Fernsehen ist für Roger Willemsen "ein Medium der Unterforderung"

Vor der heutigen Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2012 hat der Schriftsteller Roger Willemsen die Unterhaltungssendungen öffentlich-rechtlicher TV-Anstalten kritisiert: Die Quotenerwartung übe "diktatorische Macht" aus.
Dieter Kassel: "Spitzenleistungen belegen die Vielfalt und Qualität des Fernsehjahres". So kündigen die Veranstalter, das sind ARD, ZDF, RTL und SAT.1, die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises an, die heute Abend in Köln stattfindet. Und in der Tat – bei den Nominierungen gibt es Sendungen und auch einzelne Mitwirkende, die den Preis tatsächlich verdient hätten. Ist es also gar nicht wahr, dass im Fernsehen nur noch Mist läuft, wie nicht nur an Stammtischen, sondern auch gelegentlich in der seriösen TV-Kritik behauptet wird?

Darüber reden wir jetzt mit dem Schriftsteller, Produzenten und Kassel Roger Willemsen. Er ist im Moment mit dem Bühnenprogramm zu seinem aktuellen Buch "Momentum" unterwegs und deshalb erreichen wir ihn gerade in Darmstadt. Schönen guten Tag, Herr Willemsen!

Roger Willemsen: Tag, Herr Kassel!

Kassel: Was ist für Sie gutes Fernsehen?

Willemsen: Gutes Fernsehen ist eines, das mich fordert. Das mich nicht unterfordert. Gutes Fernsehen setzt die Gesellschaft in den sehr disparaten Gruppen miteinander in Verbindung, und so erfahre ich über das Fernsehen, wie groß die Welt ist und wo sie von Minderheiten besetzt ist.

Kassel: Gibt es diese Art von Fernsehen in Deutschland?

Willemsen: Es gibt sie, aber man muss sie suchen. Denn im großen Strom ist das Fernsehen ein Medium der Unterforderung. Und jeder, der abends nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommt, sagt sich, ich will es leicht haben. Das hat er dann, wenn er mit Konträrfaszination guckt. Das heißt, er guckt sich "Die Geissens" an und sagt, Gott sei dank bin ich nicht so wie die. Das ist die leichteste, aber auch unsympathischste Form des Entertainments. Es gibt die andere Form. Es gibt den intelligenten Humor, es gibt die komplexer formulierten Nachrichten und es gibt die Vergewisserung über die fernere Außenwelt und ihre Probleme.

Kassel: Wenn man zum Beispiel den Öffentlich-rechtlichen vorwirft, was bei ihnen oft in den Hauptprogrammen, also Erstes und Zweites läuft, dann kriegt man oft so Antworten, na ja, aber guckt euch alles an, es gibt ja Arte, es gibt 3sat, Phönix und die digitalen Spartenkanäle. Da läuft mehr Kultur als je zuvor. Kann man diese Ausrede gelten lassen?

Willemsen: Nein, so dann doch nicht. Ich muss Ihnen sagen, ich bin zum Teil enttäuscht, dass wenn ich auf ZDF-Neo oder ZDF-Kultur gehe, da laufen wieder Kochsendungen und da läuft auch die ZDF-Hitparade von ehemals. Und ich begreife nicht, dass ein quotenbefreites Programm, was wir jetzt endlich haben sollten, nicht in die Archive geht, den wertvollen Dokumentarfilm rausholt oder auch Zeugen des Jahrhunderts, wo die großen Porträts ja eingelagert sind. Es gibt grandiose Programme in den Archiven. Warum muss die ZDF-Hitparade aus dem Jahr '67 rausgeholt werden? Das ist mir unverständlich.

Kassel: Kann man nicht ohnehin diese Ausrede nur bedingt gelten lassen? Es gibt ja so ganz merkwürdige Fernsehphänomene: Wenn ein und derselbe Fernsehfilm zuerst bei Arte läuft und vier Tage später in der ARD, hat er immer in der ARD eine höhere Quote, egal wie die Quote insgesamt ist. Diese und andere Indizien gibt es ja doch dafür, dass die Leute am Ende eben doch die Hauptprogramme gucken. Also kann man nicht sowieso diese Ausrede nicht gelten lassen, wir senden es halt woanders?

