Das allererste dritte Programm
Heute ist es kaum vorstellbar, aber in den 60er-Jahren hatten die Fernsehzuschauer die Wahl zwischen ganz genau zwei Sendern: ARD oder ZDF. Das änderte sich am 22. September 1964, als der Bayerische Rundfunk mit der Ausstrahlung eines eigenen dritten Programms begann. Und dieses Programm hatte eine ganz spezielle Ausrichtung.
Wie das neue Programm, so soll auch sein akustisches Erkennungszeichen sein: kein gefälliges Einlullen, keine überflüssigen Schnörkel. Keine Ablenkung von dem, was man den Zuschauern bieten möchte: Bildung, Bildung und noch mal Bildung.
"Ich eröffne das Studienprogramm mit dem Wunsche, dass es zur großen Arbeitsgemeinschaft derer werde, die uns Interessantes zu sagen und zu zeigen haben, und derer, die sich dadurch angesprochen fühlen."
Am 22. September 1964, pünktlich um 19 Uhr, geht es los mit einer Ansprache von Christian Wallenreiter, dem Intendanten des Bayerischen Rundfunks.
"Das ist die Hauptfrage, mit welchem Tun man die Muße auszufüllen hat. Diese uralte, von Aristoteles gestellte Frage wird immer dringlicher. Darum bietet der Bayerische Rundfunk sein Studienprogramm. Es will durch neue Gedanken, vielleicht durch neue Erkenntnisse reicher machen."
"Müllers sehen abends gern möglichst lang und möglichst fern. Die Familienharmonie blüht durchs Fernsehen wie noch nie."
Ein "Drittes Fernsehprogramm" bot sich an
Ob ARD oder ZDF, die Bundesdeutschen lieben all die schönen Bilder, die das Fernsehen ihnen ins Wohnzimmer zaubert: Werbung, Quizshows, Familienserien.
"Phantastisch!"
Die ernsten Themen überlässt man gerne der Tagesschau oder der weinseligen Journalistenrunde in Werner Höfers "Frühschoppen".
"Man weiß, dass es den Intendanten des Bayerischen Rundfunks allzeit wurmte, für die ARD nur Zuliefererdienste zu leisten, und für das ZDF ohne die geringste Möglichkeit einer Einflussnahme zahlen zu müssen",...
...schreibt die Süddeutsche Zeitung zum Start des Studienprogramms. Nicht nur der Bayerische Rundfunk, alle Landessender teilen dieses Unbehagen.
"Die starken Zentralisierungstendenzen in der ARD dürften Wallenreiters föderalistischen Gedanken ebenfalls zuwiderlaufen. So bot sich ein 'Drittes Fernsehprogramm' von selbst an: Mit ihm möchte der Intendant seine idealen Vorstellungen vom neuen Massenmedium verwirklicht sehen."
Kampf gegen die Bildungsmisere
Alle ARD-Sender möchten sich mit einem eigenen dritten Programm stärker profilieren und gehen damit zum Teil nur wenige Wochen nach dem Bayerischen Rundfunk auf Sendung. Was das bayerische Dritte von den anderen unterscheidet, ist sein Anspruch, sich voll und ganz der Bildung zu widmen. Der Zustand des bundesdeutschen Bildungswesens gilt als katastrophal: benachteiligte Arbeiterkinder, zu wenig Abiturienten, antiquierte Lehrpläne. Warum also nicht auch das Fernsehen für den Kampf gegen die Bildungsmisere nutzen?
"Wir haben dieses Programm 'Studienprogramm' genannt, weil wir meinen, dass wir damit am besten ausdrücken können, was wir machen wollen: nämlich Studien und ein Programm."
Helmut Oeller, der Direktor des Studienprogramms, am Vorabend des Sendestarts.
"Wir werden die Minderheiten ansprechen, die noch zur Schule gehen, die Schüler im Schulfernsehen. Die Erwachsenen, die Interesse haben, sich weiterzubilden, die Minderheiten, die interessiert sind an einem politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und musischen Studienprogramm."
Von Dienstag bis Samstag gibt es täglich dreieinhalb Stunden Bildung auf Knopfdruck: Es gibt Philosophie-Vorlesungen, Sprach- und Rechenkurse oder Erklärfilme zur Lichtgeschwindigkeit, zum Familienrecht oder zur griechischen Antike; im Telekolleg kann man Schulabschlüsse nachholen. Nichts wird dem bildungshungrigen Zuschauer vorenthalten. Nur - gibt es den überhaupt? Und wenn ja, wie viele? Die Münchener Abendzeitung schreibt:
"Dies dritte Programm wird für jene bildungsbeflissene Minderheit gemacht, die in der Bundesrepublik, wenns hoch kommt, vielleicht eine Million Köpfe ausmacht. Und trotz Bayerns geografischer Vorzüge dürften hier auch nicht mehr als 100.000 von dieser fiktiven Million sitzen - und von diesen 100.000 noch weniger vor dem Bildschirm.“
1970 gibt der Bayerische Rundfunk eine Infratest-Studie in Auftrag. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Das Studienprogramm erreicht gerade einmal ein Fünftel der bayerischen Zuschauer. Und von denen nutzen es die meisten nur als Lückenfüller, wenn im ersten oder zweiten Programm mal nichts Passendes kommt.
Das Experiment Bildungsfernsehen gilt damit als gescheitert. Der Name "Studienprogramm" verschwindet, und bald unterscheidet sich das dritte Programm des Bayerischen Rundfunks nicht mehr von denen der anderen Landessender: Regional gefärbte Information und Unterhaltung übernehmen das Zepter.