Joanna Bator: "Wolkenfern"
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
499 Seiten, 24,95 Euro
Alte Jungfern werden zu lockenden Sirenen
In ihrem Streifzug durch die Zeit beherrschen in "Wolkenfern" starke Frauen das Geschehen. Mit Hilfe von Kitsch und Klischees, Trash und Fantastik zollt die polnische Autorin Postkolonialismus und Gender Studies Tribut.
Dieser Roman ist ein reißender Fluss. Er lässt in der polnischen Provinz keinen Stein auf dem anderen. Frauen aus dem Bergarbeiternest Piaskowa Gorá bei Breslau schwärmen in Joanna Bators "Wolkenfern" überall hin aus, in die "BeErDe", nach New York, Japan und auf eine griechische Insel. Weit reist auch ein Nachttopf, der Napoleon gehört haben soll. Außerdem überspringen Gene eine Generation und alte Jungfern werden zu lockenden Sirenen, weshalb eine übersichtliche Inhaltsangabe unmöglich ist. Bator wirft ausgesprochen schmissig Zeiten und Räume, Ereignisse und Gestalten, Erzählformen und Motive durcheinander. "Wolkenfern" ist eine Soap Opera im Romanformat, in deren Mitte die Globalisierung wie eine auf höchsten Touren laufende Rührmaschine wirkt. Ein geschichtensprühender magischer Soap-Realismus schließt das anfangs noch im sowjetischen Einflussbereich abgeschottete Polen mit der ganzen Welt kurz.Blick in die Vergangenheit und Zukunft
Nach einem Autounfall – mit ihm endet Bators Debütroman "Sandberg" – liegt Dominika Chmura, die Hauptperson des trubeligen Geschehens, im Koma. Grazynka, eine alte Bekannte, die in die "BeErDe" geheiratet hat, hat die Schwerverletzte und ihre Mutter Jadzia nach Deutschland geholt. Sieben Monate weint und singt Jadzia, die schon aus hygienischen Gründen alles Fremde fürchtet, fern des heimatlichen Plattenbaus am Bett ihrer Tochter. Dann schlägt Dominika die Augen auf und lernt mit Hilfe der schwarzen Krankenschwester Sara wieder gehen, während Grazynka mal wieder in den Wald geht, wo sie in die Vergangenheit und die Zukunft blicken kann.
Dort erinnert sie sich an ihre Kindheit in den 30er-Jahren. Als Findelkind wuchs sie in der Obhut von zwei alten Jungfern auf, die den Nachttopf Napoleons hüteten. Die meisten Nachbarn im mittelpolnischen Kamieńsk waren Juden und wurden von den Deutschen ermordet. Auch die Jungfern kamen ins KZ, brachten Grazynka aber zuvor bei einem Frauenorden unter und gaben ihr Napoleons Nachttopf mit.
Verachtung für Napoleon
"Wolkenfern" schildert die Reisen des Nachttopfs, der genesenen Dominika und der mit Seherfähigkeiten begabten Grayznka. Ihre Wege kreuzen sich mehrfach, ohne dass sich Joanna Bator um Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit kümmert. Sie überlässt sich den farbigen fantastischen Geschichten.
Starke Frauen beherrschen den Roman. Die Männer sind durchweg Schwächlinge, sympathisch wirken nur Dominikas Jugendfreund und ein Schwuler. Selbst Napoleon entgeht der Verachtung nicht: Dominikas Begleiterin, die schwarze Krankenschwester Sara, malt sich aus, wie der Franzose beim Liebesakt mit einer "Hottentotten-Venus" beinahe erdrückt und zu einem ihrer Vorfahren wird.
Bator zollt Postkolonialismus und Gender Studies, jenen Theorien, mit denen sie als Kulturwissenschaftlerin umgeht, mit Hilfe von Kitsch und Klischees, Trash und Fantastik Tribut. Das Ergebnis wirkt durch die feministische Perspektive, den schnoddrig-sarkastischen Erzählton und viele Einsprengel in erlebter Rede frischer als erwartbar, zumal die Übersetzerin Esther Kinsky Wortwitz und Erfindungskraft walten lässt. Schade, dass Joanna Bator auf den letzten 100 Seiten hastig alle Erzählfäden zusammenführt, um den Roman zu beenden.