Willemsen: Damit haben Sie völlig recht. Es gibt eine Anhänglichkeit an den Sender und nicht an den Sendeplatz offensichtlich, oder an den Sendeplatz, wenn Sie so wollen, aber jedenfalls nicht an den Gesamtsender. Man kann dann sagen, dass das Publikum, wenn es befragt wird, was es gerne sieht, sich in dem eigenen Fernsehkonsum nicht gerne erkennt. Es sagt also, ich sehe Arte und 3sat, und in Wirklichkeit landet es doch bei RTL und den entsprechenden Programmen. Das führt nur dazu, dass der Zuschauer eben letztlich einer ist, der die Unterforderung liebt.

Kassel: Aber haben wir nicht auch ein Problem vielleicht in Deutschland mit etwas, wofür es einen sehr einfachen Begriff gibt, es ist bloß nicht einfach zu erklären, was sich dahinter verbirgt: die sogenannte anspruchsvolle Unterhaltung?

Willemsen: Ja, wir haben sie. Also ich würde gerne Anke Engelke mit "Ladykracher" nennen, Bastian Pastewka macht eine subtile, gut beobachtete Serie, auch Annette Frier ist eine richtig gute Schauspielerin, die mit guten Büchern arbeitet und die irgendwie Episoden gut formulieren kann. Das gibt es. Aber ich weiß auch, dass die immer kurz vor der Grenze der eigenen Abschaffung senden. Und es braucht einigen Mut bei den Produzenten, zu sagen, wir unterwerfen uns der Quotenerwartung nicht, auch wenn wir wissen, dass eine bestimmte Themenstellung, eine bestimmte Komplexität in der Führung von Handlungen oder in der Aufgliederung von Erzählsträngen zu weniger Quote führt. Das ist das ewige Dilemma von Dominik Graf, der alle Grimme-Preise einheimst, ich weiß nicht, wie viele inzwischen, über zehn, glaube ich, und der trotzdem immer kurz vor der Selbstabschaltung sendet.

Kassel: Dominik Graf hat natürlich große Sachen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gemacht. Aber die anderen, die Sie gerade erwähnt haben, Pastewka, Engelke, man könnte, den haben Sie nicht genannt, aber vielleicht sind Sie einverstanden, wenn ich Christoph Maria Herbst zum Beispiel noch nenne …

Willemsen: Oh ja, natürlich.

Kassel: Das ist aber nun erstaunlicherweise ja alles Privatfernsehen, wenn man Herbst mit reinnimmt, haben wir jetzt RTL, Sat.1 und ProSieben. Heißt das, trotz Quotendrucks sind die manchmal sogar noch einen Hauch mutiger als die Öffentlich-rechtlichen?

Willemsen: Ja. Das kann man, glaube ich, ohne Weiteres so sagen. Die ARD und das ZDF haben bestimmte Formen der Unterhaltung im großen Stile verschlafen, weil sie sich auf "Wetten dass …" ausgeruht haben, die Formen der Unterhaltung, die dort gepflegt werden, von Maussendungen bis zu irgendwelchen Jubiläums-Glücksrad oder – das ist nun nicht ZDF, aber was immer – das ist 70er-Jahre-Unterhaltung, in der immer noch Prominente gedemütigt werden, indem sie in Raumfahrtanzügen Erdnussflips balancieren sollen oder so etwas. Das ist ganz düster.

Da muss man wirklich sagen, sind die Stefan Raabs dieser Welt die weit avancierteren, die auch an bestimmten Stellen zeigen, was Unterhaltung, sagen wir mal, in der heutigen Zeit sein könnte. Aber das heißt nicht, dass andererseits Sendungen wie die von Dominik Graf schließlich doch nur bei Arte und dann auch bei ARD und ZDF denkbar sind. Mutlosigkeit zeichnet aber trotzdem das filmische Schaffen bei den Öffentlich-rechtlichen durchaus aus. Also nur der sehr opulent gemachte, am liebsten mit Veronika Ferres oder Neubauer besetzte Historienfilm holt dann da noch die große Quote.

