Fernando Aramburu: Patria
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018
766 Seiten, 25 Euro
Zwei Familien, die ETA und ein Mord
Der Kampf der ETA für die Unabhängigkeit entzweit Nachbarn, Freunde und Familien und macht sie zu erbitterten Feinden. - Fernando Aramburu erzählt in "Patria", wie eine Gesellschaft an Gewalt und an ihrem separatistischen Wahn auseinanderbricht.
Es ist der neunte Roman von Fernando Aramburu, aber es ist der, den er immer schon schreiben wollte. Ins Deutsche ist bisher nicht viel von ihm übersetzt worden, obwohl der gebürtige Baske seit 1984 in Hannover lebt. "Limonenfeuer" aus dem Jahr 2000 erlebten die Rezensenten eher als Zumutung. Sein Thema, den Terror der ETA, hatte Aramburu da offenbar noch nicht recht im Griff. So ist er hierzulande mit "Patria" jetzt zu entdecken, einem in Spanien mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Meisterwerk über eine Gesellschaft, die an ihrem separatistischen Wahn, an innerer Gewalt und Unversöhnlichkeit auseinanderbricht.
Aramburu hat dafür zwei benachbarte Familien in einem fiktiven Dorf in der Nähe von San Sebastián erfunden, die zunächst befreundet sind, dann aber zu Feinden werden. Im Mittelpunkt stehen die beiden Frauen: Miren, deren Sohn sich der ETA anschließt und die dessen Parolen übernimmt, und Bittori, deren Mann einem Attentat zum Opfer fällt. Doch ganz so einfach – Täter hier und Opfer dort – macht Aramburu es sich nicht. Er zeigt auch die Kampflinien, die quer durch die Familien laufen, zeigt Opportunismus und Feigheit, aber auch die kleinen Gesten der Zuneigung, die in einer Atmosphäre der Angst so viel bedeuten.
Geflecht aus Lügen und Heimlichkeiten
Der erzählerische Bogen ist weit gespannt und reicht von den 60er-Jahren bis ins Jahr 2012. Doch Aramburu bleibt äußerst zurückhaltend mit Datierungen. Er erzählt auch nicht chronologisch, sondern aus wechselnder Figurenperspektive in immer neuen elliptischen Anläufen und Erinnerungsschleifen, die ein ums andere Mal das zentrale Ereignis, den Mord an Txato, umkreisen. Es ist, als würde die Zeit stehenbleiben und die insgesamt neun Hauptfiguren müssten ihre Höllenkreise immer wieder aufs Neue durchlaufen.
Txato wurde deshalb erschossen, weil er sich geweigert hatte, die immer höheren Zahlungen, die die ETA von ihm als einem wohlhabenden Fuhrunternehmer erpressen wollte, zu bezahlen. Zunächst wird er mit Wandschmierereien im Dorf als Spitzel diskreditiert. Die ganze Familie wird ausgegrenzt und verdrängt, bis schließlich alle weggezogen oder tot sind. Als Bittori 20 Jahre nach dem Attentat zurückkehrt, um herauszufinden, wer ihren Mann erschossen hat, ist sie im Dorf immer noch unerwünscht, weil ihre Anwesenheit die alten Wunden aufreißt – als wären es die Opfer, die Schuld daran trügen. Nur zögerlich zerreißt das Gewebe von Lügen und Heimlichkeiten, das sich um den mit der ETA konspirierenden Kneipenwirt und den Pfarrer, der den Attentaten seinen Segen gab, gebildet hat.
Mitreißend und spannend
Was diesen Roman zum Ereignis macht, ist einerseits die Einfühlsamkeit, mit der Aramburu die Position der Mörder ebenso plausibel darstellen kann, wie das Leiden der Hinterbliebenen. Er ist allen Figuren gleichermaßen nah, und doch lässt dieser vielstimmige Roman in der Summe keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er steht. Allzu vage sind die sozialistisch verbrämten Parolen der ETA-Leute, denen es weniger um die Zukunft, als um die Lust an der Aktion zu gehen scheint.
Mehr noch aber überzeugt die Erzählweise Aramburus, in der, wie Mario Vargas Llosa über diesen Roman geschrieben hat, subjektive und objektive Bedingungen ineinander verschränkt werden, so dass sich "die Welt der Tatsachen, der Emotionen und Fantasien" vermischt und daraus ein autarkes autonomes Kunstwerk entsteht. "Patria" ist ein mitreißender, spannender und lebenspraller Gesellschafts- und Familienroman. Man muss ja das ganze Leben erzählen um zu begreifen, was die Gewalt den Menschen antut.