Sex, Klatsch und viel Propaganda
Das russische Fernsehen ist heute, rund 15 Jahre nachdem Putin zum ersten Mal Präsident Russlands wurde, weitgehend unter staatlicher Kontrolle. Auch beliebte Unterhaltungssendungen helfen bei der Propaganda mit.
Die Frau auf dem Bildschirm hat Tränen in den Augen. Galina ist mit ihren vier Kindern aus der Ukraine geflohen und lebt in einem Flüchtlingszelt. Sie habe ein furchtbares Erlebnis hinter sich, sagt der Moderator des Ersten Russischen Fernsehens. Der Verstand weigere sich zu akzeptieren, dass so etwas im Herzen Europas passieren konnte. Aber das sei Galinas Geschichte.
Die Frau erzählt von der Kreuzigung eines dreijährigen Jungen in ihrer Stadt, nachdem die ukrainische Armee die prorussischen Separatisten zurückgedrängt hatte.
Die Ukrainer nannten das eine Schauhinrichtung, behauptet Galina. Die Journalistin des russischen Fernsehens hinterfragt nichts und lässt Galina immer neue grausame Details erzählen: Der Junge sei an eine Anschlagtafel genagelt und seine Mutter gezwungen worden, zuzusehen, wie er stirbt. Dann sei die Mutter selbst brutal umgebracht worden.
Im Kampf der ukrainischen Verbände gegen die Separatisten sterben tatsächlich Zivilisten, die meisten durch Artilleriebeschuss. Für die Geschichte über die angebliche Schauhinrichtung eines Jungen, die das Erste Russische Fernsehen im Juli 2014 ausstrahlte, wurden dagegen keine weiteren Zeugen oder Belege gefunden. Bis auf einen Facebook-Eintrag, den der Publizist und Vertreter eines russischen Expansionismus Alexander Dugin drei Tage vor der Fernsehausstrahlung veröffentlichte. In Dugins Eintrag ist die komplette Vorlage für die Fernsehsendung bereits enthalten, nur statt der Mutter des Jungen wird dort der Vater ermordet. Die kritische Öffentlichkeit Russlands erkannte diese Geschichte sofort als Fälschung. Doch andere Zuschauer lassen sich vom Fernsehen überzeugen.
"Die führenden russischen Fernsehsender überfluten die Zuschauer mit Propaganda", stellt die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen fest. Ein Mann aus St. Petersburg erzählte dem unabhängigen Medienportal "Colta.ru", warum er in den Krieg gegen die Ukraine zieht.
"Ich habe mich endgültig dafür entschieden, als ich im Fernsehen einen Jungen im Krankenhaus von Slawjansk sah. Damals zeigten sie diese Bilder immer wieder. Natürlich verstehe ist, dass die Korrespondenten ihr Brot nicht umsonst essen. Sie haben sehr gekonnt die Leiden des Kindes gefilmt, aber dieser Blick von ihm – der hat mir den Rest gegeben."
Ehemaliger TV-Journalist hat Angst um sein Leben
Für den Fernsehjournalisten Maxim war das dagegen der Grund, die Branche, in der er fast zwei Jahrzehnte tätig war, zu verlassen. Heute sitzt Maxim, seinen weißen Schal um den Hals geschwungen, in einem feinen Cafe im Zentrum Moskaus. Der Mittfünfziger redet mit der Lässigkeit eines Medienprofis, zugleich möchte er nur mit einem Pseudonym vorgestellt werden. Mit der Fernsehwelt habe er zwar nichts mehr zu tun, doch das, was er erzählt, könnte ihn auch persönlich in Gefahr bringen.
"Natürlich habe ich Angst um mein Leben, aber ich habe auch einfach Angst, wenn ich sehe, wie weit sich dieses Land von dem entfernt hat, wie ich leben möchte. Es ist eine Katastrophe. Seit der Ukraine-Krise und nach der Eroberung der Krim beobachten wir einen Bruch aller ethischen Prinzipien unseres Berufs. Meine ehemaligen Kollegen sind zu Betreibern einer Propagandamaschine geworden, an der seit den ersten Tagen nach Putins Machtantritt gebaut wird. Sie erwarten stets eine klare Anweisung, wen sie heute "kaltmachen" sollen, oder, wie sie auch unter sich sagen, 'wen wir heute lieben sollen'."
