Ferien auf Balkonien

Von Jens Rossbach · 12.08.2005
Ferien auf dem Balkon. Er ist absolut stressfrei, sagen seine Anhänger. Keine Last-Minute-Schnäppchenjagd, keine Hektik am Flughafen, kein Ärger mit verdreckten Stränden und lauten Hotels - wer auf Balkonien Urlaub macht, ist auf der sicheren Seite. Liegestuhl ausgeklappt und Beine hoch. Entspannter geht es nicht. Echte Balkonfetischisten erklären ihr kleines Reich zur FKK-Zone, sie züchten Tomaten an der Hauswand und grillen in luftiger Höhe. Und wer Neues entdecken will, kümmert sich um seine Nachbarn: mit Kopfkissen und Fernglas.
Umfrage: "Ich habe einen Gartenzwerg auf dem Balkon. Weil das da nett ist./Dann leg ich mich dahin und genieße die Sonne./Rumschlafen/Betten ausschütteln und so weiter/Meinen extravaganten Liegestuhl aufstellen und mein Knöterich angucken, der nie blühen will/ Ich hol mir mal einen Drink und muss nicht an die Bar oder ich geh mich duschen und muss nicht ins Schwimmbad/Da läuft Stimmungsmusik, dann haben wir da Spaß, dann tanzen wir da/Vielleicht sternenklarer Himmel, das ist immer romantisch!/Also ich bin immer auf dem Balkon, wenn es möglich ist. "

Im Lande Balkonien wohnt ein eigentümliches Völkchen. Es lebt nicht drinnen und nicht draußen, es versteckt sich halbnackt hinter Blumen und hat immer nur das eine im Kopf:

Umfrage: "Einfach nur faul sein. Fünfe gerade sein lassen! "

Sandy Krakowiak ist die Königin Balkoniens, ganz offiziell. Jedenfalls hat die WoGeHe, die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Hellerdorf, der 29jährigen diesen Titel verliehen.

Krakowiak: "Ich bin die erste Gewinnerin des Balkonwettbewerbs. Viele haben auch Balkonkönigin geschrieben, ja. Aber naja, ist kein offizieller Titel glaub ich. Ja, und dann hieß es: Herzlichen Glückwunsch Frau Krakowiak, Sie haben den ersten Preis gewonnen! Dachte: Donnerwetter! "

Donnerwetter! Krakowiak fährt das volle balkonische Programm ab. Das volle Tu-Nix-Programm.

Krakowiak: "Wenn man dann sitzt, dann kann ja keiner mehr reingucken, sind ja hier oben in der fünften Etage. Und alle anderen sind ja niedriger, also dann kann man hier auch sehr ungestört nackt sonnenbaden. Wie am FKK-Strand. "

Fürs Nacktbaden gibt´s natürlich keine Krone. Balkonkönigin wird nur, wer besonders große Geranien, besonders prächtige Petunien, besonders feurige Feuerbohnen und besonders treuen Männertreu großzieht - mit viel Liebe und viel Dünger.

Krakowiak: "Kräuter gibt’s auch hier, gleich frisch für die Küche. Also frisches Schnittlauch, schön fürs Rührei. Oder auf die Stulle, lecker! Und dann haben wir hier Weihrauch. Das ist Weihrauch ja. Soll die Blattläuse fernhalten. Der riecht auch sehr stark. Also der stinkt. Das mögen die Insekten nicht. "

Reporter: "Das ist ja hier fast ein kleiner Teich…"

Krakowiak: "Das i s t ein kleiner Teich. Ja, also da hab ich mir letztes Jahr so einen schönen Zinkkübel gekauft, reduziert natürlich. Und dieses Jahr haben meine Eltern in ihrem Garten den Gartenteich völlig neu gestaltet und da sind Seerosen übrig geblieben. "

Reporter: "Frösche haben Sie auch schon? "

Krakowiak: "Na ich glaube, die ziehen sich nicht in den fünften Stock, so hoch springen die nicht (lacht). "

Sechs Meter lang und 1,80 Meter breit ist Krakowiaks grünes Reich in der Ostberliner Plattenbausiedlung Hellersdorf. Ausgestattet mit Fackeln, Laternen und Windlichtern, Holzblumen, Muscheln, einer Eisenschildkröte sowie bunten Glassteinchen, die an einer Schnur baumeln.