Kassel: Nun sagen viele Leute, die das Fernsehen kritisieren, entweder sie sagen es oder es schwingt so mit: Früher war alles besser. Wenn wir jetzt mal nicht in die ganz alten Zeiten blicken, als es noch kein Privatfernsehen gab, sondern blicken wir in die 90er-Jahre, als Ihre Fernsehkarriere begann, zuerst bei Premiere und später ja dann beim ZDF auch, zu durchaus publikumsrelevanten Sendezeiten. Hatten Sie einfach Glück oder waren die damals wirklich noch mutiger?

Willemsen: Sagen wir mal so: Die morphologische Vielfalt der Formen war erheblich höher. Man hat zum Teil mehr Geld reingesteckt in das Fernsehen, man hat auch eine höhere Meinung vom Volksbildungswesen Fernsehen gehabt. Man konnte eine abendliche Late-Night-Show machen mit anspruchsvoller Jazz-Musik und sehr abwegigen Themen zum Teil. Man hat den Quotendruck zwar gefühlt, aber man hat ihn eben nicht mit diktatorischer Macht über das Fühlen, Artikulieren gesehen. Und insofern kann ich sagen, das Fernsehen war noch nicht auf der Höhe seiner Kommerzialität.

Es ist ja eigentlich ärgerlich, das öffentlich-rechtliches Fernsehen auch da, wo es gar nicht mehr konkurrieren muss, nämlich jenseits der Werbezeiten, diese Konkurrenz ad absurdum führt und inzwischen selbst Sendungen wie die Tagesschau dem Quotendruck unterliegen. Wir haben jetzt über Unterhaltung gesprochen – wir müssten auch über den Informationsteil reden und sagen, was da inzwischen alles verschwunden ist, dann würden wir sagen, es war mal besser. Und nehmen Sie ein einziges Mal das Arte-Journal, also eigentlich die Nachrichtensendung von Arte, 19.10 Uhr beginnt sie, 19.30 Uhr ist sie zu Ende, gegen jede andere Nachrichtensendung im Deutschen Fernsehen und Sie werden sehen, was gute Nachrichten sein können, wie anders man sie formulieren kann und vor allen Dingen, was wir alles durch die anderen Sendungen nicht erfahren.

Kassel: Manche Verantwortliche beim Fernsehen sagen, na ja, die Zeiten des linearen Fernsehens sind vorbei, also das ist ein tolles Wort, eigentlich ganz simpel, man macht den Fernseher an und guckt irgend etwas dann, wenn es auch wirklich gerade läuft. Die jungen Leute gucken das im Internet, kaufen sich DVDs, und es ist ja wahr, es gibt ja Serien, die haben großen Erfolg auf diesem Wege. Heißt das, es wird in Zukunft völlig egal sein, wer wann was sendet? Geht wirklich da eine Epoche zu Ende?

Willemsen: Diese Epoche ist tatsächlich eigentlich schon vorbei. Dieses große Lagerfeuerereignis "Wetten, dass …" gibt es so nicht mehr, wird es auch so nicht mehr geben, und es gibt vor allem nicht mehr die Verbindlichkeit, dass man sich am nächsten Tag über etwas austauschen muss, an dem alle teilgenommen haben. Schon jetzt ist es so, wenn Jenny Elvers zu einem traurigen TV-Event wird, dann gehen alle in die Mediathek und gucken sich den Auftritt da an, wenn sie ihn noch kriegen können. Schon jetzt wird sehr zeitversetzt gesehen, und es gibt eine Vergewisserung nicht mehr über die Zeit, wann man etwas rezipiert hat, sondern ob man es überhaupt kennt. Die avanciertesten Fernsehzuschauer der jüngeren Generation sind in meiner Erfahrung im Augenblick die, die sich britische und amerikanische Serien angucken, weil die die allerentwickeltste Form von ästhetischem Formulieren und auch von Problembewusstsein in vielerlei Hinsicht kultivieren.

