Fern aller Altersmilde
Gegen die Markt-Gläubigen, gegen Basta-Politiker und gegen die katholische Kirche: Der 82-jährige Heiner Geißler hat eine Polemik verfasst, die viele ärgern wird. Der ehemalige CDU-Generalsekretär fordert nicht weniger als eine "neue Aufklärung" im Sinne Immanuel Kants.
Heiner Geißler geißelt. Die autoritäre Politik, den ökonomischen Absolutismus, den islamischen und den katholischen Fundamentalismus. Blitzgescheit wie eh und je, zornig wie nie zuvor, fern jeder Altersmilde. Der 82-jährige ehemalige CDU-Generalsekretär hat eine Polemik verfasst, die viele ärgern wird: "Die Bürger werden entmündigt von Politikern, die selber entmündigt wurden von der Finanzwirtschaft. Die Einstellung gegenüber Hilfe suchenden Antragstellern hat sich pervertiert durch eine amtlich verordnete Verrohung der Beamten: Menschen, die etwas kosten, werden als Feinde der Gesellschaft betrachtet."
Der Philosoph und Jurist wettert gegen die "menschenverachtenden Denkblockaden der Marktgläubigen" in FDP, CDU und SPD, die "die soziale Frage aus den Grüften des Frühkapitalismus auferstehen" ließen und die durch eine "Basta"- und Klientel-Politik im Interesse der Banken und Konzerne nur Armut, Angst und Wut bei den Bürgern erzeugen.
Heiner Geißler zaust Islam-Vertreter und Journalisten, die vor westlichem Menschenrechts-Export in islamische Länder warnen: "Frauen, die man steinigen oder genitalverstümmeln will, werden sich einen 'Eurozentrismus' gerne gefallen lassen, der sie vor solchen Grausamkeiten bewahrt."
Der Katholik Heiner Geißler geht mit seiner Kirche und mit Papst Benedikt harsch ins Gericht, wirft ihnen eine "perverse Moraltheologie" vor und kann als studierter Jesuit luzide darlegen, aus welchen dogmengeschichtlichen Missverständnissen die "Verdummung und Bevormundung" der Gläubigen durch den "klerikalen Absolutismus" stammt.
Was aber schlägt er vor? Nichts weniger als eine "neue Aufklärung" im Sinne Immanuel Kants. Der empfahl den Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, wobei diese Unmündigkeit ja nicht in mangelndem Verstand, sondern "im Mangel an Entschließung des Mutes" begründet ist.
Und genau dazu ruft "Attac"-Mitglied Geißler auf: zu Mut, Entschlossenheit, bürgerschaftliches Engagement. Weil es nun aber sehr vernünftige Menschen waren, die zwei Weltkriege, den Holocaust und einen moralfreien Kapitalismus erdachten, "kann die kühl kalkulierende, rationalistische Vernunft nicht gemeint sein."
Stattdessen plädiert Geißler – flankiert von Hegel, Marx, Nietzsche, Max Weber und Jürgen Habermas – für eine "aufklärerische Vernunft, die sich ethische Maßstäbe setzt und untrennbar mit ihnen verbindet", für eine "Vernunft des Herzens", für eine "Aufklärung im Geiste des Evangeliums". Die gibt es, meint Geißler, weil "derjenige religiöse Glaube mit der Vernunft vereinbar ist, der die Würde des Menschen achtet."
Dieser schrille Pfiff eines wahrhaft unabhängigen Whistleblowers ist gut, mutig und nötig. Nur der Buchtitel ist reiner Bildungsbürger-Snobismus. "Sapere aude!" – "Wage zu denken" – damit überschätzt der Autor unsere Lateinkenntnisse.
Besprochen von Andreas Malessa
Heiner Geißler: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen
Ullstein Verlag, Berlin 2012
156 Seiten, 16,99 Euro
Der Philosoph und Jurist wettert gegen die "menschenverachtenden Denkblockaden der Marktgläubigen" in FDP, CDU und SPD, die "die soziale Frage aus den Grüften des Frühkapitalismus auferstehen" ließen und die durch eine "Basta"- und Klientel-Politik im Interesse der Banken und Konzerne nur Armut, Angst und Wut bei den Bürgern erzeugen.
Heiner Geißler zaust Islam-Vertreter und Journalisten, die vor westlichem Menschenrechts-Export in islamische Länder warnen: "Frauen, die man steinigen oder genitalverstümmeln will, werden sich einen 'Eurozentrismus' gerne gefallen lassen, der sie vor solchen Grausamkeiten bewahrt."
Der Katholik Heiner Geißler geht mit seiner Kirche und mit Papst Benedikt harsch ins Gericht, wirft ihnen eine "perverse Moraltheologie" vor und kann als studierter Jesuit luzide darlegen, aus welchen dogmengeschichtlichen Missverständnissen die "Verdummung und Bevormundung" der Gläubigen durch den "klerikalen Absolutismus" stammt.
Was aber schlägt er vor? Nichts weniger als eine "neue Aufklärung" im Sinne Immanuel Kants. Der empfahl den Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, wobei diese Unmündigkeit ja nicht in mangelndem Verstand, sondern "im Mangel an Entschließung des Mutes" begründet ist.
Und genau dazu ruft "Attac"-Mitglied Geißler auf: zu Mut, Entschlossenheit, bürgerschaftliches Engagement. Weil es nun aber sehr vernünftige Menschen waren, die zwei Weltkriege, den Holocaust und einen moralfreien Kapitalismus erdachten, "kann die kühl kalkulierende, rationalistische Vernunft nicht gemeint sein."
Stattdessen plädiert Geißler – flankiert von Hegel, Marx, Nietzsche, Max Weber und Jürgen Habermas – für eine "aufklärerische Vernunft, die sich ethische Maßstäbe setzt und untrennbar mit ihnen verbindet", für eine "Vernunft des Herzens", für eine "Aufklärung im Geiste des Evangeliums". Die gibt es, meint Geißler, weil "derjenige religiöse Glaube mit der Vernunft vereinbar ist, der die Würde des Menschen achtet."
Dieser schrille Pfiff eines wahrhaft unabhängigen Whistleblowers ist gut, mutig und nötig. Nur der Buchtitel ist reiner Bildungsbürger-Snobismus. "Sapere aude!" – "Wage zu denken" – damit überschätzt der Autor unsere Lateinkenntnisse.
Besprochen von Andreas Malessa
Heiner Geißler: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen
Ullstein Verlag, Berlin 2012
156 Seiten, 16,99 Euro