Reporter: "Bisschen kitschig ist das ja…"

Krakowiak: "Ein bisschen… Aber wem´s gefällt. ich sag mal, wem´s gefällt. "

Umfrage: "Der Vorteil ist ja, dass es keine negativen Überraschungen geben kann, als dass man seine Umgebung bestens kennt./ Also ich hab den Stress nicht mit der Reise, dann flieg ich nicht sehr gerne, mag ich nicht, hab ich bissel Platzangstgefühl und ich kann´s mir nicht vorstellen, dass so ein Ding fliegt. Also da bin ich immer noch skeptisch, obwohl ich geflogen bin./ Ich würde gerne weg fahren – ich war noch nie weg. Tatsächlich, das Geld fehlt. "

Die Wissenschaft hat festgestellt – in diesem Fall das BAT-Freizeitforschungsinstitut – dass zwei von fünf Deutschen nicht richtig verreisen. Statt Urlaub machen sie Stadturlaub. Erholungsspezialist Ulrich Reinhardt analysiert, warum die Leute ausgerechnet in Balkonien ihre Seele baumeln lassen.

Reinhardt: "In erster Linie ist natürlich das Finanzielle anzusprechen. Die Leute haben heute in der heutigen Zeit immer weniger Geld und müssen dann bei ihrem Urlaub dann eben sparen. Zusätzlich kommt natürlich noch dazu, dass eine Vielzahl der Bevölkerung, ich denke da vor allem an die ältere Generation, die eben auch aus gesundheitlichen Gründen dann eben zu Haus bleibt oder generell nie verreist. "

Das Verwunderliche: Obwohl sie in der Regel viel Zeit haben, fahren im Schnitt drei von fünf Rentnern nicht in der Weltgeschichte herum - und wenn dann höchstens fünf Tage im Jahr.

Reinhardt: "Wir alle kennen das, denke ich. Man plant ja immer im Rentenalter dann die große Reise durch Amerika mit dem Wohnmobil zu machen – wessen Eltern haben nicht davon geträumt – es setzt wirklich kaum jemand in die Wirklichkeit diese Träume um. Es heißt dann natürlich im Alter eher: zu Hause bleiben, lieber im bekannten Wohnumfeld sich aufzuhalten und dort eben dann die Tage zu verbringen. "

Auch unsere 29-jährige Balkonkönigin verlässt nur selten ihre hängenden Gärten. Der Hauptgrund: Die Berliner Bauzeichnerin mag ihre Zöglinge einfach nicht verdursten lassen.

Krakowiak: "Also mal ein Wochenende wegfahren ist schwierig, wenn man denn wieder kommt, hängt das alles ganz schön schlapp runter. "

Beim Balkon-Wettbewerb im letzten Jahr konnte sich Sandy Krakowiak gar nicht richtig freuen: bekam sie doch von ihrer Wohnungsgesellschaft einen Reisegutschein geschenkt. Der liegt noch immer ungenutzt in der Schublade. Die anderen Preisträger wurden dagegen mit einem Gutschein von "Pflanzen-Kölle" belohnt - für eine neue Balkonbegrünung. So ein Ärger auch: Haben es die Zweit- und Drittplatzierten doch besser abgefasst!

Krakowiak: "Also ich hab meine Konkurrenz dies Jahr schon mal abgecheckt, schon mal überall lang geguckt. Und dann frag ich mich immer, wie schaffen die das, dass die so viele Blüten dranne haben. Und meiner sieht so verhungert aus. Zum Beispiel Geranien: meine sehen nicht so voll aus wie andere, die ich irgendwo gesehen habe – der andere hat eben halt mehr! (lacht). Und dann guckt man halt schon ein bisschen neidisch und fragt sich, wie machen die das, dass da so mehr Fülle ist als in meinem Kasten. Man macht ja schon alles: man düngt schon und guckt da so und gießt regelmäßig, man hegt und pflegt und trotzdem wir das nicht so wie bei dem Nachbarn. "

Der Kult um den Balkon begann vor 100 Jahren. Während der Industrialisierung, als das Bürgertum vom Land in die Stadt zog. So Irmela Hannover, stolze Besitzerin von fünf Balkonen und Autorin des Fachbuches "Zwischen Himmel und Erde" – einer Balkon-Bibel.