Kassel: Aber wäre das nicht erst recht ein Grund für alle deutschen Sender, die privaten wie die öffentlich-rechtlichen, mehr in originellere Eigenproduktionen zu investieren. Denn ein Problem haben die ja alle: Wenn ich oder Sie jetzt eine amerikanische Serie legal, gegen Geld, im Internet oder auf DVD gucken, verdient der amerikanische Produzent daran, aber der deutsche Sender nicht mehr.

Willemsen: Ja, Sie haben völlig recht. Also ich glaube, eine der letzten Sendungen, die noch auf deutschem Boden gewachsen sind, das ist "Zimmer frei", und dann gibt es ein paar Raab-Produktionen. Und das ist fast alles, was nicht adaptiert ist. Man fragt sich dann wirklich, was sind die Programmentwickler denn selbst, was machen die denn selbst wirklich?

Und gerade weil wir vorhin bei der öffentlich-rechtlichen Unterhaltung waren: Also Moderatorinnen in ein Kängurukostüm einzunähen und Mangos aus der Studiodecke fallen zu lassen, die man dann auffangen muss – das ist wirklich nur noch eine Inszenierung von Würdelosigkeit. Damit hat man vor 30 Jahren Fernsehen machen können. Ich glaube nicht, dass es so geht, und ich glaube auch, dass die Jugend in großen Zügen und auch mit guten Argumenten diesem Medium als einem Volksempfängermedium dann fernbleibt.

Kassel: Ich kann mir vorstellen, dass der eine oder andere das jetzt gehört hat, Herr Willemsen, und sich sagt, na ja, das sagt nur einer, der seit den 90ern nicht mehr so richtig Fernsehen macht, der schreibt jetzt erfolgreiche Bücher, legt vor Publikum und im NDR-Radio Platten auf und schert sich nicht mehr ums Fernsehen. Hätten Sie denn Lust, wenn Sie eine Chance hätten, was Vernünftiges zu machen wieder, Mainstream-Fernsehen zu machen?

Willemsen: Ach, ich sage Ihnen die allerehrlichste Antwort, die ich geben kann. Ich habe im Moment ein Angebot von einem Sender, das steht schon seit zwei Jahren. Und die sagen: Carte blanche, du kannst machen was du willst, nur komm, und denk dir was aus. Und mein größtes Hindernis dabei ist, dass ich erstens meinem Leben einen Schaden zufügen würde, indem ich jetzt wieder anfange, wie kann ich Massen hinter meine Minderheitsinteressen bringen, und dann ist der Kampf mit Fernsehredakteuren nichts, was mich freut. Denn meistens verstehen die doch mehr von Quote und weniger von irgend etwas anderem.

Und ich denke manchmal bei den Talkshow-Redakteuren sogar, sie verstehen nicht einmal etwas von Popularität, weil – ich weiß nicht, wer da draußen im Land sitzt und "was wird heute Dolly Buster sagen?" formuliert. Sondern ich glaube, dass die Erwartung da auf ein Minimum gegangen ist, und ich weiß wirklich nicht, ob ich das noch mal machen möchte. Aber ich gehe zumindest mit Überlegungen schwanger.

Kassel: Sagt der Autor, Produzent und Moderator Roger Willemsen. Im Moment macht er aber was anderes, da ist er viel unterwegs mit dem Bühnenprogramm zu seinem aktuellen Buch "Momentum". Damit kann man ihn heute Abend in Hannover erleben und dann übermorgen in Kassel. Herr Willemsen, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche uns irgendwie beiden, ab und an mal Spaß beim Fernsehen.

Willemsen: Sehr, sehr gerne, Herr Kassel, tschüss!

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Informationen zum Deutschen Fernsehpreis 2012
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