Der Protest der Frauen formiert sich
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Eine feministische Bewegung wird zum sozialen Aufstand: Zehn tote Frauen pro Tag – die Gewalt gegen Frauen treibt die Menschen in Mexiko auf die Straße. Sie kämpfen gegen veraltete Rollenbilder und eine Kultur des Machismo. Mit Erfolg?
In jeder Minute, jede Woche, rauben sie unsere Freundinnen, töten unsere Schwestern, zerstückeln ihre Körper, lassen sie verschwinden. Herr Präsident, vergessen sie nicht ihre Namen - singt Vivir Quintana.
"Es geht darum, was hier täglich passiert"
Die Musikerin hat die Hymne für den Frauenprotest in Mexiko geschrieben.
"Es ist eine harte Realität, die in dem Lied beschrieben wird, deswegen ist es nicht einfach, es zu singen, aber es ist sehr wichtig. Es geht darum, was hier täglich passiert", sagt sie.
"Erst gestern erzählte mir eine Bekannte, dass sie eine Freundin von ihr umgebracht haben – gestern. Die Angst ist unsere permanente Begleiterin. Aber dieses Lied verbindet, verschwestert uns, all diejenigen, die nach Gerechtigkeit und Sicherheit in diesem Land suchen."
Auch ihre eigene Erfahrung hat sie in dem Lied verarbeitet. Die 36-jährige hat selbst eine Freundin verloren.
"In den sozialen Medien schlägt den Frauen viel Ablehnung entgegen, die es wagen anzuklagen, die die Stimme erheben, es scheint, dass die Gerechtigkeit mehr gehasst wird als die Femizide. Das tut weh, es schmerzt uns Frauen, dies festzustellen und auch jetzt, in diesem Augenblick während der Pandemie geht die Gewalt gegen Frauen weiter."
Präsident López Obrador in der Kritik
Die feministische Bewegung in Mexiko fordert schon seit Langem, dass mit dem patriarchalen Pakt, dem Machismo endlich gebrochen werden muss. Die Forderung wurde jedoch erneut sehr laut, seitdem der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador trotz heftigen Widerstandes weiterhin an der Kandidatur eines Politikers festhält, der wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung angeklagt ist.
Zudem diskreditiert er den vorwiegend friedlichen Frauenprotest in der Öffentlichkeit – reduziert ihn auf punktuelle gewaltsame Ausschreitungen, die es in der Vergangenheit gab. Jegliche Kritik weißt López Obrador von sich.
"Ich fange an überall 'Brich den Pakt, brich den Pakt!' zu hören", sagt er. "Ich sage ganz ehrlich, ich habe erst vor fünf Tagen erfahren, was das bedeutet, weil ich meine Frau gebeten habe, es mir zu erklären, was das ist, dieses 'Brich den Pakt', den patriarchalen Pakt, wie sie mir sagte, hör auf Männer zu unterstützen. Aber ich breche diesen sogenannten Pakt schon. Aber was haben wir damit zu tun? Wir respektieren Frauen doch, jedes menschliche Wesen."
Kampf um die Anerkennung der Femizide
Offenbar driften jedoch Selbstwahrnehmung und tatsächlicher Diskurs beim mexikanischen Präsidenten auseinander. Die "Agentur für politische Kommunikation Spin" hat den Sprachgebrauch von López Obrador unter die Lupe genommen.
In zwei Jahren Amtszeit hat der mexikanische Präsident nicht einmal das Wort "Gendergewalt" benutzt und das in einem Land, in dem rund zehn Frauen täglich umgebracht werden. Laut offiziellen Angaben werden ein Viertel davon umgebracht, weil sie Frauen sind.
Wie schwer es allerdings ist, dass der Mord an einer Frau als Femizid anerkannt wird, hat Yesenia Zamudia am eigenen Leib erfahren: Fünf Jahre hat es gedauert! Vor fast genau fünf Jahren wurde ihre Tochter umgebracht.