Hannover: "Das Bürgertum hatte eben früher auf dem Land hatten die natürlich ihren schönen Garten, das war sozusagen die Verlängerung des Salons, das wurde auch genannt der grüne Salon. Und nun war das in der Stadt natürlich damit vorbei und wurde aber schmerzlich vermisst und was hat man gemacht – man hat sich dann seine kleine Laube auf dem Balkon gezüchtet, ne. Da gab´s um die Jahrhundertwende so einen richtigen Balkonhype, insbesondere in Berlin. Und wenn eine Wohnung eben keinen Balkon hatte – wie man das heute auch macht, wurden Balkone angeklebt, der berühmte Klebebalkon. "

Seit den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen schließlich auch die Kellerkinder in den Geranien-Genuss. Fortschrittliche Architekten begannen, die Balkone auch an Mietskasernen zu kleben.

Hannover: "Also jeder soll eben einen Balkon haben, jeder soll die Möglichkeit haben, dass Licht und Sonne in die Wohnung kommt. Das kommt eigentlich so aus dieser Bewegung der 20er, 30er Jahre, die auch mit einer Hygienebewegung zu tun hatte: man wollte die vielen Krankheiten bekämpfen, die durch zu wenig Luft und Sonne da waren. das war damals eben auch üblich, dass man seinen Urlaub auf Balkonien verbracht hat, weil damals ja noch weniger Geld in den Arbeiterhaushalten als heute."

Hannover: "Ja Urlaub auf Balkonien – ich mein, in Zeiten von Hartz-IV ist das natürlich wieder ne Alternative ne. "

Allerdings: heutzutage baden nicht nur besonders arme, sondern auch besonders reiche Leute bevorzugt zu Hause in der Sonne. So die Beobachtung des Hamburger Freizeitforschungsinstituts.

Reinhardt: "Beispielsweise der Anteil von besser verdienenden Managern ist höher als der Anteil von Arbeitslosen, die nicht in den Urlaub fahren. Weil die natürlich wieder ganz andere Zeitprobleme haben und deswegen nicht in den Urlaub fahren und vielleicht geschäftlich schon so viel unterwegs sind. da fängt das Zeitkontingent dann wirklich an den Urlaub stark einzuschränken und dazu zu sorgen, dass diese Gruppe eben auch zu Hause bleibt. "

Nicht nur im Urlaub, auch im Alltag war Balkonien stets ein beliebtes Ausflugsziel. Die Autorin Irmela Hannover berichtet, dass früher - im Krieg - der Balkon sogar das tägliche Überleben gesichert hat.

Hannover: "Ja, es gibt ja diesen Begriff des Balkonschweins. Ich denk mal, das war so ein Euphemismus für das Kaninchen, das man sich auf dem Balkon gehalten hat. Und dass man dann ne Notration Fleisch hatte in harten Zeiten und ähnlich hat man das auch mit Gemüse gemacht. Also in den damaligen Gartenzeitschriften gibt es richtig Artikel zu diesem Thema, wie man jetzt in diesen harten Zeiten auch diesen Balkon auch nutzen kann, um alle möglichen nützlichen Pflanzen da anzupflanzen. "

Krakowiak: "Und hier haben wir noch ne kleine Tomate. Es gibt neue Züchtungen, speziell für Balkone, das sind so kleine Zwergtomaten. ja, hab schon ordentlich geerntet, ist schon alles abgeerntet jetzt. Hab schon zwei Hände voll gehabt. "

Reporter: "Grillen Sie hier auch auf dem Balkon? "

Krakowiak: "Also ich hab hier draußen kein, weil die Wohnungsbaugesellschaft es eigentlich nicht gestattet. Aber es gibt ja viele Nachbarn, die grillen auch draußen, was man ab und zu mal riecht. "

Reporter: "Und das zieht dann hier hoch? "

Krakowiak: "Und das riecht dann so lecker! Und dann kriegt man so einen Hunger. Ist ganz schlimm! "

Schlimm, schlimm - sagen auch die Vermieter. Oder Nachbarn, die nach Streit hungern.