Nachdem Boris Jelzin 1999 Wladimir Putin zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, stellte der neue Präsident das Fernsehen des Landes nach und nach unter seine Kontrolle. Als letzter von den großen überregionalen Sendern verlor 2001 das russische NTW seine Unabhängigkeit. Jetzt gehört etwa ein Dutzend "föderaler Fernsehkanäle", wie sie im Volksmund heißen, entweder direkt dem Staat, den Vertrauten des Präsidenten oder einigen mit dem Staat verbundenen Firmen wie "Gazprom-Media". Alle großen Fernsehanstalten versetzen die Zuschauer in eine, wie Maxim sagt, virtuelle Realität.
"In dieser Realität gibt es einen Menschen, auf den immer Verlass ist, der fast keine Schwächen hat. Das ist Putin. Sein Image wurde von Anfang an so aufgebaut. Das Fernsehen zeigte Putin als resoluten Mann, der nicht trinkt und einen gewissen Charme besitzt. Das ist natürlich ein virtueller Putin, denn niemand weiß, wie er wirklich ist. Es gibt kaum Aufnahmen von Putin, die nicht zensiert sind. Als Putin eine Glatze bekam, war es anfangs verboten, sie zu zeigen. Wenn ein ungeschickter Kameramann sie trotzdem filmte und wenn die Aufnahmen versehentlich ausgestrahlt wurden, wurde das wie ein Amtsdelikt geahndet."
"Kriegt liegt in der Luft"
In den letzten Jahren macht das Fernsehen zunehmend Stimmung gegen die westlichen Länder. Gegen das angeblich dekadente Europa, das als "Gayropa" verhöhnt wird, vom englischen Wort "gay", schwul. Aber besonders schwarz malt das Fernsehen den alten, neuen Feind, die USA.
In der virtuellen Realität ist uns die Außenwelt feindlich gesonnen. Die anderen Länder haben angeblich nur so getan, als wären sie Freunde, aber wir waren wachsam, wir durchschauten sie, und nun wissen wir, dort kann es mit Sicherheit keine Freunde geben.
Die Fernseh-Bilder zeigen, wie schwere russische Panzer durch das Brandenburger Tor fahren. Russische Fahnen werden gehisst.
Bis Warschau, sagt der Sprecher des 5. Russischen Fernsehens, braucht der Panzer T-90 weniger als einen Tag. Und die 1800 Kilometer bis Berlin seien für eine moderne Armee auch keine Entfernung. Prag, Helsinki, Vilnius, Tallin, diese Städte seien sogar im Fußmarsch zu erreichen.
So reagierte das russische Fernsehen auf die Absage der europäischen Regierungschefs, zur Militärparade im Mai nach Moskau zu kommen. Na dann kommen wir selbst zu ihnen, so der höhnische Witz.
Ja, Krieg liege in der Luft, sagt dagegen mit vollem Ernst Dmitri Kisseljow, Moderator der Wochenschau im Ersten russischen Fernsehen und Generaldirektor der Medienagentur Russland Heute, zu der unter anderem der Auslandssender RT gehört,
"Worauf soll sich Russland bereitmachen? Auf Alles! In unserer neuen Militärdoktrin, die in den Neujahrstagen erlassen wurde, steht unter Punkt 27 klar und deutlich geschrieben: Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, Nuklearwaffen einzusetzen."
Das Fernsehbild zeigt eine nukleare Interkontinentalrakete, während Kisseljow erklärt, im Falle einer Bedrohung der Existenz des Staates würde Russland auch als erstes Atomwaffen einsetzen. Die Entscheidung träfe dann der Staatspräsident. Und, fügt Kisseljow hinzu, der Präsident kann diese Entscheidung sogar eigenmächtig treffen, wenn er eine existentielle Gefahr sieht.
Bei Kisseljow ist der Krieg gegen den Westen ein ständiges Thema. Einmal drohte er sogar direkt, Russland sei das einzige Land, das imstande sei, "die USA in radioaktive Asche zu verwandeln". Kisseljow wurde von der EU auf die Sanktionsliste gesetzt als einer von denen, die "politisch und militärisch" für die Annexion der Krim verantwortlich sind. Ihm wurde die Einreise nach Europa untersagt.
