricht niemand darüber. Es passiert einfach. Ein Verlust für uns alle. Durch den Sinai Trail soll die Welt erfahren, was da vor sich geht, und dass diese Kultur wichtig ist."
Nur noch eine Minderheit der Beduinen führt ein traditionelles Nomadenleben. Immer mehr werden sesshaft. Der Klimawandel erschwert das Leben in der Wüste. Und es locken die Annehmlichkeiten der Dörfer und Städte: Gesundheitsversorgung, Schulen, fließend Wasser. Die meisten Beduinen entscheiden sich für einen Mittelweg: Sie haben einen festen Wohnsitz, führen aber weiterhin Herden zur Weide und verbringen viel Zeit in der Natur.

Dreharbeiten für Film über Umm Yasser pausieren

Auch Umm Yasser lebt diesen Kompromiss. Ihr Mann Ibrahim hat im Örtchen Wadi Sahu ein Haus aus Ziegeln, Lehm und Wellblech gebaut. Die Toilette ist ein Plumpsklo, die Dusche ein Kübel Wasser. Ein Generator erzeugt wenige Stunden täglich Strom. Für Umm Yasser ist diese Behausung, etwa drei Fußstunden von der Höhle entfernt, ein Luxus: "Das Leben ist jetzt besser. Es hat Wasser, eine Toilette, man kann sich waschen, duschen."
Ihre beiden Kinder, Yasser und Yusra, hat sie in diesem Haus geboren. Ein Spital gibt es nicht, ein Arzt war nicht zugegen. Die Gesundheitsvorsorge in der Wüste ist schlecht. Um die Menschen hier ja nicht mit dem Coronavirus anzustecken, pausiert deshalb auch ein Film über Umm Yasser. Die junge ägyptische Filmemacherin Hamsa Mansour will die Dreharbeiten aber bald fortsetzen. Sie war vom ersten Moment an fasziniert von Umm Yassers Persönlichkeit:
"Von außen mag sie so wirken, als sei sie sehr tough. Sie ist ja auch in vielen Dingen sehr tough. Aber wenn man sie näher kennenlernt, lernt man auch ihren fürsorglichen, zarten Kern kennen. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich einmal nachts aufgewacht bin, als Umm Yasser gerade geprüft hat, ob ich auch wirklich gut zugedeckt bin, mir nicht kalt ist."
Würde die Filmemacherin Hamsa Mansour ihre Protagonistin Umm Yasser als Feministin bezeichnen?
"Wenn Du mich fragst, ob sie eine feministische Bewegung in der Beduinen-Gesellschaft anführt? Nein. Das tut sie nicht. Aber sie hält Arbeiten und Bergführen für eine gute Sache. Und das will sie tun, egal was andere darüber denken. Also ist sie in diesem Sinne schon eine Feministin. Ja! Sie glaubt, dass sie das tun sollte, weil es richtig ist. Und sie sagt mir immer: Du musst ein reines Gewissen haben. Das ist das Wichtigste."

Umm Yasser geht als einzige Frau vor die Kamera

Die junge Filmemacherin möchte die Beduinen wahrhaftig repräsentieren. Denn die meisten Menschen machten sich falsche Vorstellungen von ihnen, wüssten zu wenig über deren kulturellen Reichtum. Doch die Filmarbeit gestaltete sich bisher schwierig. Nicht wegen der harschen Umweltbedingungen, diese sei sie gewohnt. Doch die Beduininnen hätten Angst um ihren Ruf.
"Was für die Filmarbeiten sehr herausfordernd ist, ist die Tatsache, dass außer Umm Yasser keine einzige Frau ihres Stammes bereit ist, gefilmt zu werden. Dabei möchten wir gerne Umm Yasser im Kontext ihrer Umgebung filmen, zeigen, wie sie ihre Gemeinschaft beeinflusst. Das macht es also sehr schwierig. Ich kann das verstehen, denn vor der Kamera zu erscheinen, das kann das Leben dieser Frauen beeinflussen. Nicht einmal Umm Yassers Tochter möchte gefilmt werden."
Viele der Frauen trauen sich nicht vor die Kameras, weil ihre Männer es ihnen verboten haben. Diese Männer haben Angst, dass Umm Yassers Berufung der Anfang eines größeren Wandels sei. Sie fürchten, dass sich ihre Frauen weitere Freiheiten erkämpfen werden.

Oberhaupt des Jabalija-Stammes will mehr Frauenrechte

Die meisten Scheichs, die Stammesoberhäupter bei den Beduinen, stellen sich gegen weibliche Touristenführerinnen. Doch ein einflussreicher Mann, Scheich Ahmed, Oberhaupt des Jabalija-Stammes und Präsident des Sinai Trails, steht hinter Umm Yasser. Bei einem Gespräch in einer lauten Herberge in St. Catherine, dem touristischsten Ort in der Sinai-Wüste, erweist er sich als wahrhaftiger Feminist:
"Männer möchten, dass ihre Frauen zu Hause bleiben, wie eine Dienerin, arbeiten, wie der Mann es will. So haben Frauen nie Freiheit. Aber meiner Ansicht nach ist das falsch. Eine Frau ist eine Frau: Man gebe ihr Freiheit, lasse sie zur Schule gehen, gebe ihr ein gutes Leben! Warum nicht! Wir müssen uns ändern. Ich habe mit meinem Stamm begonnen, mit meiner eigenen Tochter: Ich lasse sie zur Schule gehen, den Abschluss machen, lasse sie ihren Mann selber wählen. Und es gibt hier etwas namens Tahur, weibliche Genitalverstümmelung, zu 80 Prozent konnte ich das in meinem Stamm unterbinden. Denn ich habe zwei sechsjährige Mädchen gesehen, die daran gestorben sind. Und jetzt will ich diese Praxis auch in anderen Stämmen stoppen. Aber viele Menschen bekämpfen mich deswegen."
Ungewöhnliche, starke Worte eines Scheichs. Kaum denkbar noch eine Generation zuvor. Er will Frauen fördern, weibliche Genitalverstümmelung verbieten – und er hofft auf weitere beduinische Wanderführerinnen. Doch noch ist Sheikh Ahmed mit solchen Ansichten in der Minderheit. Und noch ist Umm Yasser eine Pionierin ohne Nachfolgerinnen.
Worum geht es eigentlich in diesem Lied, das Umm Yasser beim Laufen gerne singt? Il hub, die Liebe. Ein Paar kann nicht zueinander kommen, beide sterben. Romeo und Julia in der Wüste. Manche Geschichten sind universell. Stolz läuft Umm Yasser voraus. Sie trägt ein rotes Kleid.
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