Ropertz: "Ja, den meisten Ärger gibt es in Mietshäusern und auch in Wohnungseigentumsanlagen, wenn es um Krach, Lärm und so weiter geht bei der Benutzung des Balkons, aber natürlich auch wenn es qualmt, das heißt im Klartext, wenn gegrillt wird"

Ulrich Ropertz vom Deutschen Mieterbund kennt die Fehden, die viele Balkonier mit Gießkanne und Schaufel in der Hand über die Brüstung hinweg miteinander ausfechten. Denn wer viel draußen abhängt, hat auch viel Zeit, sich über die lieben Nachbarn aufzuregen – und sie bei der Polizei anzuschwärzen.

Ropertz: "Es gibt hier Kompromissformeln, die hier die Gerichte gefunden habe, um die Interessen der Nachbarn miteinander in Übereinklang zu bringen. Da wird zum Beispiel gesagt: Man sollte das Grillen 48 Stunden vorher anmelden oder man dürfe in den Sommermonaten einmal im Monat und so was alles. Aber das sind Einzelfälle, die hier geregelt worden sind: also Vorsicht bei der Übertragbarkeit. Das Wichtigste ist, dass Mieter wissen, es darf nicht in die Nachbarwohnungen qualmen. "

Besonders bizarr: die Balkonnutzung bei Reihen- und Mehrfamilienhäusern. Hier darf nichts dem Zufall überlassen bleiben, hier wird nach DIN-Norm geurlaubt.

Ropertz: "Bei Wohnungseigentumsanlagen kann es über die Eigentümerversammlung auch die Vorgabe geben, dass schon aus optischen Gründen die Balkonbepflanzung einheitlich vorgenommen wird, dass heißt einheitlich Geranien oder einheitlich Rosen, einheitlich weiß-rot oder einheitlich weiß-blau. Also insbesondere im hochpreisigen Segment wird eigentlich erwartet, dass einheitlich vorgegangen wird. "

Ansonsten gilt: Alles, was nicht im Mietvertrag schwarz auf weiß geregelt ist und den Nachbarn nicht zur Weißglut bringt, ist erlaubt. In Balkonien herrscht Freiheit.

Ropertz: "Sie dürfen ohne weiteres züchten auf dem Balkon – insbesondere zum Beispiel Tomaten. Schwierig wird es, wenn sie Cannabis anpflanzen wollen. Da gibt es wiederum eine Reihe von Urteilen, die sagen: Cannabis anpflanzen verboten! Und: Der Vermieter hat sogar das Recht, seinem Mieter fristlos zu kündigen, wenn er Cannabis anpflanzt. Weil – das ist die Begründung der Gerichte – die Wohnungsanlage in einen schlechten Ruf kommt, wenn die Polizei die Cannabispflanzen beschlagnahmt. "

Balkonien ist kein Abenteuerland. "Action" heißt hier in der Regel: Sonnenbanden, Betten ausschütteln und Blattläuse sammeln.

Krakowiak: "Man hat immer was zu tun. Wenn man Langeweile hat, dann kann man wieder anfangen dat Verblühte abzuzupfen – und da es ja hier genug Blumen gibt, da kommt keene Langeweile auf. "

Balkon-Freaks, die sich tatsächlich einmal langweilen, haben immer noch eine Notlösung parat: Kopfkissen auf die Brüstung und ein Griff zur Sehhilfe. Vielleicht ist ja gegenüber was los.

Ropertz: "Also es gibt kein mietrechtliches Urteil, was es verbietet, von seinem Balkon aus, seine Nachbarn zu beobachten. Wer allerdings sich hier als Spanner entpuppt, der muss möglicherweise mit Polizei- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen rechnen, insbesondere wenn er mit Fernstecher und ich-weiß-nicht-was arbeitet. "

Krakowiak: "Ja, nee, also das ist bei mir noch nicht vorgekommen! "

Reporter: "Wenn Sie sich so rüberlehnen, könne sie die Nachbarn, doch kann man was sehen ne? "

Krakowiak: "Na, schlecht. Also mehr so in die Richtung rüber, an der Seite geht’s besser. "

Reporter: "Dann luschern Sie schon ab und zu mal? "

Krakowiak: "Nö! Nein! ….Nee, das macht man nicht…. Nein! Ach! Nee, achwo… Nee nee. "