Warum, fragt der junge Fernsehjournalist Artem Loskutov. Er arbeitet bei dem letzten unabhängigen Fernsehsender Russlands, Doschd. Dort verdient man nicht so viel wie beim Staatsfernsehen. Artem trinkt deshalb in der Mittagspause seinen Kaffee in einer preiswerten Kette. Als einziger nicht staatsnaher Journalist unterschrieb er einen offenen Brief zum Schutz Kisseljows vor den Sanktionen.
"Ich habe mit ihm kein Mitleid, er wusste was er tat. Aber die Hetze gegen ihn finde ich unklug."
Alternative Meldungen werden kaum wahrgenommen
Der Propaganda sollte nicht mit Verboten begegnet werden, ist Artem überzeugt, sondern mit alternativen Meinungen. Doch diese sind in Russland kaum wahrnehmbar. Das Staatsfernsehen wird von über 99 Prozent der 146 Millionen Russen empfangen. Meinungsumfragen zeigen seit Jahren, dass über 77 Prozent der Zuschauer dem Staatsfernsehen vertrauen.
Es ist eine Generation herangewachsen, die keine andere Realität kennt, sagt der frühere Fernsehmacher Maxim.
"Die meisten jungen Redakteure, Journalisten oder Reporter beim Fernsehen stehen gar nicht direkt unter Druck von oben. Ich habe sie oft sagen hören: "Wenn man für ein staatliches Medium arbeitet, soll man die staatliche Meinung vertreten". Sie erfüllen mit Vergnügen den fremden Willen, weil sie ihn für ihren eigenen halten. Sie glauben aufrichtig an die wichtigsten Postulate der Propaganda, an die Außergewöhnlichkeit der russischen Nation und an die Ideologie der Gewalt, die für sie der einzig richtige Weg ist, weil die Westler sowieso alle Weicheier seien."
Hochgestellte Fernsehfunktionäre wie Dmitrij Kisseljow halten sich dagegen gerne in Europa oder den USA auf. Viele besitzen dort Immobilien und oder bezahlen ihren Kindern das Studium an westlichen Hochschulen. Kisseljow und andere Propagandachefs waren am Anfang ihrer Kariere in der Zeit Jelzins alle Demokraten.
"Ich kenne viele von ihnen persönlich, und ich weiß, wie gut informiert sie sind und wie intelligent. Ich kann ihnen mit absoluter Sicherheit eine Diagnose stellen: die des unendlichen Zynismus."
Sogar der Wetterbericht wird politisiert
Das russische Fernsehen setzt auf Gefühle. Es spricht den Zuschauer mal sehr ernst, dann wieder mit Augenzwinkern an. Es ist nie eintönig und immer unterhaltsam. Die russischen Fernsehzuschauer verbringen im Durchschnitt über vier Stunden am Tag vor dem Bildschirm, angelockt durch Unterhaltung vielfältigster Art – Gewalt, Sex und Klatsch.
Und vieles wird mit politischer Tendenz durchsetzt: Eine Comedy-Show, in der westliche Transvestiten verhöhnt werden. Sogar der Wetterbericht wird politisiert.
Im Donbas, wo die Krise der ukrainischen Regierung weiterhin zur Zuspitzung der Lage beiträgt, ist heute Regen möglich. Auf die ruhige Krim kommt dagegen früher als erwartet das wärmere Wetter.
In den Werbepausen beliebter Serien werden regelmäßig Annoncen politischer Programme geschaltet, die während der Prime-Time laufen. Die Propaganda ist so allgegenwärtig und subtil, so Maxim, wie sie nicht einmal in der Sowjetzeit war.
Das Sowjetfernsehen, wie ich es in der Zeit des Generalsekretärs Breschnew erlebte, war nicht gefährlich - es war einfach öde. Es war langweilig, und man lachte über dieses Fernsehen genauso wie man über den alternden Generalsekretär lachte. Es war nie ein so starkes Werkzeug wie es unter Putin wurde.
Ein ehemaliger Kremlbeamter, der Putin persönlich kennt, sagte im vergangenen Jahr dem britischen Guardian:
Wer das Fernsehen kontrolliert, kontrolliert das Land. Wenn die Kommunisten an die Macht kommen, wird das Land innerhalb von drei Monaten kommunistisch. Kommen Faschisten an die Macht, wird es innerhalb von drei Monaten faschistisch.