Die Gesellschaft gibt den Frauen die Schuld
"Ni una menos" steht auf ihrem Mundschutz mit weißen Buchstaben daraufgedruckt: "Nicht eine weniger". Sie ist komplett schwarz gekleidet. Wenn sie über ihre Tochter Marichuy spricht, dann scheint sie es immer noch nicht zu fassen. Es klingt, als müsse sie sich rechtfertigen – in einer Gesellschaft, die den Frauen in der Regel die Schuld gibt.
"Sie war sich gar nicht bewusst, wie hübsch sie war. Sie war gar nicht darauf aus einen Freund zu finden. Sie hat sich auf das Studium konzentriert. Hier sieht man es auf dem Foto, sie hat sich sogar die Haare abgeschnitten. Sie sagte: Ich weiß, wie es diesen Mädchen ergeht, die sich ständig frisieren müssen, sich schminken, dafür habe ich gar keine Zeit. Sie war sehr pragmatisch", sagt Yesenia Zamudia.
Sie zeigt auf das Bild ihrer Tochter, das auf dem Esstisch steht. Seit dem Tod hat sich ihr Leben komplett verändert. Yesenia hat ihren gut bezahlten Job bei einer Autofirma verloren.
"Ich hoffe, es wird nun Verhaftungen geben"
Stattdessen ist sie selbst zur Ermittlerin geworden. 5000 Seiten umfasst die Akte bereits, jetzt wird der Fall neu aufgerollt.
"Er wird jetzt als Femizid, als Frauenmord anerkannt. Ich hoffe, es wird nun Verhaftungen geben. Und hoffentlich nicht nur derjenigen, die am Tod meiner Tochter direkt schuld sind, sondern auch innerhalb der Behörden, die nichts gemacht, die sogar die Ermittlungen behindert haben."
Ein richtiges zu Hause gibt es für Yesenia nicht mehr, sie muss ständig die Wohnung wechseln. Für ihren Kampf für Gerechtigkeit, ihre Hartnäckigkeit bekommt sie regelmäßig Drohungen.
"Über die sozialen Netzwerke, Facebook, über das Telefon. Ich habe auch Todesdrohungen bekommen. Aber ich habe mich daran gewöhnt mit der Angst zu leben", sagt sie nüchtern.
Zunahme der Gewalt gegen Frauen in der Pandemie
Die Trauer und die Wut haben sie stark gemacht. Ihr ist es wichtig auch andere zu unterstützen, gerade in der Pandemie habe die Gewalt gegen Frauen noch zugenommen. Im letzten Jahr gingen stündlich 25 Anzeigen bei der Polizei ein. In Mexiko-Stadt hat Yesenia für Frauen, die während der Pandemie Hilfe suchen, Unterkünfte organisiert.
"Wir haben auch Essensspenden für diejenigen gesammelt, die sie benötigen – für Schwangere, für ältere Frauen, die wegen der Pandemie auch nicht mehr weiterarbeiten können. Im Moment bitten wir nicht nur um Gerechtigkeit, sondern ganz simpel um Essen", erzählt sie.
Ende letzten Jahres hat Yesenia zusammen mit anderen Mitstreiterinnen die staatliche Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt besetzt, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen.
Angeschlossen haben sich nicht nur Opfer von Gewalt, Familienangehörige, die Töchter, Schwestern oder Mütter verloren haben. Die Pandemie habe die Frauen mit den unterschiedlichsten Lebensrealitäten stärker zusammengebracht, meint Yesenia.
In diesem Jahr wird es zum Frauentag wegen der Pandemie nur begrenzt Demonstrationen auf der Straße geben. Yesenia und die Musikerin Vivir Quintana rufen zum virtuellen Protest auf.
"Wir werden immer mehr, es sind immer mehr Frauen, die sich Sorgen machen, aktiv werden. Es ist unser Moment, wir sagen: Wir sind hier und wir werden weiterkämpfen."
Die Namen der Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, sollen nicht vergessen werden, fordert die Musikerin.