Drei Monate würden reichen, um die Leute nicht wieder zu erkennen, pflichtete ihm ein Moskauer Beamter bei in einem Gespräch mit dem Fernsehsender Doschd. Diese Überzeugung scheint die russische Regierungselite zu teilen. In der Fernsehwelt sage man dazu plump, "das Gesindel frisst alles", erzählt Maxim.
Der Krieg zwischen Fernseher und Kühlschrank
Es entspricht der Überzeugung der Fernsehchefs, dass sie ihr Programm für einen Abschaum machen, der genau das fressen will. Sie meinen damit den Massenzuschauer und seine Bedürfnisse. Aber wenn wir über die virtuelle Realität reden, die innerhalb der letzten fünfzehn Jahre im Fernsehen erschaffen wurde, ist es sehr wichtig, folgendes zu verstehen: Diese Realität wurde gar nicht allein für den Massenzuschauer geschaffen, sondern sogar in erster Linie für den wichtigsten Fernsehzuschauer des Landes. Die Fernsehmacher wollen ihrem obersten Chef genau das zeigen, was er sehen will. Ein Theater für Putin.
Mit der Ausnahme von Doschd ist das Fernsehmonopol des Kremls ungebrochen, während der kleine Sender zunehmend unter Druck gerät. Kürzlich verlor Doschd sein Studio und musste vorübergehend aus den Privatwohnungen seiner Mitarbeiter senden.
Mit der Ausnahme von Doschd ist das Fernsehmonopol des Kremls ungebrochen, während der kleine Sender zunehmend unter Druck gerät. Kürzlich verlor Doschd sein Studio und musste vorübergehend aus den Privatwohnungen seiner Mitarbeiter senden.
Der Fernsehkanal Doschd ist wie eine Fliege, die gegen den Putinschen Wind fliegt. Eine Fliege kann jeden Moment erschlagen werden. Und das, obwohl die Reichweite dieses Senders ohnehin so gering ist, dass er die Stabilität des Systems in keiner Weise beeinträchtigen kann.
Der Fernsehsender Doschd wirbt mit dem Motto "Der optimistische Kanal", aber der Doschd-Mitarbeiter Artem Loskutov sieht die Lage nicht optimistischer als sein älterer Kollege. Schön wäre es, wenn es uns noch länger gäbe, denn es gibt nichts Vergleichbares in der Fernsehlandschaft. Niemand sonst kann heute Fernsehnachrichten anbieten, in denen auch alternative Standpunkte beleuchtet werden. Keine Ahnung, wie lange das noch möglich sein wird. Sie können morgen schon zu uns kommen unter dem Vorwand einer beliebigen Überprüfung und alles abschalten.
In Russland tobt ein Krieg, scherzt der Volksmund: Der Krieg zwischen dem Fernseher und dem Kühlschrank. Die Wirtschaft kriselt - und die Intensität der Propaganda steigt an. Der Rubel fällt und die Beliebtheit von Putin erreicht einen Höchststand. Immer neue Soldaten, die in der Ukraine gefallen sind, werden heimlich begraben - und das Fernsehen mobilisiert zugleich Hunderte neuer Kämpfer. Nach Monaten griff das Erste Fernsehen seine Geschichte über den gekreuzigten Jungen unlängst nochmal wieder auf.
Weinende Omas, Kinder auf OP-Tischen
Die Moderatorin sagte, man habe damals keine Möglichkeit gehabt, den Bericht über die Kreuzigung zu überprüfen. Das sei aber eine reale Aussage einer realen Frau gewesen, die aus der Hölle geflohen war. Was sie erzählt habe, sei nur eines von unendlich vielen Zeugnissen über Kinder, die von Geschossen zerrissen worden sind, die auf der Flucht erschossen wurden, die durch Artilleriebeschuss getötet wären.
Hier sind diese Bilder, hier sind diese Kinder. Bringen Sie Ihre Kinder weg vom Fernseher. Das sind sehr harte Bilder, aber das ist die Realität.
Auf dem Bildschirm erscheint ein getötetes Kind, dann wieder eines, dann ein weiteres. Weinende Omas, Kinder auf OP-Tischen, Großaufnahmen von Wunden, Blutflecken im Kinderwagen.
Der Freiwillige aus St. Petersburg, den solche Bilder in die Ukraine führten, kam inzwischen zurück. Er erzählte, dass er im Krieg keine Gefangenen machen wollte. Er erschoss sie alle bis auf drei, so stark war sein Hass.